Eine präventive Erziehungshaltung – in der Familie wie in pädagogischen Einrichtungen – ist ein wesentlicher Schritt zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch. Die Herausforderungen und Chancen für Mütter und Väter, für Großeltern und für alle, die mit Kindern leben und Zeit verbringen, liegen dabei vor allem im Erziehungsalltag. Denn hier setzt Prävention an.
Prävention beginnt im Alltag
In der Familie bedeutet präventive Erziehung, Töchtern und Söhnen mit Liebe und Respekt zu begegnen, ihre Persönlichkeit ernst zu nehmen und ihre Selbstbestimmung zu fördern. Im Mittelpunkt der präventiven Erziehung steht die Stärkung der Kinder und Jugendlichen. Diese gelingt am besten, wenn Eltern sensibel für ihre Belange sind und deren Bedürfnisse nicht den eigenen unterordnen. Vor allem geht es darum, sie zu ermutigen, sie selbst zu sein, ohne die Grenzen anderer zu überschreiten.
Auch in Einrichtungen mit einem pädagogischen Bildungsauftrag, etwa Kindergärten, Schulen oder Heimen, gibt es konkrete Anforderungen an eine präventive Erziehungshaltung.
Bei Einrichtungen, die keinen pädagogischen Auftrag im engeren Sinne haben, wie beispielsweise Kinderkliniken oder logopädische Praxen geht es weniger um den pädagogischen Umgang als vielmehr um die Gestaltung der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen. Diese orientiert sich an den Kinderrechten und wird gestaltet durch Respekt und Achtsamkeit.
Was sind Präventionsthemen und wie werden sie verankert?
Zu ihrem eigenen Schutz brauchen Kinder und Jugendliche in Familien und pädagogischen Einrichtungen Gespräche, in denen sie beispielsweise über Sexualität, ihre eigenen Rechte und über die Risiken des sexuellen Missbrauchs aufgeklärt werden, und Alltagserfahrungen in denen ihre persönlichen Grenzen geachtet, ihre Meinung wertgeschätzt und ihre Mitgestaltung gewünscht ist. Das sind die Grundpfeiler präventiver Erziehung. Sie kann Risiken verringern, aber keinen absoluten Schutz garantieren. Sie kann aber dazu beitragen, Missbrauch frühzeitig zu beenden, bevor schwere seelische Verletzungen entstehen. Und sie kann helfen, bei seelischen Verletzungen besser zu helfen.
Selbst über den eigenen Körper bestimmen
Kinder und Jugendliche sollen ihren Körper als wertvoll, schön und liebenswert begreifen, ihn entdecken und erfahren dürfen. Abwertende Bemerkungen über den Körper anderer sollten weder in der Familie noch in einer pädagogischen Einrichtung zum Umgangston gehören. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung verlangt von Eltern wie von Fachkräften, dass sie Kinder und Jugendliche zu Fortschritten in der Selbstständigkeit ermutigen und selbst respektvoll und gewaltfrei mit ihnen umgehen.
Mädchen und Jungen sollen wissen und erleben, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen können und andere sie nicht einfach ungefragt anfassen dürfen – auch dann nicht, wenn es „nur nett gemeint“ ist.
Zu körperlicher Selbstbestimmung gehört auch die Erfahrung, dass man selbst entscheiden darf, wer einen in welcher Situation fotografiert.
Sexuelle Bildung unterstützen
Kinder brauchen Erwachsene, die mit ihnen über Sexualität sprechen und ihr Interesse an sexuellen Fragen aufgreifen. Denn kindliche Unwissenheit über Sexualität kann leicht von Tätern und Täterinnen ausgenutzt werden. Zudem fällt es Mädchen und Jungen leichter, über sexuelle Übergriffe zu sprechen, wenn sie die Begriffe für Geschlechtsteile und sexuelle Vorgänge kennen. Die Verantwortung für Sexualerziehung tragen Familie und Bildungseinrichtungen gemeinsam.
Wenn es Eltern schwerfällt, unbefangen über sexuelle Themen zu sprechen, kann Schule helfen und Wissensdefizite ausgleichen. Sexualerziehung wird nicht dadurch überflüssig, dass Sexualität in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist. Im Gegenteil: Kinder und Jugendliche brauchen Orientierung im Dschungel der sexuellen und sexualisierten Botschaften und Reize. Insbesondere sollten sie früh den Unterschied zwischen Sexualität und sexueller Gewalt verstehen. Aber auch für Jugendliche, die vor allem mit Gleichaltrigen im direkten Gespräch, im Chat oder durch Jugendmagazine ihre sexuellen Fragen klären, ist es wichtig zu wissen, dass sie auf erwachsene Ansprechpersonen zurückgreifen können – aber nicht müssen. Auch wenn sie davon womöglich kaum Gebrauch machen, gibt dieses Wissen Sicherheit.
Über Gefühle sprechen und Selbstvertrauen fördern
Täter und Täterinnen manipulieren die Gefühle der Betroffenen und die Wahrnehmung der Bezugspersonen. Prävention bedeutet deshalb, die Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern und sie darin zu unterstützen, ihre Gefühle auch auszudrücken. Sie sollen die Erfahrung machen, dass innerhalb der Familie oder Gruppe unterschiedliche Wahrnehmungen und Gefühle zu den gleichen Situationen existieren dürfen.
Ebenso wichtig ist es, Kinder und Jugendliche darin zu bestärken, sich nicht zu Dingen überreden zu lassen, die sie nicht wollen. Mädchen und Jungen brauchen Ermutigung, wenn es darum geht, auch solche Gefühle zu zeigen, die angeblich nicht zu ihrem Geschlecht passen. Mädchen, die wild und selbstbewusst, Jungen, die auch mal ängstlich und hilflos sein dürfen, sind besser vor Missbrauch geschützt. Dabei gilt: Erziehende, die über ihre eigenen Gefühle sprechen und sie auch authentisch ausdrücken, sind ein wichtiges Vorbild. Auch beim Thema Gefühle stellen die digitalen Medien Eltern und andere Erziehende vor besondere Herausforderungen: Sie müssen Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass es in der Online-Kommunikation leichter ist, getäuscht zu werden. Hinter vermeintlich gleichaltrigen Freunden im Netz kann sich auch ein Täter verbergen – und auch Gestik und Mimik fehlen, so dass es nur wenige Anhaltspunkte für eine Einschätzung des Gegenübers gibt.
Widersprechen dürfen: Erwachsene sind nicht immer im Recht
Damit Kinder und Jugendliche ihr Unbehagen und ihre Abwehr bei sexuellen Übergriffen oder sexuellem Missbrauch ausdrücken können, sollten sie in ihrer Familie wie von betreuenden Fachkräften lernen, dass Erwachsene nicht immer im Recht sind. Die Erfahrung, dass ihr Widerspruch, ihr Nein, nicht einfach übergangen wird und ihre Mitsprache Bedeutung hat, ist sehr wichtig. Wer ernst genommen wird, kann auch anderen Menschen gegenüber besser seine eigene Meinung vertreten oder Missfallen und Ablehnung ausdrücken. Manche Kinder oder Jugendliche benötigen Ermutigung, wenn es darum geht, Nein zu sagen. Doch sollten sie nicht mit Erwartungen überfordert werden, denn Nein zu sagen ist ein Recht und keine Pflicht. Bei anderen Kindern und Jugendlichen ist es wichtiger, sie dazu anzuhalten, ein Nein zu akzeptieren und die Grenzen anderer zu wahren.
Geheimniskultur vermeiden: Offen miteinander sprechen
Eltern sollten möglichst wenige Geheimnisse im Familienleben zulassen, damit sich keine „Geheimniskultur“ entwickelt. Wer daran gewöhnt ist, dass alles Unangenehme durch Stillschweigen aus der Welt geschafft wird, ist nicht ausreichend vorbereitet, wenn ein Täter oder eine TäterinGeheimhaltung erzwingenwill. Eltern und Fachkräfte sollten Kindern schon früh vermitteln, dass man über „schlechte“ Geheimnisse, also Geheimnisse, die sich schlecht anfühlen, reden darf! Das ist kein Petzen und kein Verrat! Diese Botschaft ist auch für ältere Kinder und Jugendliche wesentlich. Gerade in etablierten Bildungs- und Betreuungseinrichtungen gibt es ein besonderes Risiko, dass Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erleiden, schweigen, weil sie es nicht wagen, den Ruf der Einrichtung zu beschädigen oder die „Gruppenehre“ zu verletzen.
Ein vertrauensvolles Miteinander pflegen
Damit sich Kinder oder Jugendliche bei Missbrauch jemandem anvertrauen können, brauchen sie die grundlegende Erfahrung, dass sich ihre Eltern, andere private Bezugspersonen, aber auch Fachkräfte für sie und ihre Sorgen und Nöte interessieren. Eltern sollten vermitteln, dass die Familie kein abgeschlossenes System ist, sondern auch andere Menschen geeignete Vertrauenspersonen sein können. Es ist von höchster Bedeutung, dass Mädchen und Jungen erleben, dass ihre persönlichen Belastungen nicht übergangen werden, sondern Raum bekommen. Das Wissen, dass sich Bezugspersonen mit dem Thema sexueller Missbrauch auskennen und Wege der Hilfe kennen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich jemandem anvertrauen.
Die Schuld liegt nie bei den Betroffenen
Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, haben niemals Schuld. Dies sollte Kindern und Jugendlichen deutlich erklärt werden. Bei sexuellem Missbrauch fühlen sich die meisten Kinder oder Jugendlichen schuldig, was von Tätern und Täterinnen massiv gefördert und ausgenutzt wird. Denn sie bauen auf die Loyalität von betroffenen Kindern und Jugendlichen – auf ihr Gefühl, selbst (mit-)verantwortlich für das Geschehen zu sein. Dies gelingt besonders leicht, wo Kinder oder Jugendliche Risiken eingegangen sind und sich beispielsweise durch eine offensive Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken selbst gefährdet haben. Prävention sollte sich nicht darauf beschränken, vor diesem Verhalten zu warnen. Sie muss auch klarstellen, dass selbst riskantes Verhalten keinerlei Schuld begründet.
Mit Kindern und Jugendlichen über Missbrauch sprechen
Die Aufklärung über sexuellen Missbrauch bietet Kindern ab dem Schulalter einen wichtigen Schutz. Informierte Kinder und Jugendliche können Situationen besser einschätzen, sind weniger arglos und können eher darüber reden. Bei jüngeren Kindern sind konkrete Informationen über Missbrauch in der Regel nicht angebracht, weil das Thema Angst auslösen kann. Nur in Ausnahmefällen, wenn Kinder direkt danach fragen oder verwirrende Informationen aufgeschnappt haben, ist es sinnvoll, in wenigen unaufgeregten Sätzen darüber zu sprechen, dass es manchmal Menschen gibt, die Kinder im Genitalbereich anfassen oder intensiv küssen wollen. Die Betonung sollte auf dem Unrecht dieses Tuns liegen.
Viele Eltern und pädagogische Fachkräfte fürchten sich vor Gesprächen, in denen es um Missbrauch geht, etwa weil sie denken, dass ihnen die richtigen Worte fehlen. Man muss aber nicht alles richtig machen. Das Wichtigste in solchen Gesprächen ist, dass Kinder und Jugendliche erleben: Meine Mutter, mein Vater, meine Lehrerin oder mein Betreuer weiß, dass es so etwas gibt. Denn das bedeutet auch: Zu diesen Vertrauenspersonen kann ich kommen, wenn mir so etwas passiert.
Wichtige Informationen, die im Gespräch geklärt werden können, sind:
- Sexuelle Gewalt kann Jungen sowie Mädchen widerfahren.
- Täter sind hauptsächlich männlich und erwachsen, aber auch Frauen oder Jugendliche können Täter und Täterinnen werden.
- Die meisten Erwachsenen und Jugendlichen missbrauchen nicht.
- Tätern und Täterinnen sieht man ihre Absichten nicht an.
- Täter und Täterinnen sind oft bekannte und vertraute Menschen und nur selten Fremde.
- Sexueller Missbrauch hat nichts mit Liebe zu tun.
- Missbrauch beginnt oft mit komischen Gefühlen.
- Auch in Chatrooms und in den sozialen Netzwerken kommt es zu sexueller Gewalt.
- Zu sexuellen Übergriffen kann es auch unter Kindern und Jugendlichen kommen.
Bei Mädchen und Jungen soll durch das Sprechen über sexuellen Missbrauch keine Angst erzeugt und der Eindruck vermieden werden, dass Missbrauch die Zukunft zerstört. Vielmehr sollte erklärt werden, dass Missbrauch Menschen stark beeinträchtigen, aber durch Trost, Unterstützung und gegebenenfalls Therapie verarbeitet werden kann.
Präventionsangebote machen
Pädagogische Einrichtungen wie Schulen und Kitas haben einen besonderen Kinderschutzauftrag. Durch konkrete Präventionsangebote können sie zum Schutz der ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen beitragen. Dabei kommen Angebote von externen Organisationen oder Fachstellen infrage, aber auch eigene Projekte, die mit Unterstützung von geeigneten Materialien vorbereitet und durchgeführt werden.
Wenn man sich für ein externes Angebot entscheidet, sollte man zuvor einschätzen, ob es qualifiziert, professionell und mit realistischen Zielen durchgeführt wird. Dabei helfen Qualitätskriterien wie sie beispielsweise von der Aktion Jugendschutz Nordrhein-Westfalen herausgegeben werden.