
Bei euren Uni-Veranstaltungen über sexuelle Gewalt kommen Hunderte von Menschen – wie macht ihr das, Noah Dejanovic und Katja Sturm?
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[00:00:02.010] - Noah Dejanovic
Ich hätte mir als betroffenes Kind damals gewünscht, dass mir Lehrpersonen angesehen hätten, dass es mir nicht gut geht. Also es gibt ja Anzeichen, die Betroffene und Kinder und Jugendliche irgendwie zeigen können, wo man da erkennen könnte, da stimmt irgendwie was nicht. Und bei denen ich mir gewünscht hätte, dass Lehrpersonen auf mich zugekommen wären und gesagt hätten: „Hey Noah, ist irgendwas los? Möchtest du darüber reden?"
[00:00:22.240] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:47.100] - Nadia Kailouli
Gerade erst wurde er vom Deutschen Hochschulverband zum Studenten des Jahres gewählt. Eine Wahnsinnsauszeichnung und das für eine Sache, von der immer noch nicht allzu viele Leute etwas wissen wollen. Noah Dejanovic klärt bei großen Veranstaltungen an Unis über das Thema sexuelle Gewalt auf. Noah weiß nämlich, wovon er spricht, denn er wurde von seiner Mutter missbraucht. Das erzählt er bei den Veranstaltungen, denn Noah möchte, dass seine Mitstudierenden später als Lehrerin oder Lehrerin bei ihren Schülerinnen und Schülern Anzeichen von Missbrauch erkennen und wissen, was zu tun ist. Er hatte diese Unterstützung nämlich nicht. Das will er gemeinsam mit Katja Sturm vom Kinderschutzbund ändern. Und das kommt gut an. Bei der ersten Veranstaltung im letzten Jahr kamen gleich 400 Studierende. Gerade erst haben Noah und Katja wieder eine Veranstaltung gemacht, wieder mit großem Erfolg: Über 500 Leute waren da. Und wie sie das schaffen, dass Menschen sich für ein schwieriges Thema interessieren, das erzählen sie uns heute hier bei einbiszwei.
[00:01:44.700] - Nadia Kailouli
Wir haben es uns hier sehr gemütlich gemacht. Wir trinken alle drei Tee. Ihr hört richtig, wir sind heute zu dritt. Ich sage herzlich willkommen bei einbiszwei, Noa Dejanovic und Katja Sturm. Grüßt euch.
[00:01:55.000] - Noah Dejanovic
Hallo.
[00:01:55.450] - Katja Sturm
Hallo.
[00:01:56.230] - Nadia Kailouli
Wir sprechen heute über eure Begegnung und über das, was ihr gemeinsam macht, denn du, Katja, bist vom Kinderschutzbund und du, Noah, bist Student, Lehramtstudent. Und da fragt man sich natürlich so: Wie habt ihr zueinander gefunden? Wer möchte das kurz mal zusammenfassen?
[00:02:12.980] - Noah Dejanovic
Soll ich anfangen? Also das hat angefangen, im ersten Semester, da habe ich an einem freiwilligen Workshop zum Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung im Kontext Schule teilgenommen und da war Katja Referentin. Und ich war frisch im ersten Semester und habe dann im Gespräch mit Kommiliton:innen aus dem zehnten Semester, die jetzt fast mit ihrem Studium fertig gewesen wären und eigentlich in ein paar Monate an der Schule gelandet wären, dass dieser Workshop jetzt das erste Mal ist, dass sie sich mit diesem Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung auseinandersetzen. Sprich, dass auch ihre Kommiliton:innen, die sich nicht für diesen Workshop angemeldet haben, nichts von diesem Thema gehört haben.
[00:02:48.380] - Nadia Kailouli
Das heißt, ihr habt euch eben in dem Sinne kennengelernt, weil du eigentlich in der Ausbildung stehst: „Wie arbeite ich mit Kindern?" Weil man sich ja denkt: „Hey, Noah, Student ist der nicht jetzt schon zu alt für den Kinderschutzbund?" Katja, so habe ich das nämlich gedacht. Aber es geht eher darum, dass du Studierende adressierst, die mit Kindern später mal zusammenarbeiten, oder?
[00:03:09.390] - Katja Sturm
Genau. Hauptanliegen von diesen Online-Schulungen war in der Pandemiezeit Studierende zu erreichen, die später mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und in der Lehramtsausbildung oder im Studium sind. Und wie gesagt, Noah war bei dem ersten Vortrag mit dabei und ich glaube, anderthalb Jahre später wurde ich angefragt, noch einmal einen Vortrag zu machen online für Studierende. Und mir wurde mitgeteilt, dass es einen Student gibt, der schon mal dabei war und wieder teilnehmen möchte. Und daraufhin habe ich gefragt: „Entschuldigung, wer ist denn das?" Und da wurde mir mitgeteilt, dass es Noah ist. Und da war so mein Impuls, wenn Noah dabei ist, würde es sich ja anbieten, wenn wir den Vortrag zusammen machen. Und so haben wir quasi noch mal zueinander gefunden, so ein Jahr oder anderthalb Jahre später, und dann entschieden, dass wir gemeinsam die Onlineschulung durchführen.
[00:03:54.450] - Nadia Kailouli
Noah, vielleicht magst du mal selbst erzählen, warum das Thema für dich so relevant ist.
[00:03:59.780] - Noah Dejanovic
Ich habe mich ja für diesen ersten Workshop angemeldet, weil ich selbst Betroffener bin. Also ich habe mit elf Jahren durch meine Mutter physische, sexuelle und psychische Gewalt erfahren und wollte mich halt dazu weiterbilden, dann aus der Lehrerinnenperspektive. Und ich fand es dann einfach echt krass und schockierend zu sehen, dass man halt auf einen Beruf hinarbeiten kann, in dem man den ganzen Tag mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, nicht einmal verpflichtend im Studium mit diesem Thema konfrontiert wird. Und ich glaube, das ist unglaublich wichtig, weil ich hätte mir als betroffenes Kind damals gewünscht, dass mir Lehrpersonen angesehen hätten, dass es mir nicht gut geht. Also es gibt ja Anzeichen, die betroffene Kinder und Jugendliche irgendwie zeigen können, wo man da erkennen könnte, da stimmt irgendwie was nicht. Und bei denen ich mir gewünscht hätte, dass Lehrpersonen auf mich zugekommen wären und gesagt hätten: „Hey Noah, ist irgendwas los? Möchtest du darüber reden?" Und vor allem hätte ich mir gewünscht, dass ich im Rahmen von sexueller Bildung zum Beispiel gelernt hätte, dass es sexuellen Missbrauch gibt, dass es Grenzen körperliche und emotionale gibt, die bei mir niemand überschreiten darf, auch nicht meine eigene Mutter. Ich glaube, das wären so Dinge, da hätten Lehrpersonen mir helfen können und sollen, aber da hat das gefehlt, dass sie im Studium Wissen und Kompetenzen dazu vermittelt bekommen hätten.
[00:05:09.050] - Nadia Kailouli
Und jetzt sind wir im Jahre 2025. Also das es das früher nicht gegeben hat, vor 10, 15 Jahren, kann man noch sagen, okay, da war das irgendwie noch so, ich will nicht sagen tabu, aber man hat sich ein bisschen davor gescheut. Heute reden wir ja immer noch nicht in Gänze, aber immerhin schon mehr darüber. Wir bringen das mehr an die Öffentlichkeit. Man sensibilisiert mehr zu dem Thema und und und. Nichtsdestotrotz ist es jetzt bei dir als Student ja immer noch nicht so, dass das Thema verpflichtend irgendwie Lehrinhalt ist, wenn man auf Lehramt studiert, richtig?
[00:05:46.570] - Noah Dejanovic
Ja, ich glaube, das ist auch noch an den meisten Unis der Fall. Wir waren an der Uni Jena, da wurde uns das gleiche Feedback von den Studierenden gegeben. Ich habe auch Kontakt nach Greifswald und an sehr, sehr vielen Unis wird das nicht angeboten oder es ist nur ein freiwilliger Workshop, den man mal belegen kann. Es fehlt auf jeden Fall flächendeckend die Verankerung des Themas.
[00:06:05.060] - Nadia Kailouli
Und jetzt kommst du, Katja, vom Kinderschutzbund und gehst sozusagen an Universitäten, um da dieses Thema überhaupt auf die Agenda zu bringen?
[00:06:14.310] - Katja Sturm
Genau. Also was wir wissen, ist, dass Lehramtstudierende Schulrecht haben. Im Schulrecht sind die ganzen gesetzlichen Daten verankert, die das Kindeswohl betreffen, aber nicht der Umgang mit dem betroffenen Kind. Und das ist etwas, wo wir als Kinderschutzbund sagen, das ist total wichtig, dass junge Menschen wissen, wie sie mit Kindern und Jugendlichen umgehen können, wenn es denen nicht so gut geht oder sie die Vermutung haben, es könnte hier vielleicht auch eine Kindeswohlgefährdung oder eine sexualisierte Gewalt vorliegen. Und das ist das, was wir erreichen wollen. Und da hat Noah eigentlich den ersten Schritt gemacht, als er gesagt hat: „Mensch, wollen wir nicht mal an der Uni Leipzig starten und einen Workshop anbieten für Studierende zum Thema sexualisierte Gewalt, Umgang mit dem betroffenen Kind oder was ist überhaupt Kindeswohlgefährdung? Was ist mein Auftrag?"
[00:06:55.580] - Nadia Kailouli
Noah, wie alt bist du?
[00:06:57.680] - Noah Dejanovic
Ich bin 22.
[00:06:58.500] - Nadia Kailouli
22. Jetzt fragt man sich natürlich: Boah, krass. Als junger Student sagst du dann: "Ja, ne, lass das mal machen." Nun weiß ich von dir, dass du schon Vorträge auch alleine gehalten hast an Universitäten. Du standest schon vorne auf der Bühne und hast eben über dieses Thema gesprochen gebrochen. Fiel dir das schwer oder war dir das von Anfang an ein Anliegen: „Ich will da kein Tabu draus machen, ich will das thematisieren?"
[00:07:24.470] - Noah Dejanovic
Also die ersten Male waren echt schwer, also vor allem weil ich sehr, sehr aufgeregt war und dass ja auch emotional immer sehr, sehr aufreibend ist, auch weil wir dann Videos zeigen, die teilweise sehr, sehr intensiv und explizit sind, die dann auch irgendwie ein bisschen triggernd auf jeden Fall wirken. Dahingehend, dass es da mal Momente gibt in der Veranstaltung, in der ich anfange zu weinen und mich dann fünf Minuten rausnehmen muss. Aber da haben wir eigentlich einen guten Umgang mit gefunden und ich kenne auch Methoden dazu. Und das Schöne ist, so langsam gewöhne ich mich dran. Wir haben irgendwie so zusammen eine Dynamik gefunden, in der wir uns super ergänzen, weil das ist ja das Anliegen von unseren Vorträgen und Veranstaltungen an Universitäten, dass wir zwei Perspektiven zusammendenken: Ich schildere aus der betroffenen Sicht, was ich mir persönlich damals als betroffenes Kind gewünscht hätte. Und damit erreichen wir die Menschen, glaube ich, auf einer emotionalen Ebene und öffnen sie dafür. Und Katja ergänzt dann diese fachliche Perspektive mit ihrer Erfahrung, also aus der sozialen Arbeit: Wie gehe ich denn vor? An wen wende ich mich? Was sind Anzeichen? Und das ergänzt sich dann immer sehr, sehr gut.
[00:08:24.360] - Nadia Kailouli
Kann man das denn, Katja, überhaupt das, was du anbietest, einfach verankern in ein Lehrplan, einen Studienplan, wenn man auf Lehramt studiert? Weil ich erinnere mich jetzt gerade immer so an meine Lehrerinnen und Lehrer zurück. Da waren schon einige, wo ich sage, die hatten soziale Kompetenzen über das Geschichtsbuch hinaus, sage ich jetzt mal, und andere, wo ich mir gedacht habe: "Also der hat noch nichtmals gesehen, wenn ich abgeschrieben habe: Wie soll der denn erkennen, dass ich zu Hause gerade Probleme habe?"
[00:08:50.500] - Katja Sturm
Genau und deswegen fordern wir eigentlich, dass das verpflichtend aufgenommen werden sollte, mindestens im Studium für Lehramtstudierende, aber auch in allen anderen Studien, wo Menschen mit Kindern und Jugendlichen tun haben und das kommt momentan noch viel, viel zu kurz. Also das ist wirklich das, was Noah sagt: Das ist ein freiwilliges Angebot, da kann ich hingehen, wenn ich Interesse habe. Das erreicht aber nicht jeden Studenten oder Studierende, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten möchte.
[00:09:13.760] - Nadia Kailouli
Ist das dann überhaupt der richtige Job, wenn man sagt: „Ich möchte mich eigentlich mit dem Thema nicht auseinandersetzen? Ich möchte gerne, die, keine Ahnung, was für eine mathematische Formel mir reinhauen und das dann auch beibringen, aber alles, was zum Thema Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung und so was ist, das ist ja hier nicht, das steht hier nicht in meinem Mathebuch. Damit möchte ich bitte in Ruhe gelassen werden." Ist das dann überhaupt der richtige Job, Lehrer oder Lehrerin zu werden?
[00:09:38.400] - Katja Sturm
Meine Vermutung ist, dass nicht mal alle wissen, dass es das gibt. Und durch die Veranstaltung, die wir machen, glaube ich, haben wir auch viel Aha-Momente erwirkt bei den Studenten, die an den Veranstaltungen teilgenommen haben. Also es waren nicht alle drin, die gesagt haben: „Ich kenne das schon in- und auswendig und komme dazu", sondern die eher dabei waren und gesagt haben: „Krass, und darauf muss ich achten und dann kann ich auch was verändern." Und dabei wollen wir sie unterstützen. Und ich mache immer mehr die Erfahrung, dass junge Menschen Interesse an dem Thema haben und auch wollen, dass es Kindern und Jugendlichen gut geht. Sie wollen einen sicheren Ort schaffen. Und genau da, glaube ich, müssen wir ansetzen und müssen quasi ihnen auch die Möglichkeit geben, ihr Wissen zu stärken und ihnen die Möglichkeit zu geben, wie sollen sie handeln, wenn sie eine Vermutung haben, weil das macht ja so unsicher: Ich sehe was, aber ich weiß nicht, was ich machen kann.
[00:10:22.820] - Nadia Kailouli
Ja, es geht ja zum Beispiel jetzt nicht nur Lehrinnen und Lehrern, sondern zum Beispiel auch Ärztinnen und Ärzten, die auch denken: „Darf ich da jetzt, eigentlich bin ich beim Zahnarzt, aber irgendwie fällt mir da was auf." Und da ist ja auch schon so die Hürde: Wann spreche ich das an? Was sind Anzeichen, wo ich wirklich sagen könnte: "Da müssen wir mal genauer hinschauen!" Könntet ihr, könntest du irgendwas Konkretes sagen, was man so lernt wenn man die Vorträge von euch hört? Also was Konkretes, damit man eine Vorstellung bekommt?
[00:10:50.540] - Noah Dejanovic
Wir freuen uns sehr, wenn wir es schon schaffen, erst mal ein Bauchgefühl herzustellen von uns und den Teilnehmenden, also dass sie erst mal das Bewusstsein haben und den Gedanken zulassen, das könnte sexueller Missbrauch, es könnten irgendwie Gewalterfahrungen sein und dass sie dann einfach wissen, an wen sie sich wenden können. Also einfach, dass das Wissen da ist. Zum Beispiel, ein Kind ist von einem Tag auf den anderen äußerst aggressiv oder sehr, sehr ängstlich und zurückgezogen, ist in den Gedanken ganz woanders, wirkt die ganze Zeit so abwesend, dass die Personen einfach den Gedanken zulassen, das könnte Missbrauch sein. Genau, das sagt Katja dann auch immer, so dieses: "Wenn sich ein Kind von heute auf morgen verändert, wenn dieses Funkeln in den Augen, was man eigentlich bei Kindern und Jugendlichen im Idealfall hat, auf einmal weg ist." Und darum geht es so ein bisschen dieses komische Bauchgefühl zu sehen, also zu haben und dann ernst zu nehmen.
[00:11:39.820] - Nadia Kailouli
Und dass man wahrscheinlich erst mal überhaupt weiß… Also ich stelle mir das total schwer vor, wenn ich mir jetzt vorstelle: „Oh Gott, jetzt werde ich Lehrerin und jetzt muss ich darauf achten: "Oh Gott, oh Gott, oh Gott, habe ich was übersehen? Ist dies jetzt … Jetzt popelt der in der Nase. Das hat er sonst noch nie gemacht." Jetzt übertrieben gesagt: „Oh Gott, ist das jetzt schon ein Anzeichen? Man kann sich ja da auch total in seiner Verantwortung fertig machen und sich selbst irgendwie so unter Druck setzen. Wie geht man dann damit um? Weil man hat ja eigentlich den Job, etwas beizubringen, Lehrer zu sein, Lehrerin zu sein und auf einmal muss ich so aufmerksam sein auf Veränderung. Ist das eine Drucksituation, die dann entstehen kann oder wie findet man da am besten den Weg?
[00:12:18.160] - Katja Sturm
Ich glaube, was wir erreichen wollen mit unseren Vorträgen, ist, dass die Studierenden wissen, wenn ich ein Bauchgefühl habe, dass ich mich mit anderen darüber austausche und sage: „Mir ist da was aufgefallen. Ist dir das ist auch schon aufgefallen? Was könnten wir als Nächstes tun?" Also diese Angst wegzunehmen. Und zum anderen, was wir viel erleben, ist, dass Lehramtstudierende, aber auch später Lehrer: innen auch dazu neigen, schnell ins Elterngespräch zu gehen. Und wir möchten ermutigen, auch da zu sein für junge Menschen, also das Gespräch anzubieten, Kindern und Jugendlichen zu sagen: „Pass auf, ich bin da. Wenn du mit mir sprechen willst, komm auf mich zu. Ich nehme dich ernst und ich höre dir zu." Also darum geht es in erster Linie, auch die jungen Menschen im Blick zu haben, bevor man ins Elterngespräch geht und sich auszutauschen mit anderen. Und wenn das nicht gelingt im Kontext Schule, dass Studierende auch wissen: "Wo kann ich mich denn an der Uni hinwenden, wenn ich ein Bauchgefühl habe, aber mich hört niemand an der Schule?" Also dort weisen wir auch immer darauf hin: Schaut bitte, wenn ihr ins Referendariat geht, gibt es ein Schutzkonzept an der Schule? Wer ist eure Ansprechperson? Und wenn es das nicht gibt, wer ist das bei euch in der Uni? Und werdet ihr langfristig vielleicht auch ein Schutzkonzept an eurer Uni oder eurer Hochschule haben?
[00:13:25.470] - Noah Dejanovic
Und was ich auch verstehen kann, was du gerade angedeutet hast, diese Angst davor, dann falsch zu reagieren oder bei jeder Kleinigkeit zu reagieren. Und ich glaube, genau das ist der Punkt, dass wir auch sagen, ihr müsst euch nicht da alleine darum kümmern. Erstens könnt ihr, wie Katja gerade gesagt hat, Kolleg:innen fragen und dann gleicht man ab: "Erlebst du dieses Kind ähnlich in deinem Unterricht? Sollt wir dem wirklich nachgehen?" Und dass die auch wissen, wann sie es abgeben können. Also ganz oft erleben wir, dass die dann sagen: „Oh nein, aber…" Also wir hatten auch schon die Frage bekommen: „Aber woher weiß ich denn, ob das jetzt für das Kind langfristig gut ist, wenn das jetzt ins Kinderheim kommt oder nicht, wenn es von den Eltern rausgenommen wird?" Und dann sagen wir auch: Das ist nicht eure Aufgabe. Also auch dann zu sagen: Bis dahin müsst ihr es wahrnehmen und dann gebt ihr es an jemanden ab, der vielleicht Ahnung hat. Und das nimmt, glaube ich, so ein bisschen Druck und Erwartungen. Man muss sich nicht allein darum kümmern und es gibt Leute, die da viel mehr Ahnung haben. Man muss nur diese Anzeichen wahrnehmen.
[00:14:13.730] - Nadia Kailouli
Wie funktioniert denn dann die Zusammenarbeit konkret mit den Schulen? Das eine ist ja okay, an der Universität zu sagen: „Wir kommen als du und wir wollen euch darüber aufklären und sensibilisieren, welche Möglichkeiten gibt es. Ihr solltet aufmerksam sein. Es gibt Anlaufstellen, an die ihr euch dann wenden könnt." Aber wie gehen die Schulen damit um? Zum Beispiel Schulen, die sagen: „Bei uns doch nicht. Wir sind so eine. Jeder kennt uns." Dann ist die Direktorin oder der Direktor schon ein alter Stuhl, sage ich mal, und sagt: „Nein, sorry. Das ist hier noch nie passiert. Da kommt jetzt hier nicht so ein junger Student aus Leipzig und will hier die Welt verändern. Wir sind ganz gut klargekommen bisher." Also wie geht man damit wenn man auf verschlossenen Türen kommt und man eine konservative Schule hat, die strikt den Lehrplan einfach durch ziehen möchte und sagt: "Alles andere, was zu Hause stattfindet, geht uns ja jetzt erst mal auch nichts an."
[00:15:05.570] - Katja Sturm
Also zum einen haben ja Schulen auch einen Auftrag, nach dem sie arbeiten müssen, wenn sie eine Vermutung haben, dass es eine Kindeswohlgefährdung gibt oder sie Anzeichen sehen. Und zum anderen arbeiten wir in erster Linie mit Einrichtungen, also wenn es um Schulen geht, die Interesse haben und was verändern wollen. Und angenommen, ein Student oder eine Studentin gehen ins Referendariat und stoßen genau auf so eine Schulleitung, die sagt: „Bei uns ist eigentlich alles in Ordnung. Bei uns war das noch nie der Fall." Und: „Ja, sie lernen da irgendwas an der Uni. So ist das hier nicht", dass die an der Universität eine Ansprechperson haben und sagen: „Mir ist das aufgefallen und ich komme hier nicht weiter", sodass die Universitäten handeln können und müssen, wenn Studierende kommen und Anzeichen schildern.
[00:15:43.360] - Nadia Kailouli
Hast du davor Angst, Noah, dass du irgendwann an Schulen kommst, wo du als Lehrer dann das, was gelernt hast und aus eigener Erfahrung auch mitbringst, gar nicht wirklich anwenden kannst?
[00:15:57.040] - Noah Dejanovic
Nicht wirklich. Also ich bin dann eher optimistisch und hoffe einfach darauf, dass man mindestens ein paar Kolleginnen hat, die dann irgendwie ähnlich motiviert sind und die einen unterstützen und unter die Arme greifen.
[00:16:08.670] - Nadia Kailouli
Jetzt sind wir, ich denke, immer noch in der Situation, wo wir Lehrermangel haben, wo Schulen teilweise überfordert sind, zu viele Kinder, zu wenig Lehrpersonal, zu wenig Geld. Wie bringt man dann dieses Thema, dieses wichtige Thema, da noch unter? Was ist da der beste Weg? Bei all den Sorgen und Problemen, die viele Schulen ja jetzt schon haben.
[00:16:29.580] - Noah Dejanovic
Also ich glaube, das sind einmal individuelle Hilfestellungen, dann für die Studierenden, Lehrpersonen das, was wir versuchen zu vermitteln: „Wie kann ich konkret damit umgehen?" Aber wir sagen auch immer, dass Kinderschutz eigentlich auch strukturell und politisch gedacht werden muss. Und da muss man dann auch einfach ehrlich sagen, in der Klasse von 30 Kindern ist es für eine einzelne Lehrperson unglaublich schwierig, die kleinste Verhaltensveränderung zu sehen. Und dann gibt es auch, muss ich ehrlich sagen, einfach individuelle Grenzen. Man kommt dann auch nicht weiter. Also das ist dann auch verständlich, wenn manche Menschen an einem Punkt resignieren, wo ich mir dann aber hoffen würde, dass man irgendwie strukturell schaut, woran liegt das denn jetzt? Zum Beispiel daran, dass wir zu wenig Schulsozialarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen, zu wenig Lehrpersonal haben, dass einfach zu wenig Geld in Bildung und Soziales irgendwie gesteckt wird. Und das finde ich, ist dann, glaube ich, einfach wichtig, so ehrlich und transparent zu kommunizieren. Dann sind halt Grenzen durch strukturelle Probleme irgendwie gesetzt.
[00:17:22.110] - Katja Sturm
Also ich wollte dazu noch sagen: Zum einen, wenn wir in die Veranstaltung an den Universitäten gehen, ist das ein freiwilliges Angebot. Und wenn ich sehe, wie viel Studierende da hinkommen, 500 das letzte Mal an der Uni Leipzig, dann sehe ich auch, wie viel Interesse da ist bei den jungen Menschen und das ist meine große Hoffnung. Wenn die irgendwann Lehrer und Lehrerin sind, dass die sozusagen ihr Wissen mit einbringen. Und letztendlich, wenn ich weiß, ich bin nicht allein, sondern ich habe Kolleg:innen, die das auch sehen und ich kann meine Sorgen oder mein Bauchgefühl teilen, dann ist mir vielleicht am Ende besser geholfen, als wenn ich sage: "Ich habe meine Klasse mit 30 Schüler: innen und muss alleine da durch." Also dass man quasi im Team arbeitet und dadurch der Druck genommen wird. Und ich kann mir vorstellen, dass das es nicht einfach ist, wenn ich eine Vermutung habe, aber das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein, das könnte mir helfen, dort besser durchzukommen.
[00:18:06.200] - Nadia Kailouli
Und dass man dieses Gefühl auch aussprechen darf und dass es nicht einfach so ist, so: „Ja gut, vielleicht täusche ich mich auch weiter nach Lehrplan und Ciao", sondern…
[00:18:14.760] - Katja Sturm
Genau. Und zum anderen vielleicht auch einfach mal sagen zu können: „Das Kind, das war mir heute wirklich zu viel. Also ich kam an meine Grenzen." Und eine andere Person sagt mir: „Ja, aber es lag möglicherweise gar nicht an dir. Vielleicht hat das Verhalten uns etwas gesagt, nachdem wir jetzt schauen müssen, wie wir handeln müssen."
[00:18:32.550] - Nadia Kailouli
Noah, hätte man das bei dir erkennen können, als Kind?
[00:18:36.420] - Noah Dejanovic
Auf jeden Fall. Also was heißt auf jeden Fall? Ich kann ja auch nur auf meine subjektiven Erinnerungen zurückgreifen, die jetzt nicht irgendwie eine objektive Schilderungen sind. Aber so wie ich mich an die Zeit erinnern kann, war ich oft zum Beispiel in so einer Art dissoziativen Trance-Zustand, also oft sehr, sehr abwesend. Ich wollte auch nicht nach Hause, weil ich wusste, zu Hause erwartet mich Gefahr und die Schule ist für mich wenigstens einen sicheren Rahmen, in dem ich zumindest mal für ein paar Stunden Ruhe habe. Dementsprechend bin ich auch oft länger in der Schule geblieben, habe irgendwie das Gespräch mit Lehrpersonen gesucht. Und das sind Punkte, wo ich mir denke, das hätte man merken können, da hätte man mich drauf ansprechen können. Und vor allem hätte ich mir gewünscht… Also ich glaube, das kann man sich oft nicht vorstellen, wie schwierig das für ein betroffenes Kind ist, sich zu öffnen. Vor allem bei mir war das ja der Fall: Die Täterin war meine eigene Mutter, also eine Person, von der ich emotional, finanziell insgesamt auf jeder Ebene abhängig bin und die ich auch liebe, also mit der ich auch positive Erinnerungen und Gefühle verbinde. Und gegenüber meiner Mutter hätte sich das wie Verrat angefühlt, in der Schule irgendwie zu teilen, dass zu Hause Dinge passieren, die mir nicht guttun. Das habe ich ja trotzdem irgendwie gemerkt. Und da hätte es mir schon geholfen, diese Hürde zu senken, wenn erwachsene Personen auf mich zugekommen wären und gefragt hätten, weil von mir aus hatte ich die Kraft nicht. Und ich hatte dann das Glück, dass ich meinen Vater hatte, der schon seit Jahren getrennt von meiner Mutter war, wo ich dann ein normales Leben gesehen habe und zu dem ich alle zwei Wochen Umgang hatte. Das hat mich gerettet, weil ich dann an einem Umgangswochenende bei meinem Vater gesagt habe: "Ich möchte nicht mehr zurück zu meiner Mutter." Dann sind wir zur Polizei und zum Gericht. Und da denke ich mir aber: Was machen denn Kinder und Jugendliche, die keine Person haben, die sich sie kümmert und die sie daraus einfach rettet? Und da müssen Lehrpersonen dann diese Person sein.
[00:20:12.750] - Nadia Kailouli
Warum glaubst du, ist es so wichtig, dass Lehrpersonen dann diese Person sein können?
[00:20:19.390] - Noah Dejanovic
Weil der Staat durch die Schule eigentlich fast alle Kinder und Jugendlichen erreichen kann. Das ist ja der einzige Ort, an dem sie alle zusammenkommen.
[00:20:28.200] - Nadia Kailouli
Wo sie verpflichtend hin müssen.
[00:20:30.260] - Noah Dejanovic
Und wo irgendwie Menschen mit Kindern arbeiten, die eigentlich dahingehende Expertise haben sollten. Und ja, Kinder verbringen den Großteil ihrer Zeit in der Schule, haben den Großteil ihres sozialen Umfeldes dort. Deswegen.
[00:20:43.690] - Nadia Kailouli
Da liegt eine ganz schöne Verantwortung dann auf dir auch als zukünftiger Lehrer. Warum, glaubt ihr, ist da so ein großes Interesse? Also wenn du jetzt zum Beispiel sagst, bei der letzten Veranstaltung waren 500 Studentinnen und Studenten, die da Interesse gezeigt haben.
[00:21:00.970] - Noah Dejanovic
Und nicht nur Studierende, sondern auch Dozierende. Es waren Lehrer:innen da, die gar nichts mit der Universität zu tun haben. Es waren Professor:innen da, die selbst keine Ahnung von dem Thema hatten und die sich weiterbilden wollten. Es gab sogar einen Professor, der hat seine Vorlesung abgesagt. Er hat gesagt: „Meine lieben 150 Studierenden, geht lieber zu der Veranstaltung."
[00:21:16.830] - Nadia Kailouli
Wahnsinn. Warum habt ihr das geschafft? Ich meine, wir haben lange unter dem Kontext gelebt: Sexualisierte Gewalt, Übergriffe, Kindesmissbrauch. Das ist voll tabu, das kehren wir hier unter den Tisch. Gerade auch soziale Einrichtungen, Kindergärten und und und. Wenn da was ans Licht gekommen ist, dann wollte man da eigentlich gar nicht drüber sprechen und die Lokalpresse bitte gar nicht darüber berichten und so. Und jetzt auf einmal füllt ihr so Hörsäle mit diesem Thema. Ist das ein Kulturwandel oder wie würdet ihr das beschreiben?
[00:21:47.320] - Noah Dejanovic
Also ich glaube, da sind genau die Dinge, die du gerade aufgezählt hast, die, auf denen wir aufbauen. Also dadurch, dass diese ganzen vor allenm in der Kirche, dieser Missbrauchsskandal und so, hat das Thema einfach, glaube ich, eine gewisse Enttabuisierung erlebt und auch durch einfach einen Fortschreiten in der Gesellschaft, dass wir auch mehr über Sexualität, über Aufklärung reden. Ich glaube, das ist die Grundlage, auf der wir gerade irgendwie aufbauen können und Studierende schon mal das Wort gehört haben und ein Interesse dafür haben.
[00:22:10.730] - Katja Sturm
Ja, und ich glaube auch, dass Studierende wissen wollen: „Was mache ich jetzt damit? Also wie gehe ich denn jetzt wirklich damit um?" Und ich kann mir gut vorstellen, dadurch, dass wir in diesem Duo auftreten und auch jemand dabei ist, der selber studiert, dass so ein Stück die Hürde abbaut, zu sagen: „Oh Gott, kann ich jetzt überhaupt nachfragen? Was kann ich tun?" Und Noah in seiner Rolle spricht ja auch als betroffene Person und kann möglicherweise auch eine Antwort geben, was ihm geholfen hätte. Und ich glaube, dass darauf gut aufgebaut werden kann. „Okay, also ich kann ein Kind fragen: 'Geht’s dir gut?' Ich kann dem Kind sagen: 'Du kannst zu mir kommen, wenn was ist. Du musst nicht zu mir kommen. Du kannst auch woanders hingehen.'" Also diese Angst zu nehmen, ich mache was kaputt, wenn ich meinem Kind oder einem Kind anbiete: „Du kannst zu mir kommen." Und ich glaube, das hat ganz viel gemacht.
[00:22:56.220] - Noah Dejanovic
Und ich glaube, was auch ganz wichtig für diesen Erfolg ist, sind Netzwerke. Also ich habe ganz, ganz viel Unterstützung von Kommiliton:innen bekommen, auch von Leuten vom Studierendenrat. Also dann das studentische Engagement, die dann mit uns zusammen Insta-Beiträge gemacht haben, das geteilt haben, dann in die Vorlesung reingehen, Dozierende darum bitten, dass man dafür werben kann. Also da kamen ganz viele Leute her, dass wir einfach sehr viel Energie in die Werbung reingesteckt haben.
[00:23:15.990] - Nadia Kailouli
Und glaubt ihr oder du Katja ja jetzt vom Kinderschutzbund - Ja, wenn man hört Kinderschutzbund, dann weiß man, ist wichtig, aber man weiß auch, kann auch ein bisschen trocken sein. Da ist dann so eine behördliche Geschichte, die kommt jetzt und hat da ihren Theorieplan, sage ich jetzt mal überspitzt. Glaubst du, diese Kombi aus Kinderschutzbund und einem Popstar-Studenten – so nenne ich dich jetzt mal, ich sage dir gleich auch, warum, dass das am Ende ist, wo man sagt: Ja genau, so funktioniert es. Wir bringen den Inhalt, aber wir brauchen auch eine Figur, die weiß, worüber wir reden, aber die das auch transportieren kann und auf Augenhöhe die jungen Leute erreichen kann?
[00:23:50.890] - Katja Sturm
Auf jeden Fall. Also ich gehe davon aus, dass genau das Konzept so funktioniert, dass niemand kommt, der irgendwie vom Kinderschutzbund was Theorisches daher erzählt, sondern dass wir uns gut ergänzen mit dem, was ist die Theorie, was ist die Praxis und was können sich die Studierenden daraus mitnehmen.
[00:24:06.920] - Nadia Kailouli
Und jetzt beglückwünsche ich nämlich Noah, denn du wurdest vom Deutschen Hochschulverband zum Studenten des Jahres gekühlt. Das ist ja schon mal eine Auszeichnung. Wie hast du reagiert, als das an dich herangetreten worden ist?
[00:24:21.190] - Noah Dejanovic
Also ich habe es erst nicht glauben können. Und das Lustige war in dem Betreff der Mail, stand: „Kein Scherz, kein Spam. Sie sind Student des Jahres 2025." Ja, ich war unglaublich glücklich, also es fühlt sich einfach gut an, diese Anerkennung und Wertschätzung für etwas zu bekommen, wo ich sehr, sehr, sehr viel Herzblut und sehr, sehr, sehr viel Zeit ehrenamtlich reingesteckt habe. Und ich habe dann einfach in dem Moment schon gemerkt und mir gedacht: Das Tolle, was damit jetzt einhergeht, ist vor allem die mediale Aufmerksamkeit. Also dass jetzt Anfragen kommen werden von Leuten, die darüber schreiben möchten und dass ich das Thema und unser Projekt platzieren und teilen kann. Und das fühlt sich sehr, sehr gut an und es gibt was zurück von dem, was ich reinstecke, weil es auch emotional sehr, sehr aufreibend ist. Also ich werde auch manchmal gefragt, ob das für mich irgendwie einen therapeutischen Nutzen hat, dass ich mich besser damit auseinandersetzen kann: Nein, das reißt mehr auf, als dass es guttut, aber da tut so eine Aufmerksamkeit für das Thema und vor allem diese Selbstwirksamkeit, ich kann was damit bewegen und verändern, tut das sehr gut.
[00:25:17.140] - Nadia Kailouli
Trotzdem muss ich da jetzt natürlich noch mal nachhaken. Wenn du sagst, das ist natürlich sehr aufreibend und manchmal auch natürlich schmerzhaft. Wie findest du da denn dann deinen Weg? Weil man möchte dich ja als Student, als junger Mensch, der sich engagiert, aber der gleichzeitig natürlich Missbrauchserfahrung gemacht hat, nicht verbrennen in dem Sinne, sondern wir brauchen dich ja an den Schulen, wenn du dann fertig bist. Also wie schützt du dich selbst davor, das alles gut zu verarbeiten?
[00:25:41.300] - Noah Dejanovic
Ganz wichtig: Therapie. Ich habe, nachdem ich von meiner Mutter weg bin, drei Jahre Traumatherapie gemacht, weil ich litt auch ganz lange unter Panikattacken und Suizidgedanken, Albträumen. Ich bin auch aktuell noch in Therapie. Also das kann ich auch allen Betroffenen nur ans Herz legen. Mir zumindest hilft das unglaublich, damit umzugehen. Und gute Freundinnen, ein sicheres Umfeld, die auf mich schauen und dann mal sagen: „Hey, Noah, lehn das doch mal vielleicht ab. Mach doch mal einen Abend entspannt", diese Mischung.
[00:26:04.770] - Nadia Kailouli
Ja, das ist, glaube ich, auch ein ganz guter Tipp. Ich habe das auch öfter erlebt, dass dann Menschen, die betroffen sind und aus dieser Betroffenheit und das Engagement, was sie dann haben, heraus so eine Art Hype erlebt haben, dass man dann gar nicht mehr losgekommen ist und man sich dann gedacht hat, vielleicht ist jetzt weniger mehr, mal zurücknehmen. Aber ich denke, da hast du mit Katja wahrscheinlich auch jemanden an der Seite, der da auch ein gutes Auge drauf hat. Was ist euer Ziel? Was möchtet ihr langfristig erreichen, gemeinsam?
[00:26:35.040] - Noah Dejanovic
Das ganz große Ziel wäre, dass das Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung verpflichtend in der Lehramtsausbildung an den Universitäten verankert wird. Also es muss nicht mal ein Modul sein. Ich wird das ist dann auch vielleicht ein bisschen viel, weil es stimmt, die anderen Themen sind auch wichtig. Und Lehrperson zu werden, das deckt so viele Dinge ab, die man irgendwie lernen muss, aber dass es mindestens zwei, drei Veranstaltungen im Studium gibt, wo man hin muss, wo man etwas darüber lernt, und dass die Universitäten selbst Schutzkonzepte erarbeiten, dass es eine Person gibt, weil Studierende sind ja schon mit Schüler:innen in Kontakt, es gibt Praktika. Bei uns an der Uni Leipzig, es gibt fünf Praktika über das ganze Studium, über die fünf Jahre verteilt, in denen man in Klassen landet und wo wir auch schon Berichte von Studierenden gehört haben: „Da war ein Kind, das hat eigentlich in der Klasse davon erzählt, dass es zu Hause irgendwie Gewalt erfährt." Und dass es dann eine Person an der Uni gibt, an die man sich wenden kann und die dann weitere Schritte einleiten kann.
[00:27:22.590] - Katja Sturm
Und uns geht es tatsächlich nicht darum, dass das rechtlich verankert ist, also was ist Kindeswohl gesetzlich? Sondern es geht uns wirklich darum: Wie gehe ich denn mit Kindern und Jugendlichen um, wenn ich das Gefühl habe, denen geht es nicht gut? Also wirklich in die Praxis rein und Handlungssicherheit schaffen für Studierende. Das ist uns wichtig.
[00:27:40.950] - Nadia Kailouli
Jetzt haben wir natürlich, ich weiß gar nicht, wie viele Universitäten, wo man auf Lehramt studieren kann. Nun kann man euch ja nicht überall hinschicken. Oder ist das euer Ziel? Weil eure Kapazitäten sind ja auch beschränkt. Du kommst aus Dresden, du aus Leipzig. Wie wollt ihr denn ganz Deutschland damit erreichen?
[00:27:57.570] - Noah Dejanovic
Das Schöne ist ja, dass wir auf keinen Fall allein sind bei Thema. Es gibt ja auch zum Beispiel eine Professur in Frankfurt, von der Professorin Nordstern, glaube ich, die sich auch sehr, sehr viel für dieses Thema einsetzt. Man ist ja nicht allein. Wir haben schon die Hoffnung, dass jetzt noch Universitäten sich bei uns melden und irgendwie bei Kinderschutz im Studium irgendwie anfragen, „Könntet ihr euch vorstellen, mit eurem Vortrag zu uns zu kommen?" Weil es spart ja auch Mittel für alle. Also das ist ja das Ding, die Dozierenden haben ja oft selbst nicht das Wissen dazu. Und das ist ja zehnmal einfacher, wenn man zwei Leute einlädt, die davon Ahnung haben und das schon ein paar Mal gemacht haben, als wenn man jetzt ein komplettes Konzept und einen kompletten Kurs aufsetzt. Aber ich denke mal, indem wir Impulse setzen, trägt sich das dann auch weiter. Also wir haben dann auch gehört, wenn wir einen Vortrag irgendwo gehalten haben, haben sich dann Leute vertieft und vermehrt mit diesem Thema auseinandergesetzt haben und das dann selbst in der Institution übernehmen, also uns würde das reichen Impulse zu setzen.
[00:28:45.000] - Katja Sturm
Genau. Oder Multiplikatoren auszubilden, die quasi entweder in unseren Veranstaltungen sitzen oder vielleicht, wenn wir perspektivisch schauen, vielleicht auch Multiplikator:innen ausbilden, die dann an Universitäten weiter dieses Thema tragen.
[00:28:57.240] - Nadia Kailouli
Und dazu muss man sagen, der Kinderschutzbund ist natürlich auch deutschlandweit vertreten und dann ist das wahrscheinlich auch ein Appell an deine Kolleginnen und Kollegen, die dann irgendwie gemeinsam mit den Universitäten deutschlandweit da zusammenarbeiten, so wie ihr beide das tut. Ich danke euch recht herzlich für euer Engagement, gemeinsam, und dass ihr uns diesen Einblick gegeben habt und vor allem für den Appell, dass die Universitäten, wo man auf Lehramt studieren kann, sich doch gerne mal mit euch auseinandersetzen. Vielen, vielen Dank.
[00:29:23.170] - Noah Dejanovic
Danke dir.
[00:29:23.800] - Katja Sturm
Vielen Dank. Danke.
[00:29:28.030] - Nadia Kailouli
Ja, das ist doch mal wirklich eine gelungene Kombi. Noah, der Lehramtstudent, plus Katja vom Kinderschutzbund, die zusammen an Universitäten dafür sensibilisieren, aufklären und überhaupt aufmerksam machen, dass wir an Schulen, wenn man Lehrer oder Lehrerin ist, durchaus aufmerksam sein sollte und das auch kann und Anlaufstellen findet, wo man dann mit diesem Thema hingeht, wenn es Kindern in der Schule nicht gut geht. Also ich finde das Konzept super und wenn ihr an einer Uni arbeitet, wo man auf Lehramt studieren kann, dann meldet euch doch bei Katja und Noah. Die freuen sich sicherlich, bei euch auch mal vorbeizukommen.
[00:30:06.650] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info. Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an: einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Gerade erst wurde er vom deutschen Hochschulverband zum „Student des Jahres” gewählt, eine Wahnsinns-Auszeichnung. Und das für eine Sache, von der immer noch nicht allzu viele Leute etwas wissen wollen: Noah Dejanovic klärt bei großen Veranstaltungen an Unis über das Thema sexuelle Gewalt auf. Noah weiß, wovon er spricht, er wurde bis er 11 war von seiner Mutter missbraucht. Das erzählt er bei den Veranstaltungen, denn Noah möchte, dass seine Mitstudierenden später als Lehrkraft bei ihren Schüler:innen Anzeichen von Missbrauch erkennen und wissen, was zu tun ist. Er hatte diese Unterstützung nicht, das will er gemeinsam mit Katja Sturm vom Kinderschutzbund ändern. Und das kommt gut an – bei der ersten Veranstaltung im letzten Jahr kamen gleich 400 Studierende, gerade erst haben Noah und Katja wieder eine Veranstaltung gemacht, wieder mit großem Erfolg.
Wenn Kinder sexualisierte Gewalt erleben, trauen sie sich oft nicht, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Gerade deshalb müssen Fachkräfte, die in ihrem Job mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, entsprechend ausgebildet und sensibilisiert werden. Aber in den Ausbildungen und entsprechenden Studiengängen fehlt das Thema häufig. Seminare und Kurse, die sich mit sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen beschäftigen, sind beispielsweise im Lehramtsstudium nicht verpflichtend und dass, obwohl wir wissen, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse, statistisch gesehen, sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Lehrkräfte müssen Anzeichen erkennen und wissen, wie sie im Ernstfall handeln können. Und genau darum geht es Noah Dejanovic und Katja Sturm.
Wie sie es schaffen, dass sich Menschen für ein schwieriges Thema interessieren, erzählen die beiden bei einbiszwei.

LINKSAMMLUNG:
Noah hat an der Kampagne #NichtWegschieben der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung mitgewirkt, in Instagram-Reels hat er seine Geschichte und von den Uni-Veranstaltungen erzählt:
Instagram @missbrauchsbeauftragte | Reel Noah 1
Instagram @missbrauchsbeauftragte | Reel Noah 2
Deutschlandfunk-Beitrag über die Uni-Vorträge mit Noah und Katja
Hinschauen lernen: Lehrkräfte für Kinder sensibilisieren, die Hilfe brauchen (12/2024)
Beitrag zu Noahs und Katjas Vortrag an der Uni Leipzig
Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung (06/2024)
Fachportal für Schutzkonzepte an Schulen
Schule gegen sexuelle Gewalt
Artikel beim idw – Informationsdienst Wissenschaft
Lehrer und Studierende für mehr sexuelle Bildung im Lehramtsstudium (2019)
Forschungsprojekt Sexuelle Bildung für das Lehramt – Lehrkräfte in der Aus- und Fortbildung
Studie: SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt
Online-Fortbildung für Lehrende zum Schutz von Schüler:innen vor sexuellem Missbrauch
Was ist los mit Jaron?
