Interviews über persönliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt können eine große emotionale Herausforderung sein. Bevor Sie einem Interview zustimmen, sollten Sie sich bewusst machen, dass der gesamte Prozess bis zur Veröffentlichung mit einem gewissen Vertrauen gegenüber der Arbeit von Journalist:innen einhergeht. Gerade deshalb ist es hilfreich, wenn Sie im Vorfeld bewusst darüber entscheiden, welche Anfrage Sie zusagen – und welche nicht.
I. Vor der Interviewzusage
1. Machen Sie sich ein Bild davon, wie das Interview ablaufen wird.
Interview ist nicht gleich Interview. Je nach Mediengattung und Informationsgewinnungsziel kann eine Gesprächssituation mit mehr oder weniger Anspannung verbunden sein. Klären Sie sehr konkret, was beim Interview geschehen wird: „Wie muss ich mir das vorstellen?“ Der Ablauf kann bei Printmedien zum Beispiel vom Erscheinungszyklus abhängen. Tageszeitungs-Journalist:innen haben oft weniger Vorlauf- und Vorbereitungszeit für ihre Texte, als Journalist:innen, die für Wochenzeitungen oder Magazine arbeiten. Bei Video- und Audio-Interviews (TV, Radio, Podcast, Online, Social Media) können Kameras oder Aufnahmegerät für Aufregung sorgen. Dabei lässt sich zusätzlich unterscheiden, ob es eine Liveausstrahlung oder ein aufgezeichnetes Gespräch ist. Je genauer Ihre Vorstellung von der Gesprächssituation ist, umso klarer können Sie entscheiden, ob Sie das Interview geben möchten.
2. Zusätzlich spielt die Intention des Interviews eine Rolle.
Manche Gespräche mit Journalist:innen sollen gar nicht veröffentlicht werden, sondern nur Hintergrundwissen erweitern. In manchen Interviews treten Sie wiederum als Expert:innen auf, während Sie in anderen Interviews Ihre ganz persönliche Geschichte erzählen sollen. Alle diese Aspekte werden im optimalen Fall schon bei der ersten Kontaktaufnahme geklärt – falls nicht, versuchen Sie so viel wie möglich vorab zu besprechen.
„Wer über seine persönliche Geschichte und die erlittene sexualisierte Gewalt öffentlich spricht, darf ein einfühlsames Vorgehen und grundlegendes Wissen zum Thema von Medienvertreter:innen erwarten. Die Aufklärung über diese alltäglichen Verbrechen darf nicht auf Kosten der Betroffenen gehen. Aus diesem Grund war es dem Betroffenenrat ein wichtiges Anliegen, in die vorliegenden Tipps seine eigenen Erfahrungen mit einfließen zu lassen.“
3. Informieren Sie sich, wer mit Ihnen sprechen möchte.
Es ist ratsam, sich im Vorfeld genau anzusehen, von welchem Medium die Anfrage kommt und sich dann zu fragen: Wie sensibel wurde dort in der Vergangenheit über sexuelle Gewalt berichtet? Gibt es im eigenen Umfeld Erfahrungswerte mit dem entsprechenden Medienhaus, mit dem Zeitungsverlag oder dem Sender? Wie ist das eigene Bauchgefühl beim Gedanken an das Gespräch? Zwar kann nie pauschal vorhergesagt werden, wie ein Interview mit einem Medium ablaufen wird – jedoch ist es ratsam, eine Zusage zu überdenken, wenn Sie sich von vornherein beim Gedanken an das Interview nicht gut fühlen. Letztlich gilt: Sie sind nicht dazu verpflichtet, Interviews über Ihre persönliche Geschichte zu. geben.
II. Vor dem Interview
Wenn Sie mit dem Interview einverstanden sind, können Sie im Vorgespräch noch einige Aspekte besprechen, die die Situation für Sie angenehmer und sicherer gestalten können.
4. Klären Sie die Rahmenbedingungen.
Vielen Betroffenen hilft es, wenn sie im Vorfeld über das Setting des Interviews entscheiden können. Wo findet das Gespräch statt? Kann ich eine Begleitperson mitnehmen? Wie lange wird es ungefähr dauern? Welche Themenfelder werden angesprochen? Welche Themen möchte ich selbst setzen? So kann verhindert werden, dass Sie sich an Orte begeben, die Sie triggern oder Fragen beantworten sollen, die Sie zu stark aufwühlen.
5. Fragen Sie nach den Fragen.
Die meisten Journalist:innen kommen gut vorbereitet zum Interview und haben sich überlegt, was sie von Ihnen wissen möchten. Besprechen Sie im Vorfeld, in welche Richtung die Fragen gehen sollen. Nutzen Sie dieses Gespräch auch, um Grenzen zu ziehen. Wenn es für Sie gewisse „No-Go-Fragen“ gibt, sollten Journalist:innen das im Vorfeld wissen. Das hilft Journalist:innen bei der Vorbereitung und vermeidet, dass Sie im Interview Fragen ausgesetzt sind, die Sie möglicherweise aufwühlen.
6. Es ist sinnvoll, vorab über Framing zu sprechen.
Gibt es bestimmte Begriffe, die veraltet oder problematisch sind? Wie gehen Journalist:innen beispielsweise mit dem Begriff „Opfer“ um? Welche Formulierungen können stattdessen verwendet werden? Framing kann auch optisch geschehen: Klären Sie bei TV-Interviews im Vorfeld, dass Sie auf Augenhöhe gefilmt und nicht von oben in der klein wirkenden Opferperspektive dargestellt werden. Besprechen Sie, welche Aufnahmen möglicherweise außerhalb des Interviews gemacht werden sollen – möchten Journalist:innen, dass Sie an Kindergärten vorbeilaufen oder auf Spielplätzen sind? Für Journalist:innen kann es sehr hilfreich sein, wenn solche Aspekte im Vorfeld angesprochen werden.
7. Überlegen Sie sich, was Sie aussagen möchten.
Wenn Sie das Interview für klare Forderungen oder Vorschläge nutzen möchten, überlegen Sie vorher, wie Sie sich positionieren möchten: Was ist Ihre Botschaft? An wen ist sie gerichtet? Überlegen Sie sich genau, was Sie sagen wollen. Konzentrieren Sie sich auf wenige Kernaussagen. Wenn möglich, belegen Sie diese durch Beispiele aus der Praxis oder überprüfbare Fakten.
III. Während des Interviews
8. Anspannung und Stress sind normal.
Interviewsituationen gehen oft mit einem gewissen Stresslevel und einer Anspannung einher. Wer nicht gerade tagtäglich vor einer Kamera sitzt, wird mit Sicherheit aufgeregt sein. Im optimalen Fall haben Sie schon im Vorfeld dafür gesorgt, dass das Gespräch in einem Setting stattfindet, in dem Sie sich wohl und sicher fühlen. Sorgen Sie auch dafür, dass Sie sich mit dem, was Sie anhaben, wohl fühlen. Auch eine Begleitperson Ihres Vertrauens kann unterstützend sein. Die Anstrengung und Aufregung kann auch durch vorheriges Üben mit einer vertrauten Person oder allein minimiert werden. Es hilft natürlich auch, vorher Gedanken und wichtige Stichpunkte aufzuschreiben.
9. Haben Sie keine Scheu, ein Interview zu unterbrechen oder vorzeitig zu beenden.
Sollten Sie während des Interviews dennoch merken, dass Sie sich unwohl fühlen oder möglicherweise einen Flashback erleben, fordern Sie eine Pause ein und nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Wenn Sie sich trotz einer Pause nicht mehr in der Lage fühlen, weitere Fragen zu beantworten, brechen Sie das Interview ab. Journalist:innen sollten auf solche Situationen vorbereitet sein und Ihre Entscheidung akzeptieren. Dabei kann es hilfreich sein, wenn Sie die interviewende Person im Vorfeld für mögliche Pausen oder die Option zum Abbruch sensibilisiert haben.
10. Sie müssen nicht druckreif sprechen.
Wer wenig Routine mit Interviewsituationen hat, kann sich aufgrund der Nervosität verhaspeln oder den Faden verlieren. Die Angst vor solchen Momenten ist jedoch unbegründet. Machen Sie ihr Gegenüber darauf aufmerksam und setzen Sie Ihren Gedanken einfach neu an. Ähnlich offen können Sie damit umgehen, wenn das Gespräch inhaltlich in eine falsche Richtung läuft, also wenn zum Beispiel vorherige Absprachen zu „No-Go“-Fragen oder dem Framing nicht eingehalten werden.
IV. Nach dem Interview
Journalist:innen sollten bei derart sensiblen Themen eine besondere Empathie an den Tag legen, jedoch sind sie auch zu journalistischer Distanz verpflichtet.
Daraus resultiert ein gewisses Spannungsfeld zwischen der Medienfreiheit und dem Schutz Ihrer Persönlichkeitsrech-te. Grundsätzlich können Persönlichkeitsrechte die Medienfreiheit einschränken, allerdings nur in bestimmten Fällen. Damit es erst gar nicht so weit kommt, dass Sie rechtliche Schritte einleiten müssen, gibt es einige Faustregeln, die Ihnen helfen, eine gewisse Kontrolle über das Gesagte zu behalten.
11. Interviews benötigen Ihre Zustimmung.
Wenn Sie diese erteilt haben, dürfen Journalist:innen grundsätzlich die Aussagen, die Sie während des Interviews machen, veröffentlichen. Es sei denn, Sie weisen explizit darauf hin, dass das nicht passieren soll. Das bedeutet: Überlegen Sie sich gut, wie Sie auf Interviewfragen eingehen und wie tief Sie ins Detail über persönliche Erfahrungen gehen möchten.
12. Print-Interviews werden Ihnen in der Regel vorab zur Autorisierung geschickt.
Im Printbereich sind Autorisierungen sehr üblich. Redaktionen ermöglichen bei Wortlautinterviews oder Artikeln, in denen Ihre Aussagen als Zitate in den Fließtext eingebaut werden (zum Beispiel: Reportagen), meist eine Autorisierung Damit auch der Zusammenhang klar wird, lassen Sie sich gegebenenfalls den ganzen Absatz, in dem Ihr Zitat steht, schicken oder am Telefon vorlesen. Eine Autorisierung eines vollständigen Artikels ist jedoch nicht die Regel. Bei Video- und Audio-Interviews sind solche Prozesse grundsätzlich möglich, in der Praxis finden sie allerdings selten statt. Es besteht bei allen Mediengattungen jedoch die Möglichkeit, dass Sie den Autorisierungsprozess im Vorfeld festlegen (eine mündliche Absprache genügt – empfohlen wird aber sicherheitshalber ein schriftliches Festhalten der Konditionen).
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie nach einem Interview Unterstützung und Hilfe brauchen, können Sie sich an das bundesweite Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (kostenfrei und anonym) wenden: 0800 – 22 55 530. Weitere Hilfe- und Unterstützungsangebote gibt es unter: www.hilfe-portal-missbrauch.de
Last, but not least
Dieser Artikel beschreibt potenzielle Negativ-Erfahrungen, die Sie im Umgang mit Medienanfragen machen können. Mögliche Fehltritte von Journalist:innen können oft aus Unwissen entstehen, weil betroffenensensible Berichterstattung nicht zum Standardkanon journalistischer Ausbildung zählt. Sie sind als Betroffene zwar nicht zur Aufklärung von Medienschaffenden verpflichtet, aber eine intensive Vorbereitung des Interviews wird nicht nur Ihnen helfen, die Situation besser abzuschätzen, sondern auch Journalist:innen dabei unterstützen, für die Bedürfnisse von Betroffenen sensibilisiert zu werden.
Letztlich gibt es auch viele Positiv-Beispiele, in denen Journalist:innen die nötige Sensibilität und Empathie für Betroffene von sexualisierter Gewalt mitbringen – und Betroffene wiederum auch sehr viel Kraft und Empowerment aus den Interviews und deren Veröffentlichung ziehen können.
Marianna Deinyan ist freie Radio- und Online-Journalistin aus Köln, sowie Radiomoderatorin beim WDR. Zu ihren Themen zählen Gesellschaft, Migration, (Pop-)Kultur und Constructive News. Durch ihr Bachelor- und Masterstudium hat sie zudem einen Fokus auf Traumasensible Berichterstattung.
Weitere Quellen:
https://dartcenter.org/content/reporting-on-sexual-violence
Coté, William/Simpson, Roger (Hrsg.): Covering Violence. A Guide to Ethical Reporting About Victims and Trauma. New York 2006 (2. Auflage).
Ochberg, Frank: A Primer on Covering Victims. In: Nieman Reports, 1996 (Jg. 50, Nr. 3), S. 21 – 26.