Podcast | Folge: 74 | Dauer: 46:10

Wenn der „väterliche Freund” sich als Täter entpuppt – was ist dir passiert,Daniel Arkadij Gerzenberg?

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[00:00:02.200] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Was ich nie wirklich zusammenbringen konnte ist, warum hat er all diese "guten Sachen" in Anführungsstrichen gemacht und mir auf der anderen Seite das angetan? Und als ich gelesen habe, dass aber eigentlich Teil der Päderastie oder der Knabenliebe eigentlich der pädagogische Eros ist, das bedeutet ein Genuss darin eigentlich empfunden wird, diese Mentorenposition einzunehmen und einen Jugendlichen großzuziehen, in die Philosophie einzuführen, ihn in die Lebensweisheit einzuführen, zu einem quasi Bürger zu machen und einen gebildeten Jungen. Dann habe ich verstanden, dass das ja alles zusammengehört. Das war gar nicht voneinander getrennt.

[00:00:43.300] - Nadia Kailouli

Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei. Dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.

[00:01:06.470] - Nadia Kailouli

Heute ist Daniel Arkadij Gerzenberg bei uns zu Gast. Einige von euch werden ihn sicherlich kennen, denn er ist ein weltberühmter Pianist. Er gibt weltweit Konzerte, unter anderem zum Beispiel in Lugano, in Taipeh. Auch hier in Berlin, an der Deutschen Oper war er schon, oder im Pierre Boulez Saal. Daniel hat schon einen Haufen Preise eingesammelt und zusätzlich unterrichtet er auch Lyrik an der Hanns Eisler Hochschule. Ende letzten Jahres hat uns Daniel dann eine Email geschrieben und gesagt Hey, ich würde super gerne mal zu euch in die Sendung kommen und darüber sprechen, was mir passiert ist. Denn Daniel wurde in seiner Kindheit missbraucht. Seine ganze Geschichte jetzt hierbei einbiszwei.

[00:01:44.240] - Nadia Kailouli

Triggerwarnung. In dieser Folge gibt es explizite Schilderungen sexueller Gewalt. Wenn es dir damit nicht gut geht, dann hör diese Folge besser nicht.

[00:01:53.620] - Nadia Kailouli

Dann sage ich herzlich willkommen, Daniel Gerzenberg.

[00:01:55.900] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Hallo.

[00:01:56.470] - Nadia Kailouli

Schön, dass du da bist. Daniel, Wir haben heute mit dir ja wirklich eine Berühmtheit hier sitzen. Würde ich wirklich so sagen. Ich weiß nicht, wie man immer selber auf sich blickt, aber du bist ein weltbekannter Pianist. Und wenn man uns jetzt zuhört, würde man sich jetzt denken. So, Moment mal, ist doch kein Kulturpodcast, so, ja. Warum du unter anderem heute hier bist, besprechen wir gleich. Aber erst mal die Frage: Siehst du dich als weltberühmten Pianisten und wie ist man dahin gekommen?

[00:02:21.130] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Also als weltberühmt sehe ich mich nicht. Es stimmt, dass ich in vielen verschiedenen Ländern der Welt schon Konzerte gespielt habe. Aber in der klassischen Welt sind wir auch sehr, sehr kritisch irgendwie auf sich selber. Und deswegen sehe ich mich nicht unbedingt als weltberühmt. Aber ich spiele schon, seitdem ich fünf Jahre alt bin, Klavier und trete seit meinem 17. Lebensjahr professionell auf Konzertbühnen auf.

[00:02:42.280] - Nadia Kailouli

Magst du uns erzählen, wie du dahin gekommen bist? Also wenn man mit fünf Jahren anfängt, da haben die Eltern ja sicherlich eine Rolle.

[00:02:48.250] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, ich bin in eine Musikerfamilie geboren. Meine Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion und sind 1990 nach Deutschland gekommen. Und meine beiden Eltern sind professionelle Musiker und Musikerinnen. Und ich habe das quasi von klein auf mit in die Wiege gelegt bekommen und habe das seit meinem fünften Lebensjahr schon professionell Klavierunterricht dann schon gehabt.

[00:03:10.750] - Nadia Kailouli

Und dann war das sozusagen der Wunsch deiner Eltern, zu sagen: "Also unser Sohn soll natürlich auch auf jeden Fall klassische Musik spielen, aber das auf dem Level, dass es professionell ist." Oder hast du selber gemerkt, mit sechs, sieben: "Hey, Moment, ich möchte weitermachen."

[00:03:25.510] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Nein, das war schon von vornherein immer professionell angelegt. Also vielleicht kann ich dazu sagen, dass meine, also insbesondere meine Mutter in einem speziellen Ausbildungssystem noch in Moskau gewesen ist. In einer das heißt Gnessin-Institut ist eine Elitemusikschule von dort, wo sie auch seit ihrem sechsten Lebensjahr quasi war. Und ich glaube, das war immer der Anspruch, so Musik zu machen und mit einer Idee dessen, Konzerte zu spielen und aufzutreten. Ich bin halt dann auch schon, glaube ich, mit fünf oder sechs in den ersten Wettbewerben aufgetreten und auch zum Beispiel in Hamburg, in der Laeiszhalle dann, damals hieß es noch Musikhalle, gespielt.

[00:04:04.420] - Nadia Kailouli

Schöner Ort by the way. Ja, aber wenn du jetzt heute als erwachsener Mann darauf guckst, dass das ja heute dein Beruf ist ja, du bist professioneller Musiker und du aber weißt heute auch mit dem Wissen, wie die Erziehung damals gelaufen ist: "Das war auch das Ziel meiner Eltern." Bist du denen Dankbar oder mit welchem Gefühl blickst du da drauf?

[00:04:25.000] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ich würde sagen, mit einem ambivalenten Gefühl. Also ich habe einerseits ganz tolle Erfahrungen gemacht, als Musiker einfach aufzutreten, zu reisen, die ganze Musik, die ich gespielt habe und kennengelernt habe und überhaupt ein musikalisches Denken und Empfinden zu lernen. Auf der anderen Seite gehen mit der klassischen Musikwelt ganz viele auch negative Dinge einher, die vielleicht nach außen hin nicht so sichtbar sind. Also beispielsweise muss man halt sehr diszipliniert üben. Das kennt man so vielleicht als Klischee, aber diszipliniert üben, besonders als Kind, bedeutet halt irgendwie auch, andere Dinge in der Kindheit zurückzustellen, um überhaupt spielen zu können. Und das bedeutet auch, irgendwo über Grenzen zu gehen, um dieses Üben zu ermöglichen. Nämlich als Kind will man vielleicht nicht immer jeden Tag spielen. Jedenfalls war das nicht bei mir so, es gibt andere Kinder, die das sehr, sehr gerne auch machen. Bei mir war das nicht so sehr, deswegen gab es da in dem Sinne auch eine bestimmte Pflicht zu erfüllen.

[00:05:28.570] - Nadia Kailouli

Verstehe. Ich versuche später im Laufe unseres Gesprächs da irgendwie so eine Kausalität her zu bringen, inwieweit deine Erziehung und die Musik mit einher spielen zu deiner Geschichte, die wir besprechen wollen, und zwar deiner Missbrauchsgeschichte. Du hast uns eine Mail geschrieben, eine sehr besondere Email, wie ich finde, in der du gesagt hast: "Hey, ich bin ein Betroffener, ich höre euren Podcast und ich würde gerne über meine Geschichte mit euch sprechen." Erstmal vielen Dank dafür. Und schön, dass du heute hier bist. Ich will dir aber den Raum geben, deine Geschichte erst mal selber zu erzählen. Was ist dir als Kind passiert?

[00:06:07.840] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Also ich bin eben in dieser Musikerfamilie geboren. Wir sind, ich möchte dazu auch sagen, dass wir so postsowjetisch, auch Kontingentflüchtlinge, also jüdisch, russisch, jüdisch und mit diesen Dingen gibt es quasi irgendwie schon bestimmte Identitätsfragen, die sehr unklar für mich waren. Schon als Kind. Und mit diesen Unsicherheiten bin ich auch groß geworden. Und dazu kam der Druck, irgendwie Klavier üben zu müssen und diese Musikwelt zu bespielen. Und da hinein ist, als ich zwölf, 13 Jahre alt war, als ich angefangen habe, gegen die Erziehungsmaßnahmen meiner Eltern zu rebellieren, ein Kinderarzt aufgetreten, der quasi mein Kinderarzt zu dem Zeitpunkt schon war und der angeboten hat, als meine Eltern eigentlich danach gefragt hatten, dass ich zum Jugendpsychologen gehen sollte, der hat dann stattdessen gesagt: "Ja, kommt doch zu mir in meine Sprechstunde, wir klären das." Und eine Woche später saß er schon bei mir in meinem Kinderzimmer und hat mir quasi gesagt: "So was ich dir erzähle, bleibt unter uns. Du kannst mir alles erzählen." Weil wir eben viel auch zu Hause gestritten haben. Ich habe viel mich sozusagen aufgelehnt.

[00:07:22.790] - Nadia Kailouli

Klassisch Pubertät halt, zwölf, 13, das war jetzt mit dir wahrscheinlich nichts kaputt. Du warst halt einfach ganz normal auf dem Weg zum Erwachsenen, zum jungen Mann. Und dann hat man halt so seine.

[00:07:34.970] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Genau. Ich hatte meine Pubertät. Ich habe auch über die Stränge geschlagen. Ich wurde dann auch mal von der Polizei nach Hause gefahren, weil ich was gestohlen hatte.

[00:07:42.980] - Nadia Kailouli

Gehört bei vielen auch dazu.

[00:07:43.520] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Gehört auch dazu. Ich hatte auch eine Alkoholvergiftung, so mit, auch mit 13, das spielte alles dazu. Das waren alles so, ich würde sagen, ich bin einfach über die Stränge geschlagen. Ich habe meine eigenen Grenzen nicht gekannt und die habe ich quasi dann so auf der Straße mit meinen Freunden ausgetestet. Und das war vielleicht auch ein Suchen nach Aufmerksamkeit und das, was ich bin und ich muss mich nicht definieren über Klavier. So, und da hinein ist eben dieser Kinderarzt gekommen, der mir angefangen hat zu sagen: "Ja, du kannst mir erzählen, was du willst. Wir haben.." Also er hat das nicht so offen gesagt: "Wir haben ein Vertrauensverhältnis", aber er hat ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und nach und nach eben die, die Beziehung so verlagert, dass es immer weniger eigentlich ein Arzt-Patienten-Verhältnis war, sondern eigentlich eine Freundschaft. Der hat aber, wir hatten einen Altersunterschied von über 30 Jahren, ich weiß es jetzt nicht genau. Und ja und hat dann nach und nach mich dann eingeladen, häufiger nach Hamburg zu kommen. Wir haben außerhalb von Hamburg gelebt und dann ins Konzert zu gehen, mal in eine Bar, dann waren wir häufiger bei ihm zu Hause, haben uns Musik angehört und dann haben wir Gedichte vorgelesen.

[00:08:52.100] - Nadia Kailouli

Also eine richtige Beziehung aufgebaut. Also ist in die Familie so reingekommen?

[00:08:56.330] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Total. Also hat sich etabliert als eine Art Mentor.

[00:09:00.500] - Nadia Kailouli

Als Arzt.

[00:09:00.950] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Als Arzt. Genau. Er war quasi dann, er hat mich dann auch zum Beispiel beispielsweise, wenn ich inder Schule ein Referat oder so hatte, hat er mir dann irgendwie mal irgendwie geholfen, mal ein Buch gegeben und ich habe mein Schulpraktikum in seiner Kinderarztpraxis gemacht, als ich 15 Jahre alt war. Und all diese Dinge haben dazu geführt, dass wir quasi diese Beziehung viel, viel enger geworden ist. Und er war auch in der Familie sehr präsent. Also er hat dann auch eine nahe Beziehung zu meiner Mutter aufgebaut, auch zu meiner Großmutter, die zu dem Zeitpunkt dann krank war, auch an Krebs. Und nach außen hin schien es uns, dass er uns viel geholfen hat. So hat es sich auch angefühlt und dagegen ist ja prinzipiell erstmal nichts verwerfliches, aber dann, als ich 17 Jahre alt war, ist es halt dazu gekommen, dass ich bei ihm über Nacht geblieben bin und er mich dann ja, also wir uns gegenseitig masturbiert haben. So zweimal ist das passiert, also im Abstand von einer Woche. Und das war dann, als ich ihn dann später damit konfrontiert habe. Erst sechs Jahre später konnte ich darüber überhaupt reden. Hat er gesagt: "Ja, das wolltest du doch quasi selber. Und du sollst jetzt nicht eine Mücke zum Elefanten machen." und so weiter. Das ist in groben Zügen...

[00:10:20.340] - Nadia Kailouli

Ja einmal runtergebrochen. Es ist, man erkennt halt an dieser Geschichte so gut, dass das ein Prozess von Jahren war, wo sich jemand an einem Kind angenähert hat und so ja das Vertrauen in alle Richtungen von den Eltern und auch von dir so missbraucht hat, zu sagen: "Ich will hier nur was Gutes." Dabei steckt dahinter ja Absichten, und zwar Absichten des Missbrauchs. Hast du vorher gespürt: "Eigentlich ist das nicht cool, was hier passiert"?

[00:10:49.530] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, in dem allerersten Treffen, wo er in meinem Zimmer saß, habe ich. Ich hatte prinzipiell gegenüber älteren Menschen und Autoritäten ein skeptisches Verhältnis, weil ich einfach rebellisch war. Und ich fand das komisch, warum wir jetzt dieses Gespräch führen. Und ich wollte mich ihm eigentlich auch nicht anvertrauen. Aber irgendwie hat er das geschafft, mein Vertrauen zu bekommen. Ich weiß noch, in diesem Gespräch, da gab es irgendwie so einen Knickpunkt. Ich kann nicht mehr benennen, was es genau war. Wahrscheinlich das mit dem: "Du kannst mir alles erzählen", aber irgendwie hat er mein Vertrauen dort bekommen. Und dann war ich plötzlich, na okay, es ist doch gar nicht so schlecht. Und da hat würde ich sagen, hat die Manipulation nach und nach begonnen, oder das, was man ja auch Grooming nennt. Ich habe dann später, als ich schon mich mehr mit dem, was mir passiert ist, befasst habe, habe ich dann gelesen, was Grooming ist und es gibt dann so "The Six Stages of Grooming" und ich habe quasi jeden einzelnen Punkt, dass ich so: "Ah, ja, das ist mir passiert. Ja, genau das auch. Ach so, das ist eine Strategie. Ach so, das macht... Also wie kann das sein?" So ja.

[00:11:49.890] - Nadia Kailouli

Jetzt muss man ja sagen, dir ist das eben passiert, in einer Phase in deinem Leben, wo du weder Kleinkind warst noch Erwachsener, sondern genau dazwischen warst, ne zwischen Pubertät und kurz vor Volljährigkeit. Konntest du in der Zeit mit irgendjemandem darüber reden, wie dein Verhältnis zu deinem Kinderarzt war? Oder ist irgendjemandem aufgefallen in deinem Umfeld: "Ey, das ist ein Teenie, ja, was hängt der denn so viel mit seinem Kinderarzt ab?"

[00:12:16.080] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Nein, das hat niemand so wirklich bemerkt. Also es gab einerseits meinen besten Freund damals in der Schule, der war mit seiner Mutter mal bei dem Kinderarzt und die haben sich ganz komisch gefühlt in der Stunde und sind dann da nicht mehr hingegangen. Und mir hatte der Freund auch dann erzählt, dass das passiert war und ich konnte das gar nicht. Ich fand das seltsam, weil ich dachte: "Hä, der ist doch total nett." Also warum, warum wären die da jetzt weggegangen? Meinen Eltern ist das nicht so wirklich irgendwie aufgefallen. Ich glaube, meinem Vater eher, der fand das auch etwas seltsam. Er hat das dann aber auf sich bezogen und dachte, er wäre irgendwie eifersüchtig gewesen und dachte, das ist jetzt komisch, dass da dieser andere Mann da ist, der sich irgendwie quasi so um mich mehr kümmert, aber sonst nicht wirklich. Das war auch nicht so per se immer sichtbar.

[00:13:07.380] - Nadia Kailouli

Vielleicht, weil deine Eltern auch froh waren: "Ah endlich. Die Alkoholvergiftung ist nicht mehr da. Er ist irgendwie wieder ein bisschen auf der Spur", sag ich mal so. Also war das auch so ein Ding: "Warum sollen wir jetzt den Kinderarzt hinterfragen, wenn er ja eigentlich vermeintlich was Gutes tut mit unserem Sohn?"

[00:13:22.080] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Zu hundert Prozent. Und das war sozusagen und da war auch quasi diese Perspektive, würde ich jetzt mal sagen, diese postmigrantische Perspektive meiner Eltern so: "Ah ja, da ist jetzt ein Arzt, der, der ist auch irgendwie so bürgerlich und der hilft uns jetzt, das ist ja toll, der ist auch sozusagen kulturinteressiert, der nimmt sich jetzt unseres Sohnes an und da wird es wieder auf die richtigen Bahnen geleitet."

[00:13:43.980] - Nadia Kailouli

Ich finde das, was du gerade sagst, das ist ein spannender Aspekt, dieses postmigrantisch, dass man eben, würdest du sagen, dass da so eine Dankbarkeit dahinter steckt: "Wir sind jetzt hier eingewandert. Ja, so ein etablierter Arzt kümmert sich um uns, da hinterfragen wir nicht. Da sind wir erst mal dankbar." In die Richtung?

[00:13:58.530] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Auf jeden Fall. Das war genau das. Das war sozusagen, quasi: "Ah, wie toll, dass sich jemand unserer annimmt."

[00:14:04.920] - Nadia Kailouli

Weil man sich sonst beweisen muss und eher so, ich will nicht sagen, Außenseiter ist, aber man ist halt zugewandert und kommt halt irgendwie von woanders her und muss so seine neue Identität in Deutschland finden, oder?

[00:14:14.850] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, ich glaube, für meine Eltern war das gar nicht so vordergründig das, weil meine Mutter war sehr viel unterwegs, weil sie selber Konzertpianistin ist und wir haben da quasi ein bisschen satellitenhaft gelebt, wo wir waren. Der Ort war prinzipiell eher einfach ein "Nicht so weit vom Flughafen entfernt", so quasi das war und ein Haus, damit wir da üben können, so damit man keine Nachbarn stört, weil ja, das heißt, es war irgendwie, wir waren eh nicht so sozial integriert auf eine Art und Weise. Ich habe das eher durch die Schule dann erfahren. Da hatte ich dann viele Freunde und Freundinnen, die mir eine andere Realität gespiegelt haben. Aber ich glaube, dass es trotzdem in dieser Position des Arztes und des Gutbürgerlichen auf eine Art und Weise auch ja eine Besonderheit verliehen hat, dass der jetzt quasi da war.

[00:15:07.180] - Nadia Kailouli

Jetzt hattest du eben, ich sage jetzt mal, Tag X beschrieben, als da tatsächlich diese Grenze komplett überschritten worden ist. Wann hast du für dich dann entschieden: "Ich will das nicht, ich will nicht mehr noch mal zu ihm Und irgendwie war das nicht korrekt, was da passiert ist"?

[00:15:22.960] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Das war gar nicht so eindeutig und einfach. Also ich kann, ich kann sagen, dass in dem Moment, wo das passiert war und ich mich quasi, ich bin danach in die Dusche gegangen, habe mich abgewaschen und habe versucht, das von mir so abzukratzen quasi. Und dann bin ich zurückgegangen, hab mich quasi in das Bett wieder gelegt, dass ich da wie so am ganzen Körper gezittert habe und mich so ganz weit an den Rand des Bettes gedrängt habe und versucht habe, irgendwie so weit weg zu sein, wie es nur geht. Und ich kann mir nicht wirklich erklären, warum ich eine Woche später wieder da war. Das einzige, was mir da einfällt, ist Wiederholungszwang. Aber damit ist die Beziehung nicht abgebrochen. Ich habe ihm dann gesagt, ich möchte das nicht mehr, dass das passiert und es ist dann auch nicht mehr passiert. Aber wir waren noch in Kontakt, bis ich 23 Jahre alt war, weil diese Beziehung war aufgebaut, es ging ja nicht nur um das Sexuelle, das habe ich erst wesentlich später verstanden, dass das nicht nur das war und das war wesentlich schwieriger zu, ich sage mal zu entfriemeln und auseinanderzuklamüsern irgendwie also weil da so viele Ebenen ineinander gegriffen haben, von Mentorenschaft, von Freundschaft, von Aufmerksamkeit, von Beziehungen im Allgemeinen. Dazu kam diese ganze künstlerische Komponente, wo er mich auf eine Art und Weise gefördert hat. Wir haben dann auch, dann irgendwann mit 19 angefangen Gedichte zu wirklich viel zu schreiben und dann war quasi er mein Ansprechpartner dazu. Also das Sexuelle ist wieder weggefallen, aber diese Beziehung nicht auf Augenhöhe ist fortgesetzt worden.

[00:16:57.580] - Nadia Kailouli

Ich finde das so wahnsinnig gut und wichtig, wie du das eben gerade beschreibst, weil wir sind ja alle in unserer Gesellschaft ein bisschen abgefuckt und wir denken uns so: "Na ja, wenn man, was ist denn jetzt hier das Problem?" Ja, aber das Problem ist halt einfach, dass da ein Machtverhältnis ist, ein Gefälle von Alter und eine Form der Manipulation und das fällt eben auch unter Missbrauch. Der Missbrauch fängt nicht erst da an, wenn es körperlich wird, sondern der Missbrauch fängt schon viel, viel früher an und du hast dich ja dann selber auf Spurensuche begeben und dich gefragt: "Was ist da eigentlich passiert?" Und hast ja auch Antworten gefunden.

[00:17:31.720] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, ich habe dann eben, als ich 23 war, habe ich dann meinen besten Freund zu der Zeit das erzählt. Das war der, dessen Mutter auch schon mal in der Praxis gewesen ist und den habe ich dann erzählt. Und dann hat der, er hat einfach nur gesagt: "Arschloch!" Und dieses Arschloch hat so gesessen bei mir, weil ich dann darüber dann plötzlich verstanden habe, das war falsch, was da passiert war. Also ich habe mich ja geschämt, das zu erzählen, weil ich dachte, was wird er von mir denken, wenn ich das jetzt erzähle? Oder was werden andere von mir denken? Ich habe das einfach mit mir so herumgetragen. Ich habe das, ein jahrelanges Schweigen würde ich das nennen. Und in dem Moment ist mir das so klar geworden. Und dann bin ich. Das war im Sommerurlaub, dann bin ich zurückgekommen und ein, zwei Wochen später sind wir zu einem Theaterstück gegangen, wo auch der Kinderarzt war und auch meine, meine Mutter. Und ich wollte dann quasi nicht mehr in der Nähe von ihm sein. Wir sind zu dem Theaterstück und dann habe ich einen Freund mitgenommen. Ich habe gefragt: "Kannst du dich bitte zwischen uns setzen?" Und als ich quasi nicht neben ihm saß, hat er gesagt: "Warum setzt du dich nicht neben mich?" Und ich habe gesagt: "Ich will mich nicht neben dich setzen!" Und dann ist er plötzlich ganz wütend geworden, so wie er eigentlich nie wütend war. Wahrscheinlich, weil ich mich zum ersten Mal quasi seinem Willen widersetzt habe. Und er wollte von mir partout wissen: "Warum setzt du dich jetzt nicht neben mich?" Ich hab gesagt: "Ich kann dir das jetzt nicht sagen, aber du weißt es eigentlich selber." Und dann hat er gesagt: "Dann sag es mir sofort." Aber das war fünf Minuten vor dem Theaterstück. Es saßen Leute um uns herum. Dann habe ich gesagt: "Okay, ich sag's dir nach dem Theaterstück." Und dann sind wir mit meiner Mutter runter, nachdem das Theaterstück vorbei war und ich habe es ihm gesagt und dann hat er.

[00:19:12.970] - Nadia Kailouli

Was hast du gesagt?

[00:19:13.360] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ich hab gesagt: "Als ich 17 war hast du, hast du mich angefasst." Und darauf hat er gleich sozusagen reagiert, hat es mit einer Abwehr. Und meine Mutter stand fassungslos daneben. Und dann habe ich den Kontakt sofort abgebrochen. Also ich habe seitdem, ich habe zu ihm seitdem kein Wort mehr gesagt, also seit diesem Gespräch und er hat mich dann noch mit E-mails und Briefen und so quasi eine kurze Zeit lang bombardiert und wollte sich entschuldigen. Also Entschuldigung, wäre ja okay gewesen, aber er wollte gleichzeitig mit der Entschuldigung, dass ich ihn quasi entsühne, also dass ich ihn freispreche von seiner Schuld und gleichzeitig darin aber auch die Bagatellisierung dessen, was da war. Und das hat sich nicht richtig für mich angefühlt.

[00:20:02.720] - Nadia Kailouli

Jetzt, während du das alles so erzählst, also erkenne ich halt eben das, was du dann herausgefunden hast und auch niedergeschrieben hast. Du hast ein Buch geschrieben, auf das kommen wir gleich zu sprechen und in dem Buch geht es, ich muss es ablesen, weil das Wort mir selber so fremd war, um Päderastie, also Knabenliebe. In dem Zusammenhang mit dir ist mir das Wort auch das erste Mal begegnet. Und jetzt, wenn du das so schilderst, macht das alles so, also weiß ich, warum du eben in diese Recherche gegangen bist und dann auch wahrscheinlich gedacht hast: "Okay, das ist hier nicht einfach eine Freundschaft gewesen, Das war auch nicht der klassische", ich sage es mal, wenn man es überhaupt so sagen kann, "Missbrauch, sondern dahinter steckt eben diese Knabenliebe." Vielleicht kannst du das kurz erläutern.

[00:20:44.120] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja total. Also nachdem ich ihn quasi damit konfrontiert habe, habe ich angefangen, psychologische Bücher zu lesen. Ich weiß noch, das erste war von Alice Miller "Das Drama des begabten Kindes" und das hat mich auf die Schiene gebracht, überhaupt über also Psychologie, Erziehung, Kindheitsrechte, Kindheitstrauma zu lesen. Und darüber bin ich dann auch auf das Thema sexuellen Missbrauch gekommen. Ich habe bis dahin immer noch nicht so wirklich das für mich benennen können, dass ich missbraucht wurde. Das hat sich so für mich, das Wort hat nicht gepasst mit der Definition, die ich zu dem Zeitpunkt hatte. Und dann habe ich immer mehr Bücher gelesen und ich dachte ich, ich, ich habe das so angesogen irgendwie. Und je mehr Bücher ich gelesen habe, desto mehr Facetten haben sich für mich aufgetan über Trauma, über bestimmte Aspekte von Missbrauch. Und als ich dann 28 war, habe ich ein Buch gelesen von Christian Füller, das heißt "Die Revolution missbraucht ihre Kinder" über sexuellen Missbrauch in deutschen Protestbewegungen. Und das Buch beginnt quasi mit einer Beschreibung dessen, was Päderastie ist. Und als ich das gelesen habe, sind mir wie Schuppen von den Augen gefallen, weil was ich nie wirklich zusammenbringen konnte, ist, warum hat er all diese "guten Sachen" Anführungsstrichen gemacht und mir auf der anderen Seite das angetan? Das habe ich gar nicht zusammenbekommen. Das waren für mich wie so zwei unterschiedliche Dinge. Und als ich gelesen habe, das aber eigentlich Teil der Päderastie oder der Knabenliebe eigentlich der pädagogische Eros ist, das bedeutet, dass ein Genuss darin eigentlich empfunden wird, diese Mentorenposition einzunehmen und einen Jugendlichen großzuziehen, ihn in die Philosophie einzuführen, ihn in die Lebensweisheit einzuführen, zu einem quasi Bürger zu machen und einen gebildeten Jungen. Dann habe ich verstanden, dass das ja alles zusammengehört. Das war gar nicht voneinander getrennt. Deswegen war es auch eigentlich weiterhin missbräuchlich, als ich dann noch weiterhin mit ihm in Kontakt war und auch schon ab 13 dieses Beziehungsgebilde aufgebaut. Und vielleicht, um noch mal ein bisschen klarer zu benennen, was Päderastie genau ist, das war das Konzept der Knabenliebe im antiken Griechenland, wo es darum ging, eben junge, also Jugendliche von zwölf, 13 Jahren großzuziehen in die Polis, also die Demokratie damals war ja auch nicht eine Herrschaftsweise von allen Menschen, sondern von reichen Männern oder adeligen Männern. Und die haben es sich irgendwie zur Aufgabe gemacht, über alles quasi herrschen zu können und das zu bekommen, was sie wollen. Und dazu gehörte der Sex mit Jungen. Und das wurde dann aber total verklärt, auf eine Art und Weise, getarnt mit einem philosophischen Überbau, der mit der Philosophie von Platon und Sokrates und so weiter., das war alles Teil davon und das wissen wir irgendwie nicht. Und das hat Christian Füller in seinem Buch ganz toll beschrieben. Und als ich das gelesen habe, da bin ich zur Polizei gegangen, weil ich dachte, das ist ja gar nicht etwas Seltsames, was mir passiert ist, sondern das hat eine jahrtausendealte Tradition und das gab es in Deutschland auch schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.

[00:24:10.210] - Nadia Kailouli

Wahnsinn.

[00:24:11.050] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, also eine Art von Renaissance, dieser, ich weiß, wahrscheinlich gab es das davor auch schon, aber in dem Buch jedenfalls ist es so beschrieben, dass es das quasi, dass Päderasten im Prinzip diese Idee der Legalisierung oder der Ausübung dieser in Anführungsstrichen, Knabenliebe oder Päderastie, also des sexuellen Missbrauchs von Jungen, integrieren wollten in das Gesellschaftssystem. Und das hat sich ganz stark über die Wandervögel verbreitet. Da wurden ganz viele Jungen missbraucht, und das hat sich über die Protestbewegung und in die Achtundsechziger, bis hin zu der versuchten Gesetzesentnahme des sexuellen Missbrauchs in der Grünen Partei. Also das hat.

[00:24:53.230] - Nadia Kailouli

Also das hat alles einen Ursprung, eine Geschichte und das ist einfach bis heute ein Tabu irgendwie, finde ich.

[00:24:59.200] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Total, ein totales Tabu. Wo es ganz groß geworden ist, war der Fall mit der Odenwaldschule, wo die Reformpädagogik sozusagen, aber das ist ja der philosophische quasi Überbau dessen, wo das so verklärt wird.

[00:25:12.070] - Nadia Kailouli

Ja, und dann, als du dann diese Erkenntnis darüber hattest. Also ich finde ganz wichtig, dass die Leute, die das jetzt hören, die dann das, dann wird das so eindeutig. Das hat nichts mehr damit zu tun gehabt, dass da ein älterer Mann ist, der sich um einen Jungen kümmert und da so väterschafsähnliche Gefühle oder so was, denn so kennt man ja, das sind so elternähnliche Beziehungen, die man halt hat und dann will man so ein Kind unterstützen oder so was. Davon reden wir hier nicht. Wir reden hier wirklich von einem System, sich Jungen irgendwie anzunähern. Und das ist halt einfach Missbrauch, weil ein kleines Kind oder ein Jugendlicher das noch gar nicht einstufen kann: "Ist der da jetzt verliebt in mich? Nein, der unterstützt mich doch nur." Und, aber es gehört sich halt einfach nicht, dass ein erwachsener Mann sich in ein Kind verliebt, in einen Jungen.

[00:25:56.200] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Das kann ja passieren. Also es ist ja, es ist ja nun mal so, dass es ja diese Neigung auch gibt, aber es ist ein Unterschied, das zur Tat zu machen.

[00:26:04.840] - Nadia Kailouli

Und das auszuüben.

[00:26:05.830] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Und das auszuüben und auch eine Beziehung zu suchen. Sagen wir mal so, wäre er zu mir gekommen, hätte gesagt: "Du, Daniel, ich habe mich...", als ich 13 Jahre alt war, "ich habe mich in dich verliebt. Ich würde gerne eine Beziehung mit dir führen." Dann hätte ich gesagt: "Was willst du denn von mir?" Und jeder andere hätte gesagt: "Was willst du denn von mir?" Aber deswegen wird das ja so verschleiert, weil das, was eigentlich nicht sein darf, darf nicht gezeigt werden. Und deswegen passiert das im Geheimen. Und es wird ein ein ganz ausgeklügeltes System, sozusagen eine Persönlichkeit aufgebaut, durch die man nicht, durch die ich sicherlich als Jugendlicher nicht durchschauen konnte und wo für mich das erste Mal so quasi mit diesem, was ich vorhin beschrieben habe, in dem Theaterstück, wo die Maske so quasi runtergefallen ist, da habe ich das zum ersten Mal so gesehen.

[00:26:49.450] - Nadia Kailouli

Weil er da gespürt hat: "Der macht gerade Schluss mit mir." Also du willst nicht neben ihm sitzen und das später klären und dann war die Panik, der macht Schluss.

[00:26:58.240] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Und worüber ich das auch noch ganz stark mitbekommen habe. Es gibt einen Film über Michael Jackson, der heißt "Leaving Neverland" und da beschreiben zwei Männer, die, als sie jung waren, Kinder, als sie fünf, sechs Jahre alt waren, von Michael Jackson über Tanzwettbewerbe angeworben wurden und dann im Verlauf ihrer Kindheit missbraucht wurden. Die beschreiben in diesem Film viele Dinge, wie zum Beispiel, dass der Briefe geschrieben hat, dass sie nachts telefoniert haben. All das habe ich auch erlebt. Also da habe ich auch durch diesen Film zum Beispiel selber erkannt, ach so, also warum sollte jetzt Michael Jackson bei dieser mittelständischen Familie irgendwie zu Hause auf dem Sofa sitzen? Das haben sich die Eltern auch gefragt, sind dann aber trotzdem zu ihm auf die Ranch gefahren. Aber genau das dachte ich auch, warum war er jetzt eigentlich bei mir zu Hause? Immer? Warum war der immer im Kinderzimmer? Das war ja eigentlich seltsam. Das war ja nicht normal.

[00:27:48.010] - Nadia Kailouli

Ja, ich finde das wahnsinnig gut, wie du das schilderst und so wichtig eben zu erkennen, auch wenn es da noch nicht zu sexuellen Handlungen gekommen ist, ist das ein Missbrauch, der da stattgefunden hat. Das ist so wahnsinnig wichtig und so toll, dass du hier bist. Jetzt würde ich gerne einen großen Sprung machen, weil deine, ich weiß nicht, kann man sagen Aufarbeitung deiner Geschichte? Kann man das so sagen?

[00:28:10.930] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Auf jeden Fall.

[00:28:11.380] - Nadia Kailouli

Ging ja weiter. Und jetzt habe ich hier ein Buch von dir in der Hand. Und dieses Buch, ich weiß gar nicht. Für mich ist das mehr als ein Buch, das ist irgendwie, das Format ist ein Buch, aber der Inhalt, das ist Lyrik. Ja, und das ist für mich auch irgendwie hohe Kunst. Und dabei ist das irgendwie autobiographisch und das ist ein ganz wilder Mix. Warum hast du gesagt: "Ich schreibe jetzt in einem Buch"? Ich nenne den Titel einmal: "Wiedergutmachungsjude". Warum du das Buch so genannt hast, dazu kommen wir gleich. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass du in dieser Form, ich lese gleich auch was dazu vor oder vielleicht du, das dann aufgearbeitet hast.

[00:28:45.850] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ich habe mich immer schon auch als Lyriker oder als Schriftsteller wahrgenommen. Ich habe, seitdem ich 15 war, angefangen, Gedichte zu schreiben und für mich war das Schreiben immer meine eigene Ausdrucksform. Also ich habe ja schon erzählt, dass ich als Pianist ein bisschen mich dahin gedrängt gefühlt habe, und deswegen hat sich das auch manchmal wie ein Fremdkörper angefühlt. Das Schreiben hat mir nie jemand aufgetragen, das kam immer von mir selber heraus. Und ich habe immer danach gesucht, etwas zu schreiben. Und irgendwie auch so in dem Anfang meiner 20er bin ich nie dazu gekommen, wirklich etwas zu schreiben, was funktioniert hat. Und ich kann das jetzt sagen, dass das damit zu tun hat, dass ich meine Geschichte nicht aufgearbeitet hatte. Denn ich glaube, ich wollte diese Geschichte schon früher aufschreiben. Ich hatte nur keine Worte dafür. Ich hatte die Emotion, die habe ich ausgedrückt, aber das war nicht verständlich für jemand anderen. Und ich habe dann angefangen, darüber Gedichte zu schreiben. Ich bin auch Teil eines Lyrikkollektivs, das Lyrikkollektiv "G13" und da habe ich zum Ersten Mal einen Text, den ich über meinen Missbrauch quasi da mitgebracht und vorgelesen. Das war sozusagen auch das erste Mal, dass ich einer kleinen Gruppe von Öffentlichkeit, ich kannte nicht alle davon sehr gut, von meinem Missbrauch erzählt habe, über Gedichte und ich habe gemerkt: "Ah, dass ich werde jetzt hier nicht komisch angeschaut, sondern wir besprechen Text und das hat eine Kraft in sich." Und mir ist irgendwann klar geworden, dass auch in der ganzen Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt, ich habe eben viel so Dokumentationen geschaut und Bücher gelesen, das ganz häufig eher aus einer Perspektive, also sei es wissenschaftlich oder psychologisch, in Talkshows, war es früher nicht so wirklich möglich darüber zu sprechen und die Fragen waren ganz komisch und ich dachte, ich will das erfahrbar machen, was da ist und womit kann ich es erfahrbar machen? Mit der Sprache und mit der Lyrik? Weil die Lyrik hat die Ich-Perspektive, das, wie wir es in der Schule so schön gelernt haben, das lyrische Ich. Ich habe aber gesagt, das lyrische Ich ist jetzt hier nicht, wie wir in der Schule gelernt haben, etwas anderes vom Autor differenziertes, sondern ich überlappee das und das ist, ich verstell auch nicht, dass ich das lyrische Ich bin und ich erzähle meine Geschichte, aber in Lyrik verknappt aufs Wesentliche runtergebrochen in den Formen, die es braucht.

[00:31:18.580] - Nadia Kailouli

Soll ich jetzt was daraus vorlesen oder du? Ich fühle mich. Ich finde es so vermessen, wenn ich das jetzt mache.

[00:31:23.350] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Wenn du jetzt einen Text ausgewählt, dass du gerne vorlesen würdest, dann lies den doch vor.

[00:31:27.100] - Nadia Kailouli

Ja, okay, also pass auf, weil das Ding ist halt, weil man sich ja auch fragt, wie machst du das? Ja, vor allem jetzt das Thema, also das Buch ist ja so sehr allumfassend, auch so ein bisschen. Aber gerade den Missbrauch, den verknappst du so sehr auf wenige Seiten. Und wir haben jetzt hier eine, eine Sache rausgesucht und zwar ist das die Seite 67/68, da schreibst du: "Du kannst auch bei mir übernachten, sagte er. Ich blieb. Mein Kinderarzt fasste mich an."

[00:31:57.360] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja.

[00:31:57.990] - Nadia Kailouli

Da denke ich so: Wow! Okay, Krass. Er schreibt einfach, was war, was ist. Ohne jetzt irgendwie Ewigkeiten darum herumzureden und dann Punkt. Und dann? Ich glaube, der eine Satz steht sogar nur auf einer Seite.

[00:32:09.130] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Genau, also "Mein Kinderarzt fasste mich an." ist eine eigene Seite. Und dann kommt eine leere Seite und dann kommt aber eine ausführlichere Beschreibung dessen, was passiert ist. Ja, um das in einem Satz auszudrücken, bedarf es sehr, sehr viel Gedanken und sehr viel Zeit. "Mein Kinderarzt fasste mich an." ist auch eine Anspielung, steckt auch dadrin, der Erlkönig: "Vater! Vater! Jetzt fasst er mich an. Erlkönig hat mir ein Leids getan!" Ich wollte diese Referenz auch da drin haben. Aber es ist auch einfach das: "Mein Kinderarzt fasste mich an." Es ist auch, ich glaube, das Wichtige, was für mich war, dass die Lyrik oder die, die Sprache nicht blumig ist, sondern so präzise wie möglich. Das ist auch keine, in dem Sinne, keine Zweideutigkeit gibt. Weil es wird ja viel auch über Interpretation gesprochen und Lyrik kann halt vieles bedeuten. Das wird es auch. Und in jedem, jeder Leser und jedem Leser wird es das hervorrufen, was es hervorruft. Und damit lebt das Werk in jeder Person auf die eigene Art und Weise weiter. Aber mir ging es darum, mit der Sprache so genau, wie es möglich ist, umzugehen. Und dabei ist mir auch aufgefallen, dass uns Sprache fehlt, um das, was da passiert, wirklich zu beschreiben.

[00:33:27.780] - Nadia Kailouli

Weil es auch so unangenehm ist. Es ist manchmal unangenehm, Menschen Worte zu diesem Thema in den Mund zu nehmen oder zu lesen, es ist ,oder auch manche Leute können das ja gar nicht hören, was wir gerade besprechen.

[00:33:38.850] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, das und ich denke auch über das Jahrhunderte und Jahrtausende alte Tabu, wenn man nicht darüber redet, wie soll ich eine Sprache darüber entwickeln? Wir reden ja erst seit kurzem wirklich darüber. Öffentlich. Es ist toll, dass es diesen Podcast gibt und es ist toll, dass ich dieses Buch machen kann. Das wäre nicht möglich, wenn nicht in Jahrzehnten davor schon dahin gearbeitet wurde, dass das auch mehr und mehr zum Diskurs wird und aus dem Geheimen und dem Unwissen hervortritt. Und das ist. Dafür braucht es eine Sprache und die muss aber auch erst gelernt werden und entwickelt werden.

[00:34:16.290] - Nadia Kailouli

Aber es ist dir schwergefallen, die Sprache zu finden für dein Buch?

[00:34:21.000] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, ich habe fünf Jahre daran geschrieben.

[00:34:23.940] - Nadia Kailouli

Hast du Tagebuch geschrieben als Jugendlicher? Auch darüber

[00:34:27.000] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja. Ich habe interessanterweise gerade, ich bin gerade noch mal so umgezogen, habe meine Kisten aufgeräumt und habe dabei ein altes Tagebuch gefunden. Ich habe gerade einen Tagebucheintrag gelesen, als ich gerade 18 geworden bin, wo ich darüber schreibe, dass es mir ganz seltsam geht und ich nicht weiß, warum. Und das konnte ich damals nicht, ich weiß, mir geht es schlecht und ich weiß nicht warum. Und ich kann das nicht begreifen. Woran kann das liegen? Das habe ich damals mich schon gefragt und ich konnte das damals nicht zusammenbekommen mit dem, was passiert war, weil ich ja nicht wusste, dass das Missbrauch war. Weil dafür fehlt ja sozusagen auch, wenn, wenn man quasi nicht von diesen Dingen weiß, von Päderastie, von überhaupt als Junge. Es war ja nicht penetrativ. Also denkt man sich: "okay, ich wurde nicht missbraucht". Also, oder.

[00:35:15.500] - Nadia Kailouli

Weil einem das gar nicht geläufig ist, dass diese Form eben Missbrauch ist.

[00:35:20.690] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Genau. Ja und so habe ich halt eben. Ich habe Tagebuch geschrieben, ich habe sehr, sehr viele Notizen geschrieben. Ich habe, das muss ich unbedingt dazu sagen, Ich habe eine Therapie gemacht, eine Psychoanalyse und für mich ist dieses Buch auch quasi eine Dokumentation eines Heilungsprozesses.

[00:35:36.710] - Nadia Kailouli

Wie fühlte sich das dann für dich an, das in der Hand zu haben? Du sagst, du hast fünf Jahre daran gearbeitet, daran geschrieben, Worte gesucht, Worte gefunden. Aber am Ende ist ja dann auch der Prozess, das in den Druck zu geben und so und es ist ja einfach nicht eine runtergeschriebene Autobiografie. Wie war das dann? Wie ist das für jemanden, dann, dieses Ding dann auch in der Hand zu haben?

[00:35:57.620] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Ja, der Schreibprozess ist ein, war ein Teil der Klarwerdung und der Verarbeitung und der Aufarbeitung. Also vieles musste ich eben noch mal deutlicher benennen, musste Worte finden, musste halt. Ich habe zum Beispiel mit meiner Partnerin auch sehr viel daran gearbeitet, als wir das quasi zusammen auch noch mal lektoriert haben. Es sind noch mal viele neue Texte gekommen oder wo ich dachte: "Okay, hier wollte ich eigentlich das sagen." Und dann haben wir da noch mal quasi herausgearbeitet, was eigentlich, was ich eigentlich noch mal genauer sagen wollte, was wichtig ist, was wesentlich ist, zu sagen, was kann man wieder weglassen und dann das Lektorat mit meinem Lektor im Verlag und so weiter. Also all diese Prozesse, die ja auch Gedankenprozesse und Austauschprozesse. Ich habe viel in meiner Therapie über das Buch gesprochen und die Verarbeitung, das war halt eben Teil davon. Und wenn ich das dann halt am Ende fertig in der Hand halte und vor mir habe, ist es auch im wahrsten Sinne des Wortes entäußert. Also ich wollte etwas, das, was mir, in mir drin war, für das ich nichts konnte aus mir herausbringen. Und so fühlt es sich auf eine Art und Weise auch an.

[00:37:05.150] - Nadia Kailouli

Und ich finde es halt einfach so krass, dass du nicht nur eben ganz persönlich damit aufarbeitest und entäußert, sondern dass du so wahnsinnig aufklärst.

[00:37:15.170] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Das war mir immer ein Anliegen. Ich habe ja wie gesagt angefangen, viel darüber zu lesen und bei dem Lesen darüber ist mir klar geworden, dass ich total wenig wusste. Und ich habe mir auch gedacht, hätte ich diese Dinge gewusst, ich denke, ich hätte anders darauf reagieren können, auch schon als Jugendlicher, weil mir waren diese Dinge überhaupt nicht geläufig. Es gab keinerlei Aufklärung dazu. Weder also zu Hause denke ich, wäre sowieso nicht möglich gewesen. Ich sag mal so sowjetische Kultur, aber auch in der Schule nicht. Und deswegen ist es mir auch ein Anliegen, diese Information quasi auch zu teilen, dass das auch meine Lyrik auf Basis von Wissen entstanden ist, gemischt mit meiner eigenen Erfahrung, aber dass ich mit meinem Fall auch zu anderen sprechen kann und entweder das, dass sie sich darin halt vielleicht beschrieben fühlen oder verstanden oder einfach nur die Tatsache, dass jemand das erzählt, dann denken: "Ich kann das auch erzählen." Mir ist das in meiner Aufarbeitung, als ich mich Freunden und Freundinnen zugeteilt habe, genau das passiert.

[00:38:18.410] - Nadia Kailouli

Ich erinnere mich gerade, weil du das sagst, an deinen Freund, der sagte "Arschloch", als du ihm die Geschichte erzählt hast und das war ja so mit der Auslöser auch zu merken, so: "Stimmt, er ist eigentlich ein Arsch." Hat er das Buch gelesen?

[00:38:30.690] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Der Kinderarzt?

[00:38:31.770] - Nadia Kailouli

Ne, dein Kumpel, der sagte, der ist ein Arschloch.

[00:38:35.010] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Auf jeden Fall.

[00:38:35.430] - Nadia Kailouli

Der hat es gelesen. Und deine Familie?

[00:38:37.290] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Meine Familie auch.

[00:38:38.520] - Nadia Kailouli

Und wie war das dann? Das ist ja dann die nächste Stufe. Oder sagt man einfach: "Da steht jetzt alles drin. Wir müssen beim Abendessen jetzt nicht mehr drüber reden."

[00:38:45.750] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Naja, also ich habe es meinen Eltern vor der, vor der Drucklegung zu lesen gegeben. Sie haben ein bisschen Zeit gebraucht, um das anzunehmen und das auch zu verstehen. Es hat natürlich viele Gefühle hervorgerufen, auch von Schuld. Aber ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie das angenommen haben und auch mir dann sogar noch ein paar Korrekturvorschläge gemacht haben mit so biografischen Details, die ich gerade aus der Kindheit vielleicht nicht so richtig erinnert hatte. Oder auch ihre Geschichte. Ja, aber Freunde haben es und Freundinnen haben es gelesen. Und was mir halt eben noch wichtig zu sagen ist, dass auch beim Schreibprozess oder überhaupt als ich angefangen, ich würde es mal einfach so benennen, ich habe angefangen darüber zu sprechen und durch das Anfangen darüber zu sprechen, kam plötzlich und es waren vor allen Dingen Freundinnen, die erzählt haben: "Mir ist was ähnliches passiert. Also ich wurde auch missbraucht." Jemand in einer Lehrposition oder, aber eben auch Jungs oder die jetzt Männer sind, aber die das auch erleben. Und es ist halt. Da ist mir plötzlich so klar geworden, okay, das ist ja, also ich bin damit nicht alleine und ich spreche ja auch nicht nur für mich. Das ist mir ganz wichtig. Ich sprech, ich möchte jedenfalls für viele sprechen. Ich möchte für meine Freundinnen und Freunde sprechen, die jetzt gerade nicht zu einem Podcast gehen können. Und auch ohne sie wäre das Buch gar nicht möglich gewesen. So, Ja.

[00:40:19.800] - Nadia Kailouli

Jetzt muss ich wieder einen großen Bogen schlagen, wieder zurück zu der einen Frage, die wir später beantworten wollten, aber unsere, also nicht, dass man hier auf die Zeit guckt. Ich möchte das eigentlich auch nicht, aber irgendwie muss man ja ein bisschen auf die Zeit gucken. "Wiedergutmachungsjude" heißt dein Buch. Warum?

[00:40:35.520] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Also ich hatte ja schon erwähnt, dass meine Familie aus der ehemaligen Sowjetunion kommt und als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Und das bringt einen bestimmten Komplex mit sich. Und zwar haben sowjetische Jüdinnen und Juden nicht wirklich ein, also jedenfalls in meiner Familie und auch in dem Umfeld, das ich kenne, ein sehr unklares Verhältnis zu der eigenen Identität, weil das so stark unterdrückt wurde. Also man durfte quasi das nicht ausüben, man konnte nicht religiös sein, man konnte nicht Feiertage wirklich feiern, wenn, dann nur im Geheimen, man konnte nicht zur Synagoge gehen. All das hat dazu geführt, dass man eigentlich die Kultur quasi abgelegt hat. Aber trotzdem stand im Pass unter Nationalität "Jude". Also das heißt, man war wie so gebrandmarkt und das hatte auch Nachteile, beispielsweise wenn man sich um eine Arbeit beworben hat oder so oder beim Studium. Man wurde davon, indem man jetzt nicht das ausgelebt hat, nicht davon freigesprochen, dass man.

[00:41:34.950] - Nadia Kailouli

Wer man ist, oder an was man glaubt?

[00:41:36.720] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Genau, man wurde dafür auch diskriminiert und auf in die quasi sowjetische Ausprägung. So, und das ist der Kontext, in dem meine Eltern nach Deutschland gekommen sind. Und dann gibt es hier ja ein ganz anderes Verhältnis zur Jüdischkeit, die ja in der deutschen Geschichte inbegriffen ist und auch in einer, in einer Auseinandersetzung mit Judentum, das sehr verlinkt ist mit dem Holocaust. Und der Kinderarzt war eben nicht nur quasi interessiert an, an der Familie als solche und am Klavierspiel, sondern das Jüdischsein hat auch immer eine ganz große Rolle gespielt und das kann ich jetzt als eine Art von Fetischisierung benennen. Und es war quasi kein, kein Antisemitismus, weil er sich ja sehr für die quasi für die deutsche Geschichte interessiert, viel darüber gelesen, dazu auch irgendwie gearbeitet. Aber es gibt auch den Begriff des Philosemitismus, also quasi die Gegenseite dessen, in dem man eigentlich übermäßig etwas liebt. Also bei Rassismus würde man von positiven Rassismus sprechen. Und die Tatsache, dass ich als jüdischer Junge von einem deutschen Kinderarzt, der philosemitisch ist, missbraucht wurde, ist für mich eine Verschränkung von, von Tatsachen, die noch mal schwieriger zu begreifen ist. Und es ist deswegen auch für mich wichtig, weil einer der Argumente von ihm war, als ich ihm, quasi als er mich gebeten hat, dass ich ihm verzeihe, hat er gesagt: "Bald ist ja Jom Kippur, der Tag der Versöhnung und jetzt sollten wir uns doch da treffen und uns versöhnen." Aber das war total übergriffig, weil weder habe ich irgendwelche jüdischen Feiertage gefeiert, noch kann er mir als nichtjüdische Person sagen, dass wir jetzt ein jüdisches Fest feiern. Noch dazu eines, bei dem man quasi seine Sünden sagt und man sich gegenseitig entschuldigt. Das ist für mich quasi der Gipfel der Perversion, eigentlich.

[00:43:55.720] - Nadia Kailouli

Also Missbrauch auf allen Ebenen, auch noch so ein Feiertag auszunutzen, um wieder Nähe zu schaffen, um sich von seiner Schuld irgendwie frei zu machen.

[00:44:04.750] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Für mich total. Ich habe das auch in einem der Gedichte drin. Darauf kann ich nur sagen: "Fuck you". Das ist im Text auch so drin. Aber, das war also. Und die Wiedergutmachung ist quasi der, der Grund, warum meine Eltern überhaupt nach Deutschland kommen konnten war, nachdem die DDR oder die Sowjetunion kollabiert ist und damit dann auch die DDR. Davor wurde eben dieses Programm gestartet, man, man bringt wieder jüdisches Leben nach Deutschland. Das wurde nie als Wiedergutmachung benannt. Aber es war ein politischer Akt der Wiedergutmachung, dass wir wieder jüdisches Leben in Deutschland haben. Bis 1990 haben 20.000 jüdische Menschen in Deutschland gelebt. Und jetzt, die Zahlen, die jetzt im Raum sind 200.000 und der Großteil dieser Menschen sind postsowjetische Juden und Jüdinnen, ungefähr 90 %. Ich kann jetzt nicht die genauen Zahlen, aber so in dem Maße. Und deswegen habe ich das "Wiedergutmachungsjude" benannt.

[00:45:07.430] - Nadia Kailouli

Ich glaube, ich habe noch nie jemandem so gerne zugehört, wenn ich nach einem Titel eines Buches gefragt habe.

[00:45:12.050] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Das ehrt mich sehr.

[00:45:13.910] - Nadia Kailouli

Daniel, ich danke dir so sehr und ich glaube, ich spreche für mein ganzes Team, dass du uns eine E-mail geschrieben hast. Vielen, vielen Dank. So toll, dass du heute bei uns warst. Und ich kann dieses Buch jedem empfehlen. Und ich hoffe, dass man dich irgendwie noch mal erlebt, dir begegnet. Es war wirklich toll, dass du heute unser Gast war. Vielen Dank.

[00:45:32.840] - Daniel Arkadij Gerzenberg

Vielen, vielen Dank.

[00:45:36.990] - Nadia Kailouli

Und wenn ihr jetzt sagt, oh mann, ich würde auch gerne mehr von Daniel erfahren. Dann kann ich euch sagen Daniel Arkadij Gerzenberg, so ist nämlich sein voller Name. Wird bald live zu sehen sein, und zwar am 6. März in Mannheim bei einem Abend, der heißt "Smash the Patriarchy". Da sind viele andere dabei, die auch schon mal zu Gast waren. Hier bei uns bei einbiszwei zum Beispiel Asha Hedayati, Christina Clemm und eben Daniel Arkadij Gerzenberg. Das Ganze eben am 6. März in Mannheim. Alle Infos dazu in den Shownotes.

[00:46:10.020] - Nadia Kailouli

An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich mal bei euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei schwierigen Themen dranbleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal. Und wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine E-mail könnt ihr einfach schreiben an presse@ubskm.bund.de.

Mehr Infos zur Folge

Daniel Arkadij Gerzenberg gibt als Pianist weltweit Konzerte, in Lugano, in Taipeh, in Berlin an der Deutschen Oper oder im Pierre Boulez Saal. Er hat schon einen Haufen Preise eingesammelt und er unterrichtet Lyrik an der Hanns Eisler Hochschule in Berlin.

Ende letzten Jahres hat er uns eine Mail geschrieben: „(...) Ich wurde von meinem damaligen Kinderarzt sexuell missbraucht. Er hat den Kontakt zu mir über seine Arzttätigkeit hergestellt und angefangen, ein näheres Verhältnis zu mir aufzubauen, seit ich 13 war. Über diesen Zeitraum hat er nach und nach die Grenzen verschoben und meine Schwächen ausgenutzt, die unter anderem in meiner leistungsbezogenen Erziehung zum klassischen Pianisten begründet waren. (...) Mein Kinderarzt hat mich dann zum Beispiel in meinen schulischen Leistungen und meiner Ausbildung zum Pianisten gefördert. Da er auch sehr viel Positives für mich und meine Familie getan hatte, war es für mich sehr schwierig zu entziffern, dass ich eigentlich manipuliert wurde, um missbraucht zu werden.”

„Päderastie“ heißt das, was Daniel passiert ist, zu deutsch: Knabenliebe. Das ist diese besonders perfide Masche, bei der sich ein Täter als väterlicher Freund gibt und sich so Vertrauen erschleicht, dass er dann missbraucht. Weil es das schon in der griechischen Antike gab und weil die Betroffenen von den Tätern oft tatsächlich gefördert werden, sind viele Täter der Meinung, diese Form sexueller Gewalt wäre irgendwie okay. Das ist sie natürlich nicht.

Ein schwarz-weiß-Bild in dem Daniel Arkadij Gerzenberg mit Nadia Kailouli in dem Podcast "einbiszwei" spricht.

Für das, was ihm passiert ist, hat Daniel Gerzenberg eine tolle, klare Sprache gefunden, und zwar in seinem Buch „Wiedergutmachungsjude” – ein Lyrikband, in dem er seine Erfahrungen verarbeitet.

Wenn ihr Daniel Gerzenberg live erleben wollt, geht das ganz bald: Am 06. März in Mannheim. Smash the Patriarchy! heißt der Abend. Dort sind auch viele andere dabei, die schon mal bei einbiszwei waren. Asha Hedayati oder auch Christina Clemm. Mehr Informationen findet ihr hier: Smash The Patriarchy! | Asha Hedayati, Christina Clemm, Laura Leupi, Daniel Arkadij Gerzenberg

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

einbiszwei@ubskm.bund.de

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