
Du hast das “Kummerbuch” entwickelt, damit Kinder mit Behinderungen sich bei sexueller Gewalt mitteilen können. Wie funktioniert das, Svenja Kerkeling?
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[00:00:01.890] - Svenja Kerkeling
Sie saß da, sie war sehr starr. Zwischenzeitlich hat sie leicht geweint, hat immer die Nähe der Lehrerin gesucht und sie kann eigentlich ganz gut reden. Also schon auch eine vereinfachte Sprache, aber sie kann sich mitteilen. Aber sie hat kein einziges Wort mehr gesagt, gar nicht. Und dann habe ich mich mit ihr da auf den Boden gesetzt und hatte "Das Kummerbuch" vor mir und habe sie erst mal nur blättern lassen. Aber sie hat dann mit diesem Buch mir gesagt, was an diesem Wochenende passiert ist. Und es war ein körperlicher Übergriff, der zu Hause stattgefunden.
[00:00:30.740] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:55.160] - Nadia Kailouli
Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden. Sie sind häufiger auf Hilfe und Pflege angewiesen und das macht sie besonders verletzlich. Denn Hilfsbedürftigkeit wird von Tätern und Täterinnen für sexuelle Übergriffe und Gewalt ausgenutzt. Svenja Kerkeling ist Förderschullehrerin, Kinderschutzfachkraft und berät andere Schulen bei der Erstellung von Schutzkonzepten. Als es an ihrer Schule einen Verdachtsfall gibt, das betroffene Mädchen aber nicht darüber sprechen kann, entwickelt Svenja über Nacht "Das Kummerbuch". Im Kummerbuch werden viele Fragen zu Kummer nach Gewalterfahrungen gestellt und mithilfe von Symbolen, auf die man zeigen kann, können dann die Kinder antworten. Das funktioniert so gut, dass es "Das Kummerbuch" mittlerweile überall gibt. Wie das genau funktioniert und was sonst noch im Buch drin steht. Das erzählt uns Svenja jetzt am besten selbst. Herzlich willkommen bei einbiszwei, Svenja Kerkeling. Schön, dass du da bist.
[00:01:51.720] - Svenja Kerkeling
Danke schön. Ich freue mich sehr, hier zu sein.
[00:01:53.800] - Nadia Kailouli
Svenja, du bist Förderschullehrerin, Kinderschutzfachkraft, Traumafachberaterin und Traumapädagogin. Meine Güte, das ist ganz schön viel. Ja, wie kommt das? Wie kommt das alles zusammen?
[00:02:07.320] - Svenja Kerkeling
Ja, das ist irgendwie so tatsächlich im Laufe der Zeit entstanden. Also ich bin im Hauptberuf Förderschullehrerin. Ich habe das studiert und war damit immer sehr zufrieden und das war eigentlich für mich auch klar, dass ich mit Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen eigentlich arbeiten möchte. Ich bin schon groß geworden im Heilpädagogischen Kindergarten. Meine Mutter hat da gearbeitet. Das sind Menschen, die mir unglaublich am Herzen liegen und für mich wahnsinnig wertvoll sind. Und ich habe im Studium dann tatsächlich den ersten Kontakt gehabt zur Sexualpädagogik, zur Sexualerziehung und zu dem Thema der sexualisierten Gewalt an Menschen mit Behinderung und habe halt irgendwie gemerkt, dass mich das sehr berührte und sehr mitnahm und bin dann auch mit der Professorin weiter in Kontakt geblieben und habe dann auch eine Arbeit dazu verfasst. Eine Prüfungsarbeit war es, genau. Und war dann mit ihr weiterhin in Kontakt und sie hat dann, als ich mein Referendariat angefangen habe, ihre Habilitation gemacht und es ging um ein Projekt an der Schule, an der ich ausgebildet wurde und hat mich gefragt, ob ich mitarbeiten würde. Ich habe halt gesagt, ich würde es total gerne machen und habe es dann auch im Rahmen meines Examens gemacht und habe an dieser Ausbildungsschule einen Interventionsplan entwickelt für diese Schule, wie man umgehen kann mit dem Fall, dass man sexualisierte Gewalt vermutet oder die Information davon bekommt von den betroffenen Personen oder über Dritte.
[00:03:29.950] - Nadia Kailouli
Warum müssen wir darüber reden, dass es dabei Unterschieden gibt, bei Kindern, die gesund sind und Kinder, die eine Behinderung haben? Warum muss man sich da im Pädagogischen und auch im Lehrer:innen Sinne so anders damit auseinandersetzen? Wo liegt da, ich will nicht sagen, ich weiß nicht, Schwierigkeit, Herausforderung?
[00:03:52.530] - Svenja Kerkeling
Ja, es ist eine Herausforderung. Es erfordert einfach eine sehr viel höhere Sensibilität, würde ich sagen. Also dass Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind, wissen wir. Da müssen wir jetzt auch gar nicht mehr drüber sprechen. Das steht nicht mehr zur Frage. Aber Kinder oder Jugendliche, die beeinträchtigt sind und Behinderungen haben, sind einfach – und das ist erwiesen – noch mal deutlich höher von sexualisierter Gewalt betroffen. Es gibt ganz unterschiedliche Zahlen aus Deutschland und es gibt auch aus den Nachbarländern verschiedene Zahlen und die unterscheiden sich immer so ein bisschen. Also da kann man ganz verschiedene irgendwie sagen. Dann sagen die einen: „Es ist so viel Prozent." Und die anderen sagen: „Es ist so viel Prozent." Was ich unterm Strich die wichtig finde, ist zu wissen: Es ist einfach mindestens doppelt so hoch. Das Risiko ist mindestens doppelt so hoch, dass Kinder, die beeinträchtigt sind, Kontakt haben mit sexuellen Übergriffen oder sexualisierter Gewalt. Gerade bei Frauen zum Beispiel, die Hörschädigung haben oder die körperliche Beeinträchtigungen haben oder Kommunikationsstörungen haben, sagt man, das gibt also Studien, da wird gesagt, dass schon jede zweite Frau sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit erlebt hat. Und das liegt begründet darin, dass diese Menschen eine Behinderung haben.
[00:05:08.770] - Nadia Kailouli
Und sich deswegen weniger wehren setzen, äußern können?
[00:05:12.490] - Svenja Kerkeling
Richtig. Genau. Also wenn man sich überlegt, dass sexualisierte Gewalt ein Gewaltakt ist. Es ist in allererster Linie ein Gewaltakt und man nutzt die Sexualität, um Gewalt auszuüben. Und wir wissen, dass es immer mit Machtstrukturen einhergeht. Kinder sind ja in in ganz prekären Machtverhältnissen. Und wenn man sich dann überlegt, dass dieses Kind, also dieses, sagen wir, nicht behinderte Kind, einem Erwachsenen kaum gegenüber treten kann in diesem Machtverhältnis und dieses Kind dann noch eine Beeinträchtigung hat und sich vielleicht sprachlich überhaupt nicht äußern kann, körperlich sich vielleicht gar nicht wehren kann, gar nicht mit anderen Menschen in Kontakt treten kann aufgrund einer Kommunikationsstörung, vielleicht aufgrund einer geistigen Einschränkung Ich mag das immer nicht so gerne sagen, aber es ist einfach so. Die Gedächtnisleistung oder der Gedächtnisspeicher einfach ein anderer ist. Da gibt es ganz, ganz viele Probleme für diese Menschen, überhaupt eine Möglichkeit zu haben, in irgendeiner Art und Weise sich mitzuteilen. Und je größer diese Machtstrukturen werden und je mehr Abhängigkeiten dazukommen, umso schwieriger wird es für die entsprechenden Kinder, sich überhaupt zu äußern. Und die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass sie in großer, großer Fremdbestimmung auch groß werden. Also es ist gar nicht so, dass es immer schlecht gemeint ist. Ich kenne sehr viele Eltern, die es wirklich sehr, sehr gut meinen und nur das Beste für ihr Kind wollen. Aber sie sind nach wie vor der Meinung, dass sie aufgrund der Behinderung des Kindes wissen, was das Beste für ihr Kind ist und dieses Kind unabsichtlich in ganz große Fremdbestimmungen hineinerziehen und die bei uns in die Schule kommen und teilweise nicht in der Lage sind – hatte ich tatsächlich –, teilweise nicht in der Lage sich im Kunstunterricht, eine Farbe auszusuchen, weil sie es nicht gewöhnt sind, dass sie selber etwas entscheiden, weil sie es nicht können, weil sie es gar nicht gelernt haben. Also es ist gar nicht so, dass immer was Böses dahinter steckt, sondern es ist wirklich so, dass noch auch so erzogen wird. Und es fehlt da an der Stelle natürlich noch auch ganz viel an Aufklärung: "Wie gehen wir überhaupt mit Kindern um?" Oder: "Hilfen an Eltern: Wie gehe ich mit dem Kind das hier eine Behinderung hat? Wie viel Selbstbestimmung kann ich dem Kind lassen?" Und dieses Mädchen damals in meinem Kunstunterricht, war nicht in der Lage, diese Farbe auszuwählen. Ich musste ihr also soweit helfen, dass ich ihr gesagt habe, welche Farbe ich wählen würde und wir sind lange ins Gespräch gegangen, bis sie irgendwann sehr unsicher mir eine Farbe genannt hat und ich ihr gesagt habe: „Du kannst die wählen. Das ist deine Farbe, wie du möchtest."
[00:07:46.630] - Nadia Kailouli
Ich finde, das ist ein sehr spannender Punkt. Ich erinnere mich gerade an ein Gespräch mit Ulli Freund, die wir hier öfter zu Gast haben und Fragen beantwortet von Eltern, wie sie mit ihren Kindern rund um das Thema sexualisierte Gewalt sprechen sollen. Und da war zum Beispiel ein Punkt und da ging es darum, um diese Selbstermächtigung oder Selbstentscheidung über meinen Körper. Und zum Beispiel diese Szene: Sie putzen ja dem Kind nicht einfach, greifen dem einfach nicht in die Nase und putzen den Rotz ab, sondern im besten Fall sagt man dem Kind: „Putz dir mal die Nase, da läuft dir der Rotz runter." Und dann so lernt das Kind schon, dass nicht jeder einfach was mit mir machen darf.
[00:08:24.030] - Svenja Kerkeling
Richtig.
[00:08:24.090] - Nadia Kailouli
Und das ist ja wahrscheinlich der Punkt, den du auch meinst, dass man gerade vielleicht bei Kindern mit Einschränkungen meint: „Ich nehme dem Kind alles ab." Und das Kind lernt erst gar nicht zu verstehen: "Moment, das will ich aber vielleicht gar nicht."
[00:08:35.480] - Svenja Kerkeling
Ja, also diese Erfahrung machen wir tatsächlich tagtäglich und es ist immer wieder unglaublich erschreckend in alltäglichen Situationen, in denen sie völlig normal damit umgehen, weil sie es gelernt haben und weil sie es gewöhnt sind, dass sie angefasst werden. Also es ist gar nicht mehr so, dass sie sich großartig erschrecken, wenn ich dann irgendwie einen Schal abmache, eine Mütze aufsetze, was ich natürlich auch immer noch tue. Es passiert auch mir zwischendurch immer noch, dass ich mal denke: Ich mache das und denke mir: „Ach Gott Svenja, da hättest du aber gerade mal fragen können, ob dem Kind genauso kalt ist wie dir." Es ist ja nach dem Motto: „Zieh die Mütze auf, mir ist kalt." Und dann dazu fragen: „Ist dir denn überhaupt auch kalt?" Da gehört eine ganz große Sensibilität zu und ich glaube, dazu gehört noch ganz viel Aufklärung, weil das keiner böse meint, sondern wir sind der Meinung, wir können da viel helfen. Das sind so Ansatzpunkte, die sind ganz wichtig, gerade für die Schulen, auch für die stationäre Hilfe, die ambulante Hilfe, dass das nicht zu bestimmten Zeitpunkten stattfindet, wie die Präventionsarbeit so ein bisschen aufgebaut ist. Also dass ich einmal im Schuljahr oder vielleicht einmal im Monat, wenn es gut ist, oder einmal im Jahr über ein Präventionsthema spreche, sondern das muss tagtäglich unser täglich Brot sein. Das muss jeden Tag da sein, damit diese Menschen das leben können und verstehen können.
[00:09:50.040] - Nadia Kailouli
Jetzt hattest du ja gerade gesagt, das machst du auch noch, dass du die Mütze draufsetzt oder den Schal drüber legst und so, und viele meinen es ja gut, aber wir sprechen ja heute auch vor allem über die, die es nicht gut meinen, die die Schwäche dieses Kindes dann so weit ausnutzen, dass sie Gewalt ausüben, dass sie sexuelle Übergriffe, sexuelle Gewalt ausüben. Wie spricht man mit Kindern, mir fällt es selber immer so schwer, das Wort Behinderung zu sagen, weil ich finde immer, wo fängt das an? Wo hört das auf? Ich merke das gerade selber. Ich tue mich so schwer damit, weil ich mir denke, nur weil ein Kind, weiß ich nicht, zwei Finger hat, ist es jetzt behindert? Oder wenn ein Kind geistige Einschränkungen hat und sich nicht so gut ausdrücken kann. Ich finde das so überheblich, das als behindert zu titulieren irgendwie. Deswegen frage ich dich jetzt mal, wie nennen wir Kinder? Nennen wie sie "Kinder mit Behinderungen"? Nennen wir sie "Kinder mit Einschränkungen", "Kinder mit Schwächen"? Ich weiß es nicht. Was ist da das richtige Wording?
[00:10:50.850] - Svenja Kerkeling
Ja, also ich verstehe das total. Ich tue mich auch unglaublich schwer damit, weil ich denke, das ist so wenig von einem Menschen. Das ist ja viel zu wenig von einem Menschen. So, wenn jemand zu mir sagt, das ist die Blonde, dann denke ich: "Ja, ich bin blond, aber ich bin ja noch so unglaublich viel mehr." So, und du hast vielleicht zwei Finger oder du kannst nicht laufen, aber wie viel mehr bist du denn bitte? Es sind einfach andere Menschen, so wie wir alle vielleicht unterschiedlich sind. Die Mehrheit der Menschen hat vielleicht nicht so große Behinderungen, dass wir sie sehen. Ich glaube, dass wir alle irgendwo Beeinträchtigungen haben und ich glaube, dass das völlig okay ist und dass es normal ist und dass es schön ist. So, wenn wir alle gleich wären, wie langweilig wäre das sind. Wenn ich Fortbildungen gebe oder mit Menschen über dieses Thema spreche, nehme ich eigentlich häufig das Wort "Beeinträchtigungen", weil wenn ich mich jetzt ausdrücke und sage: "Das sind andere Menschen", dann fällt es den Menschen, die jetzt gar nicht aus dem Fachbereich kommen, häufig schwer zu wissen, worüber redet die denn eigentlich. Also ich habe mich mit mir selber auf "Beeinträchtigungen" verständigt, einfach damit man weiß, über wen man überhaupt redet. "Behinderungen" finde ich echt auch schon so ein bisschen schwierig, muss ich sagen. Und wenn man die Menschen selber kennt, dann weiß man einfach, die haben eine Beeinträchtigung, aber die haben noch so viele andere wundervolle Seiten, von denen wir so viel lernen können. Da ist diese Beeinträchtigung manchmal einfach ganz, ganz, ganz wenig.
[00:12:18.100] - Nadia Kailouli
Damit kann ich gut leben: Kinder mit Beeinträchtigung. Wie spricht man mit Kindern dann darüber, dass es überhaupt sexuelle Übergriffe, sexuelle Gewalt geben kann, selbst in einem Umfeld, wo sie vielleicht meinen, dass sie dort gut aufgehoben sind und dass man es eben vielleicht mal nicht gut mit ihnen meint und übergriffig wird mit einer bösen Absicht?
[00:12:40.620] - Svenja Kerkeling
Ja, mit ihnen sprechen ist teilweise sehr, sehr, sehr schwierig. Im Grunde ist es nichts anderes, als wenn man mit Kindern spricht, die jetzt keine Beeinträchtigung haben. Aber ich glaube, sie brauchen halt noch speziellere Unterstützung.
[00:12:54.320] - Nadia Kailouli
Weil es ja schon schwer ist, überhaupt mit Kindern auch ohne Beeinträchtigung über dieses Thema zu sprechen.
[00:13:00.010] - Svenja Kerkeling
Genau. Also wenn man sich überlegt, dass Kinder jetzt sexualisierte Gewalt oder sexuelle Übergriffe erlebt haben, ist es ja so – und das wissen wir eigentlich alle –, dass es sehr, sehr schwierig ist, wenn fast unmöglich, über dieses Thema überhaupt zu sprechen, weil das einfach traumatische Erlebnisse sind. Und wir kennen wahrscheinlich selber alle diesen Moment von: „Ich kann das überhaupt nicht in Worte fassen. Ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll." Und bei Kindern mit Behinderungen ist es im Grunde nichts anderes. Es ist auch das Gleiche. Sie erleben genau das Gleiche. Sie haben aber ganz häufig nicht diese Sprache sprachlichen Möglichkeiten, die wir haben, können sich also sprachlich gar nicht so gut ausdrücken, weil sie zum Beispiel Kommunikationsstörungen haben oder weil sie im Autismus-Spektrum sind und vielleicht die Worte gar nicht finden können, die sie bräuchten. Wir arbeiten sehr intensiv an den Förderschulen, aber mittlerweile auch in ganz vielen Einrichtungen, mit bestimmten Symbolen. Die heißen Metacom-Symbole. Mit denen arbeiten wir zusammen. Die kommen aus der Unterstützten Kommunikation und die unterstützen diese Kinder dabei, das, was sie nicht sagen können, die Worte, die sie nicht finden können, in Symbolen uns mitzuteilen. Und das ist im Grunde eine Brücke zu schlagen, mit diesen Kindern tatsächlich wirklich in ein Gespräch kommen zu können.
[00:14:15.520] - Nadia Kailouli
Und das ist alles sozusagen hier in diesem Buch mit drin, was du mitgebracht hast.
[00:14:20.890] - Svenja Kerkeling
Genau.
[00:14:21.200] - Nadia Kailouli
Als ich davon gehört habe und ich habe es digital mir angeschaut, war ich total begeistert und wir alle hier, wir haben eben sogar noch schon darüber gesprochen, so: „Warum gab es das denn nicht schon früher?" Es ist so, es liegt da auf der Hand. Ja, es heißt "Das Kummerbuch". Vielleicht erzählst du mal, was "Das Kummerbuch" genau ist.
[00:14:40.490] - Svenja Kerkeling
Ja, genau. Es ist "Das Kummerbuch" und warum es das vorher noch nicht gab, darauf habe ich auch wirklich keine Antwort. Ich bin einfach total froh, dass es das jetzt gibt. Ich bin total froh, dass ich auf die Idee gekommen bin, "Das Kummerbuch" zu schreiben. Ja, und es ist ein Buch, das mit diesen Metacom-Symbolen quasi oder von diesen Metacom-Symbolen lebt. Und "Das Kummerbuch" habe ich geschrieben, aus der Not heraus. Also es war gar nicht so, dass ich irgendwie gedacht habe: "Ach komm, jetzt schreibst du mal ein Buch und überlegst dir mal, welches Thema." Das war es überhaupt nicht. Es war tatsächlich so, dass ich aus dem Wochenende wieder in die Schule zurückkam und zwei Kolleginnen zu mir kamen und relativ aufgelöst waren und sagten: "Du, wir haben hier ein Mädchen bei mir in der Klasse oder bei uns in der Klasse, der geht es irgendwie nicht gut." Und dann bin ich halt in die Klasse und habe mich erst mal so ein bisschen zurückgezogen und habe aber gesehen, dass sie sehr, sehr verändert war. Sie war sehr ruhig und sie war unglaublich starr. Wir in der Traumatologie nennen das "Numbing". Das ist, dass einfach die Gefühle unglaublich abgeflacht sind und der Mensch in dem Moment keine Möglichkeit mehr hat, seine Gefühle wirklich zu zeigen.
[00:15:47.920] - Svenja Kerkeling
Sie saß da, sie war sehr starr. Zwischenzeitlich hat sie leicht geweint, hat immer die Nähe der Lehrerin gesucht und sie kann eigentlich ganz gut reden. Also schon auch eine vereinfachte Sprache, aber sie kann sich mitteilen. Aber sie hat kein einziges Wort mehr gesagt, gar nicht. Und ich habe dann halt mit den Kolleginnen in dieser Notsituation über Akutmaßnahmen gesprochen und auch gesagt: „Bitte bleibt in ihrer Nähe. Bleibt einfach da, bietet euch an, drängt euch nicht auf, aber gebt ihr immer zu verstehen, dass ihr einfach da seid, dass ihr bei ihr seid." Ja, und so ist dieser Tag dann vergangen und sie hat tatsächlich an diesem ganzen Tag kein Wort geredet, wirklich gar nichts. Und ich hatte aber immer das Gefühl, ich war zwischenzeitlich da, da ist was in ihrem Körper, dass sie unglaublich beschäftigt, wahrscheinlich ein Erlebnis. Und dieses Erlebnis hatte keine Möglichkeit, nach außen zu kommen. Gar nicht. Und ob es jetzt daran lag, dass es ein Erlebnis war, was sie nicht in Worte fassen konnte, oder ob es was war, letztendlich, wofür sie keine Worte hatte, das kann ich bis heute auch nicht sagen, weil viele der Kinder, mit denen ich arbeite, die haben auch keine Worte dafür. Die wissen gar nicht, dass das Gewalt ist. Die wissen gar nicht, dass das sexueller Missbrauch heißt. Das ist nicht da. Aber das weiß ich nicht. Ich habe auf jeden Fall bin ich dann nach Hause gefahren und hatte das die ganze Zeit sehr im Kopf und habe mich dann abends hingesetzt und habe quasi in dieser Nacht so ein sehr rudimentäres Exemplar vom Kummerbuch angefertigt. Deutlich weniger Seiten und es war auch sehr vereinfacht, aber es hieß von Anfang an "Das Kummerbuch". Also es hieß von Anfang an, war das für mich klar, dass es "Das Kummerbuch" war und habe das dann in der Nacht laminiert und so eine kleine Bindung daran gemacht und habe das dann am nächsten Morgen den beiden Kolleginnen in die Klasse gegeben und habe halt gesagt: „Ich habe keine Ahnung, ob das was tut, aber versuch das mal." Und die beiden Kolleginnen waren ganz großartig in der Zeit und haben ihr das erklärt, aber auch der ganzen Klasse erklärt. Also gar nicht so mit so einem großen: "Jetzt kommt so ein Zauberbuch", sondern "Hier ist einfach ein Buch und wir legen das hier hin und wenn du magst, kannst du schauen und alle anderen auch." Und sie fing auch an, sich das anzuschauen und die Bilder und die Klassenkameraden auch. Und dann haben sie es, glaube ich, auch benutzt, als ein Kind sich in der Pause verletzt hatte und konnte mit dem Kummerbuch dann zeigen, dass der Finger wehtat. Also ganz, ganz kleine Sachen. Und sie wusste aber, dass ich das Buch geschrieben hatte und das dauerte ungefähr zwei bis drei Wochen. Dann hat sie mitgeteilt, dass sie mit mir und der einen Klassenlehrerin sprechen wollte. Ich habe sie gefragt, wo, und sie wollte gerne in den Therapieraum, in dem sie sehr gerne ist. Und dann habe ich mich mit ihr da auf den Boden gesetzt und hatte "Das Kummerbuch" vor mir und habe sie erst mal nur blättern lassen. Und im Grunde habe ich das verbalisiert, was sie nicht verbalisieren konnte. Ich war ihre Brücke, ich war ihr Zugang quasi zur Sprache. Und sie hat mit dem Buch - Ich habe gemerkt, wie unglaublich schwer ihr das fiel, alleine auf die Symbole zu zeigen -, aber sie hat dann mit diesem Buch mir gesagt, was an diesem Wochenende passiert ist. Und es war ein körperlicher Übergriff, der zu Hause stattgefunden hat. Und sie konnte dann mit diesem Buch uns das mitteilen.
[00:18:49.770] - Svenja Kerkeling
Und im Grunde hat sie draufgezeigt und ich habe dann immer gesagt: "Du zeigst jetzt hier gerade auf…" Ich weiß noch ungefähr, welcher Körperbereich es war, aber ich sage jetzt mal so einen anderen: "Du zeigst jetzt hier auf den Rücken und sie konnte dann auf 'Ja' oder auf 'Nein' tippen:" Und das hat sie getan. Ja, und dieses Gespräch ist dann so verlaufen und ich habe ihr auch noch mal gesagt, wie unglaublich mutig es von ihr war, das uns mitzuteilen, auf die Symbole zu zeigen und dass wir jetzt helfen und dass wir weiter an ihrer Seite sind. Und es konnte auch interveniert werden. Der Familie ist dann Unterstützung zugekommen. Die Kolleginnen haben sich darum gekümmert und im Grunde wäre es uns nicht möglich gewesen, ohne dieses Buch überhaupt zu erfahren, was ihr passiert ist. Und es geht ihr gut heute. Es ist sehr schön. Sie redet gerne und immer noch wieder wie ein Wasserfall und das ist jetzt schon ein paar Jahre her, aber sie hat bis heute kein einziges Wort darüber verloren. Sie redet nicht drüber. Genau. Und "Das Kummerbuch" liegt nach wie vor in der Klasse und es ist ganz, ganz häufig, dass sie es oft auch einfach noch bei sich hat, auf dem Tisch liegen hat oder im Arm hat, wie so ein kleiner Helfer.
[00:19:55.620] - Nadia Kailouli
Ja, das klingt auch wirklich nach so einem Helfer. Ich bin ehrlich gesagt total gerührt, einfach weil man sich das so bildlich vorstellt, weil man weiß ja selber, selbst als erwachsener Mensch, wenn da was ist, was einen bedrückt, bis man das so über die Lippen bringen kann. Das ist irgendwie so ein Prozess und selbst erwachsene Menschen kriegen das ja manchmal nicht hin. Ich würde da jetzt so gerne einmal mit dir reingucken in "Das Kummerbuch". Jetzt sind wir ja leider nicht beim Fernsehen, aber ich beschreibe einfach, was ich so sehe. hat das einen chronologische Aufbau… Jetzt habe ich direkt natürlich die Seite aufgeschlagen.
[00:20:31.950] - Svenja Kerkeling
Das ist jetzt die Seite der Seiten.
[00:20:34.130] - Nadia Kailouli
"Wo an deinem Körper?" Also das war wirklich… Wenn wir jetzt im Fernsehen wären, dann hättet ihr auch live miterleben können, dass das jetzt hier kein Fake ist. Ich habe jetzt tatsächlich einfach…
[00:20:40.660] - Svenja Kerkeling
Nein, das ist die spannendste Seite tatsächlich.
[00:20:41.890] - Nadia Kailouli
Die Seite: "Wo an deinem Körper?", aufgeschlagen. Und man sieht Brüste, also man sieht sie gezeichnet und da steht "Brüste" dran. Man sieht "Vulva", "Penis", "Po", "Lippen", "woanders", "Ja", "Weiß nicht", "Nein".
[00:20:57.110] - Svenja Kerkeling
Genau.
[00:20:57.910] - Nadia Kailouli
So, und jetzt geht es los: Wie geht man da mit dieser Seite jetzt auf ein Kind zu?
[00:21:02.750] - Svenja Kerkeling
Also ich würde tatsächlich mit dieser Seite nicht auf ein Kind zugehen. Da hast du die witzigste Seite aufgeschlagen. Wenn das Kind von sich aus diese Seite aufschlägt, dann lässt du die. Das passiert natürlich. Manchmal schlagen sie sie auch einfach auf, weil sie es wirklich witzig finden, sich das anzuschauen. Also sie gucken sich das gerne an und dann sage ich auch, ist schon auch irgendwie witzig gezeichnet. Aber im Grunde hat das ganze Buch keine Chronologie. Das ist kein chronologisches Buch. Es ist im Grunde nur ein Werkzeug. Du hast einen Gesprächsbeginn. Da sind die Gesprächsbeginnseiten drin, wo drin steht: „Ich möchte dir gerne helfen", "Ich habe das Gefühl, du hast Kummer", "Ist es in Ordnung, wenn wir uns unterhalten?", "Du musst nicht sagen. Du kannst auf die Symbole zeigen." So, diese Gesprächseinführung. Das machst du vor allen Dingen in den Momenten, wenn du mit Kindern sprichst, wo du eine Vermutung hast, wo du fragst: „Können wir beide uns unterhalten? Ich habe das Gefühl, du hast eine Sorge. Ich würde einfach total gerne mit dir reden und ich möchte dir gerne helfen", um so ins Gespräch überhaupt reinzukommen. Und nach diesem Gesprächseinstieg kommen jetzt ganz viele Seiten mit diesen klassischen W-Fragen: "Hast du irgendwo Schmerzen?" Wenn man jetzt zwei Seiten zurückblättern würde, dann wüsste man, dass es wahrscheinlich erst mal darum geht: „Hast du Schmerzen?", zum Beispiel. Das ist jetzt diese Seite. Wenn das Kind jetzt auf „Ja" zeigen würde, dann könntest du weiter blättern und dann könntest du weiterhin fragen: „Du hast auf 'Ja' gezeigt? Gut." Und dann gehst du auf die Seite mit dem Körperteilen. So, und dann kann das Kind ja ganz gut zeigen, wo es zum Beispiel Schmerzen hat.
[00:22:37.810] - Nadia Kailouli
Am schwierigsten wird es wahrscheinlich, wenn das Kind hier auf das Symbol ist. Das ist das Symbol, weil ich beschreibe das mal: Also ein Männchen mit zwei aufgeschlagenen Händen, so auf der einen Seite grün, auf der anderen Seite rot und da drunter steht "Weiß nicht". Das stelle ich mir jetzt als die schwierigste Fläche vor, auf das ein Kind zeigen kann: "Weiß nicht".
[00:22:56.810] - Svenja Kerkeling
Ja, das ist natürlich eine schwierige Fläche, weil du selber dann in dem Moment überlegen musst: „Was mache ich jetzt?" Also so, dass das Kind vielleicht weiß es wirklich nicht ob es Schmerzen hat. Manche Kinder mit Beeinträchtigungen haben natürlich ein anderes Schmerzerleben oder haben die ganze Zeit vielleicht auch irgendwo Schmerzen aufgrund der Beeinträchtigung, können dir also gar nicht unbedingt sagen: „Ja, ich habe tatsächlich jetzt hier Schmerzen." Weil vielleicht schmerzt es immer irgendwo. Ich habe aber häufig den Moment von "Weiß nicht", von: „Ich bin gar nicht sicher, ob ich dir das jetzt schon sagen will." Das ist viel häufiger. So, "Ich weiß nicht", ist ich ziehe mich noch mal einen Moment zurück und überlege vielleicht noch mal für mich selber, ob ich dir das vielleicht mitteilen will oder ob ich dir das vielleicht doch noch gar nicht mitteilen will. Ich sage immer, "Weiß nicht" ist die gleiche Antwort wie "Ja" und "Nein" und gilt. Es gilt. Also "Weiß nicht" ist "Weiß nicht" und dann weiß es das Kind nicht.
[00:23:53.020] - Nadia Kailouli
Ist nicht: „Buch zumachen und okay, dann hast du nichts", sondern…
[00:23:55.710] - Svenja Kerkeling
Nein, nein, sondern du weißt es gerade nicht und das gilt. Wie wenn das Kind Nein sagt und Ja sagt, weiß es das halt nicht. Und dann musst du in dem Moment sehr individuell entscheiden. Also ich könnte dir jetzt kein Patentrezept darlegen und sagen, so, was machst du dann in dem Moment, wenn das Kind sagt: „Hast du Schmerzen? Weiß ich nicht." Dann kannst du überlegen, wenn du tatsächlich der Annahme bist, das Kind hat eigentlich Schmerzen, gehe ich schon mal auf die Seite mit den Körperteilen, hier zum Beispiel, und erzähle manchmal von mir selber und sage: "Ich hatte letzte Woche zum Beispiel Kopfschmerzen und das tat mir hier weh." Und ich habe jetzt gerade auf dieses Symbol mit dem Kopf gezeigt oder ich zeige auf das Symbol mit dem Bauch und sage: "Ich habe Bauchschmerzen manchmal, wenn ich blöde Geheimnisse habe. Dann habe ich das Gefühl, ich habe da Schmerzen im Bauch." Und versuche, so noch mal in ein Gespräch zu kommen. Das hängt aber unglaublich auch damit zusammen, was ich für einen Gesamteindruck habe von dem Kind in dem Moment, wenn es sich zurückzieht, wenn es mich nicht mehr anguckt, wenn es wegguckt, wenn es sich wegdreht. Würde ich wahrscheinlich tatsächlich eher in dieses Gesprächsende gehen – und das Gesprächsende ist auch im Buch, die letzten Seiten sind das, um überhaupt mal nachzufragen: „Möchtest du denn doch mit mir reden oder möchtest du eine Pause haben? Oder möchtest du, dass wir das Gespräch für heute beenden?" Da hängt dann aber damit zusammen, dass ich sensibel damit umgehe, wie sich das Kind mir gegenüber verhält. Deswegen sage ich immer, ich kann immer nicht sagen: "Wenn die Seite, die Antwort kommt, dann schlagt die Seite auf." Das wird nicht funktionieren. Da sitzen uns Menschen gegenüber, die hochindividuell natürlich reagieren, gerade nach Gewalterfahrung. Und ich finde es ganz wichtig, dass wir sie überhaupt und in keinster Weise bedrängen und auch einfach mal rückmelden: „Ich habe jetzt registriert, dass du mir gesagt hast, du weißt das nicht." So, und es gibt Karten, also zu dem Buch gehören noch so Karten, wie in so einem Kartenspiel. Die kann man vor die Kinder legen, damit sie die Möglichkeit haben, wenn sie stark körperlich eingeschränkt sind, wirklich nur mit einem ganz kleinen Finger, mit einem ganz kleinen Millimeter mir mitzuteilen: „Ja", "Nein", oder "Weiß nicht" oder "Ich brauche eine Pause" oder "Ich will dir jetzt nicht antworten." Die Karten da hinzulegen und noch mal die Möglichkeit zu geben und zu sagen: „Möchtest du eine Pause machen oder möchtest du mir vielleicht einfach heute nicht mehr antworten, sollen wir uns in den nächsten Tagen noch mal zusammensetzen?" Und dann ganz, ganz kleine Regungen auch wahrzunehmen. Also es gibt Kinder, die schauen mit ihren Augen drauf und ich muss die Augen sehr genau beobachten und die schauen auf die Karte von, wenn ich frage: "Möchtest du eine Pause machen?" Und die schauen auf die Karte "Ja", dann nehme ich das wahr und sage: "Du hast die Karte 'Ja' angeschaut. Stimmt das?" Dann schauen sie wieder aufs "Ja" oder nicken wirklich ganz, ganz minimal. Das ist hochsensibel. Und das ist halt ernst zu nehmen. Das ist wirklich ernst zu nehmen. Um zu sagen: „Gut, dann sehen wir uns einfach oder ich komme die nächsten Tage noch mal und frage dich, ob du dann noch mal mit mir sprechen möchtest, ganz ohne Druck."
[00:26:53.640] - Nadia Kailouli
Ist das ein Buch, was man zu Hause im Kinderzimmer haben sollte, kann für Eltern und Familien, egal ob Kind mit Beeinträchtigungen oder nicht, oder sollte das in Händen von Pädagoginnen und Pädagogen bleiben?
[00:27:07.310] - Svenja Kerkeling
Nein. Also ich glaube, es ist natürlich entwickelt worden aus der Pädagogik heraus für ein Kind mit Beeinträchtigungen. Aber Ich glaube, grundsätzlich und meine Erfahrung ist auch, das ist ein Kind, mein Gott, das ist ein Buch, so rum, das jedes Kind total gut haben kann, weil es ist eine große Hilfe und es ist nicht nur für die Kinder da mit Beeinträchtigungen, die jetzt vielleicht nicht sprechen können und auf die Symbole zeigen müssen, sondern ich habe selber Kinder erlebt, die mit diesem Buch in Spieldecken gesessen haben, die keine Beeinträchtigung haben und die sich gegenseitig interviewt haben und gefragt haben: „Hast du Schmerzen?" Und das andere Kind hat irgendwo draufgezeigt und dann hat das irgendwie gesagt: „Hast du Kopfschmerzen?" Und es war einfach so schön, das zu sehen. Und es hilft einfach Kindern auch, ihre Gedanken noch mal zu strukturieren und das hilft uns auch, unsere Gedanken zu strukturieren. Ich glaube tatsächlich, es muss nicht auf irgendwelche Bereiche begrenzt sein. Ich glaube tatsächlich, das kann in allen Familien sein, das kann bei allen Kindern sein, das kann in allen Kindergärten sein, es kann in allen Wohneinrichtungen sein. Es kann in der Altenpflege natürlich auch sein, bei den Menschen, die schon wieder vielleicht aufgrund des Alters sich wieder nicht gut äußern können oder auch wieder kognitive Beeinträchtigungen haben, die Symbole nutzen können. Es ist doch deutlich weitreichender, wird es eingesetzt, als ich damals dachte. Weil es wird auch häufig eingesetzt, in Duisburg, wo ich arbeite, in der Stadt Duisburg, haben wir sehr viele Flüchtlingskinder und sehr viele Familien, die aus den Flüchtlingsländern kommen. Und es wird einfach eingesetzt, weil es die Sprachbarriere aufhebt. Also es ist gar nicht so, dass es nur dafür da ist, um zu gucken: „Hast du Gewalterfahrung?" Sondern in dem Moment, wo wir beide auf das Symbol „Kopf" gucken, von dem Männchen, das sich an den Kopf hält, wissen wir beide, das Männchen hat Schmerzen am Kopf und dafür müssen wir nicht beide Deutsch sprechen. Und so verständigen wir uns miteinander. Und das ist total schön.
[00:29:05.920] - Nadia Kailouli
Also ich bin total… Ich weiß nicht, weil ich das letzte Mal so gerührt war von einem Buch mit Zeichnungen. Ich glaube noch nie. Aber ich bin so gerührt davon, weil man sich so gut vorstellen kann, wie das die Kommunikation erleichtert und einfach jemandem einen Weg gibt, sich auszudrücken. Jetzt aber die Frage: Was ist, wenn man nicht weiterkommt? Also wenn man irgendwie auf dem, keine Ahnung, man bleibt dann halt irgendwie stehen: Ich gucke jetzt mal wieder, was passiert und man zeigt einfach auf die Toilette. Man zeigt einfach nur auf das Toilettenbild und weiß nicht und dann macht das Kind zu. Also wie geht man damit um, wenn man damit nicht weiterkommt oder wenn das Kind viele Sachen gezeigt hat, beantwortet hat und so? Also, wie zieht man Schlüsse aus dem, wo man hinzeigt und hinschaut?
[00:29:51.330] - Svenja Kerkeling
Ja, also du musst auf jeden Fall … Auf der einen Seite musst du schon irgendwie am Ball bleiben, du musst weiterhin im Kontakt mit diesem Kind bleiben. Du kannst nicht erwarten, dass das Kind, wenn du ihm das erste Mal "Das Kummerbuch" da hinlegst, dir direkt und konkret auf das Symbol zeigt und dir sagt: "Hier auf der Toilette, da hat mich mein Pfleger an der Scheide berührt" oder an der Vulva, wie es ja da mittlerweile auch steht. Das wird nicht passieren. Das passiert nicht. Das ist ganz häufig so, dass dieses Kind ganz lange Zeit braucht, um überhaupt selber Vertrauen aufzubauen zu mir oder zu den Gesprächspartnern. Und ich erinnere mich an ein Mädchen, mit dem arbeiten wir seit Jahren zusammen, wirklich. Und sie sagt immer, sie hat Bauchschmerzen. Und das sagt sie seit zwei Jahren und sie kommt regelmäßig zu mir und sie sagt immer wieder, sie hat Bauchschmerzen. Und sie sagt immer wieder, sie weiß nicht, woher die kommen. Und kommt immer wieder und ich sage jedes Mal aufs Neue: "Kann ich dir irgendwie helfen? Brauchst du eine Wärmflasche? Soll ich irgendwem Bescheid geben?" Und dann sagt sie auch immer "Nein" und geht dann auch wieder weg. Und es ist schon mittlerweile so, dass mal eine Kollegin sagte: "Mein Gott im Himmel, jetzt muss aber doch irgendwann mal gut sein." Und ich habe gesagt: "Nein. Und wenn sie noch 500-mal kommt und mir sagt, sie hat Bauchschmerzen, dann sage ich noch 500-mal, kann ich dir irgendwie helfen? Ich möchte dir gerne helfen. Ich kann dir eine Wärmflasche machen. Was möchtest du? Was tut dir jetzt gut?" In der Hoffnung, dass sie irgendeines Tages mir mitteilt: „Ich habe gar nicht nur Bauchschmerzen. Ich habe nämlich noch woanders Schmerzen, aber das habe ich nie getraut, dir zu sagen." Du musst da so wirklich am Ball bleiben. Du musst bei diesen Menschen bleiben. Du musst eine Vertrauensperson bleiben. Du darfst aber in gar keinem Fall- Du brauchst eine Himmelsgeduld, weil wir selber haben ja immer ein Gefühl und du hast selber ganz häufig das Gefühl, da ist viel mehr im Argen. Manchmal sind wir uns auch sicher. Aber du kommst mit Druck und mit Suggestion und „Ach komm, da war doch bestimmt..." In keinem Fall überall weiter. Du verlierst im schlimmsten Fall den Kontakt zu diesem Menschen. Du musst dich davon selber befreien. Du musst Geduld haben und du musst Zeit haben und du musst auf den Moment warten, wo der Mensch die Möglichkeit hat, dir mitzuteilen, was tatsächlich passiert ist. Du bleibst also da in einem Vertrauensbereich. Du bist immer in der Nähe, du bist immer ansprechbar, du baust aber keinen Druck auf und du musst einfach wahnsinnig viel Geduld haben. Und du musst dein eigenes Bedürfnis, dieses zu klären und dem Kind zu helfen, so wie du möchtest, unglaublich zurückstellen. Weil auch wenn wir wissen, dass da mehr hinter ist und wir die Vermutung haben, dass das Kind Gewalt erlebt, müssen wir auf den Moment warten, bis wir das mitgeteilt bekommen, zumindest wenn es ansonsten keine weiteren Beweise gibt, sage ich jetzt mal oder so, dann müssen wir in jedem Fall darauf warten. Das heißt, solange das Kind dir antwortet, es weiß das nicht, dann ist das einfach so.
[00:32:41.570] - Nadia Kailouli
Dann braucht man Zeit und Geduld. Wo bekommt man dieses tolle Buch?
[00:32:46.370] - Svenja Kerkeling
Das bekommt man in der Schweiz beim Autismusverlag. Genau, das ist ein kleiner Verlag. Der sitzt in Sankt Gallen in der Schweiz und stellt unglaublich viel her mit Metacom-Symbolen. Vor allen Dingen für Menschen im Autismus-Spektrum. Deswegen heißen sie Autismusverlag. Aber wir verwenden das Material auch auf jeden Fall bei Menschen mit Beeinträchtigungen in der Kommunikation, also nicht nur als Strukturierungshilfe für Menschen im Autismus-Spektrum, sondern auch die kommunikative Einschränkungen haben. Und der Verlag ist sehr klein, aber unglaublich lieb und engagiert. Und ich habe eine ganz tolle Grafikerin, die sich wahnsinnig da mit mir immer wieder auseinander gesetzt hat und wir haben hin und her überlegt. Und ja, mittlerweile ist der auch in Deutschland vertrieben.
[00:33:35.200] - Nadia Kailouli
Ich wollte gerade sagen, jetzt gerade war ich so: „Oh Gott, ich wollte es doch jetzt jedem zur Geburt schenken, den ich so kenne."
[00:33:41.280] - Svenja Kerkeling
Nein, Deutschland hat es auch.
[00:33:43.540] - Nadia Kailouli
Deutschland hat es auch. Also man kann es online wahrscheinlich…
[00:33:46.510] - Svenja Kerkeling
Online kriegt man es in jedem Fall in der Schweiz. In Deutschland war es jetzt zuletzt ausverkauft. Ja, aber man kriegt es in jedem Fall auch bestellt.
[00:33:55.840] - Nadia Kailouli
Hast du dafür schon einen Preis bekommen?
[00:33:57.880] - Svenja Kerkeling
Nein.
[00:33:58.970] - Nadia Kailouli
Also ich bin Ich bin wirklich dafür… Ich weiß gar nicht, wie das funktioniert. Also ich finde, das ist preisverdächtig, muss ich dir wirklich ganz ehrlich sagen.
[00:34:05.400] - Svenja Kerkeling
Dankeschön.
[00:34:05.440] - Nadia Kailouli
Ich finde, das ist so eine tolle Idee, mit Kindern einen Weg zu finden, dass sie sicher mit einem kommunizieren können, ohne Druck, mit Bildern. Also ich finde das wirklich, Svenja. Ich bin richtig Fan von dir. Du hast es geschafft, dass ich den Namen Kerkeling jetzt komplett unter anderen Sachen verbuche. Und vielleicht brauchen wir auch Hape Kerkeling, für dich, Svenja Kerkeling, als Botschafter deines Buches, das noch mal in die breite Masse zu bringen. Ich Ich danke dir sehr, dass du heute unser Gast warst. Vielen Dank, Svenja Kerkeling.
[00:34:33.330] - Svenja Kerkeling
Dankeschön. Es hat mich sehr gefreut, hier zu sein.
[00:34:38.250] - Nadia Kailouli
Ja Leute, ihr habt es gemerkt, ich bin richtig Fan. Dieses Buch ist toll. Ihr habt jetzt nur gehört, wie wir darüber gesprochen haben, aber wenn ihr dieses Buch in der Hand habt und diese Bilder dazu seht und wie das aufgebaut ist und so, das ist so sinnig. Man fragt sich wirklich: "Warum gibt es das nicht schon viel, viel länger?" Also ich bin totaler Fan und ich bin ja auch Fan von Hape Kerkeling und es Svenja hat mir erzählt: Ja, sie sind verwandt miteinander, sie kennen sich nur nicht. Die kommen irgendwie, haben hier den gleichen Familienstamm. Also deswegen Herr Kerkeling, wenn Sie dieses Buch vielleicht mal unter die Leute bringen könnten, das wäre super. Also kauft euch dieses Buch, schaut es euch an, das ist toll. Das heißt, "Das Kummerbuch".
[00:35:18.110] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden. Sie sind häufiger auf Hilfe und Pflege angewiesen und das macht sie besonders verletzlich, denn Hilfsbedürftigkeit wird von Tätern und Täterinnen für sexuelle Übergriffe ausgenutzt.
Svenja Kerkeling ist Förderschullehrerin, Kinderschutzfachkraft und berät andere Schulen bei der Erstellung von Schutzkonzepten. Als es an ihrer Schule einen Verdachtsfall gibt, das betroffene Mädchen aber nicht darüber sprechen kann, entwickelt Svenja über Nacht das „Kummerbuch”. Im Kummerbuch werden viele Fragen zu Kummer nach Gewalterfahrungen gestellt und mit Hilfe von Symbolen, auf die man zeigen kann, können dann Kinder antworten.
Kindern mit Behinderungen wird Sexualität generell abgesprochen, sie werden in Prozesse nach Gewalterfahrungen – also Kinderschutz, der sie direkt betrifft – nicht einbezogen oder es wird ihnen erst gar nicht geglaubt. Besonders gravierend ist dies auch bei betroffenen Kindern und Jugendlichen, die sich nicht sprachlich äußern können. Gerade hier fühlen sich Täter besonders sicher, dass ihre Taten nicht entdeckt werden. Nonverbale Kinder und Jugendliche werden laut Svenja oft gar nicht erst befragt und Verdachtsfällen wird nicht ausreichend nachgegangen. Svenjas „Kummerbuch” kann hier helfen. An ihrer Schule wurden mithilfe des Buches schon mehrere Fälle von Gewalt aufgedeckt und auch andere Schulen und Jugendämter arbeiten damit.

LINKSAMMLUNG
Website von Svenja Kerkeling
Geschützt lernen
Das Kummerbuch zum Bestellen
Das Kummerbuch beim Autismusverlag
Informationen über sexuellen Missbrauch an Kindern mit Behinderungen auf der Website der Aufarbeitungskommission
Sexueller Kindesmissbrauch gegen Menschen mit Behinderungen
Aufarbeitungskommission: Lehrerin Maritta über ihre Erfahrung mit nonverbalen Kindern
Instagram-Reel bei @aufarbeitungskommission
Sexualität und Missbrauch: Wie Eltern behinderter Kinder mit dem Tabuthema umgehen können
Podcast „Mein Herz lacht” mit Professorin Julia Gebrande
Aufklärung zum Thema sexualisierte Gewalt für Kinder in einfacher Sprache
Bildungs- und Präventationskonzept „Ben und Stella wissen Bescheid”
METACOM Symbole zum Erstellen von Materialien zur Unterstützten Kommunikation
METACOM Symbole
