
Wenn man in der Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt war – wie ist es dann, über eigene Kinder nachzudenken, Ava Anna Johannson?
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[00:00:02.270] - Ava Anna Johannson
Das war natürlich irgendwie eine schwere Nachricht auch für meine Kinder, das dann auch auszuhalten, dass ihre Mutter so eine Vergangenheit hatte. Aber ich habe das gemacht und ich glaube, dass das total gut ist, mit den Kindern zu sprechen, weil zum einen meine Kinder so das gut einordnen konnten und auch können, was mit mir los war, dass sie auch besser verstehen können, so in Kontakt mit meiner Herkunftsfamilie. Was da für Dynamiken passieren und warum die passieren. Genau dieses Thema, dass meine Kinder wussten, ich hole mir Unterstützung. Sie sind nicht verantwortlich, sie haben auch keine Schuld an meinem Zustand. Das finde ich, ist auch ein wichtiges Thema.
[00:00:43.190] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:01:05.790] - Nadia Kailouli
Erfahrungen mit sexueller Gewalt begleiten viele Betroffene ihr Leben lang. Und sie tauchen auch dann wieder auf, wenn es um Fragen der Lebensplanung geht. Zum Beispiel: "Will ich Kinder? Kann ich eine gute Mutter oder ein guter Vater sein? Wie schütze ich mein Kind? Und wann erzähle ich überhaupt, was mir passiert ist?" Wie es ist, wenn Menschen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erleben mussten, selbst Kinder bekommen, wurde jetzt in einer Studie untersucht. Eine, die genau weiß, wie schwierig das sein kann, ist Ava Anna Johannson. Sie hat in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt durch Familienangehörige erlebt und später selbst zwei Kinder bekommen. Sie ist Mitgründerin des Betroffenennetzwerks Sexueller Missbrauch in Schleswig Holstein und erzählt uns heute, wie das ist, als Betroffene selbst Mutter zu werden.
[00:01:48.690] - Nadia Kailouli
Dann sage ich Herzlich willkommen bei einbiszwei. Ava Anna Johannson.
[00:01:53.250] - Ava Anna Johannson
Ja, vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, hier zu sein.
[00:01:56.220] - Nadia Kailouli
Wir freuen uns auch sehr. Und du hast so einen wunderschönen Namen. Ava Anna Johannson. Das muss man mal sagen. Das ist ein wirklich schöner Name.
[00:02:03.640] - Ava Anna Johannson
Ja, vielen Dank. Ich freue mich auch darüber.
[00:02:06.310] - Nadia Kailouli
Aber wir sprechen heute eigentlich über, ja, wo man immer denkt, das ist doch was Schönes. Viele sagen, das ist doch das Schönste auf der Welt. Aber wir sprechen heute darüber, dass das auch ganz traurig sein kann, schmerzhaft sein kann. Wir sprechen über das Thema Kinderkriegen und vor allem, wenn Menschen Kinder kriegen oder vor der Entscheidung stehen, ob sie vielleicht ein Kind kriegen wollen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.
[00:02:29.500] - Ava Anna Johannson
Genau.
[00:02:29.950] - Nadia Kailouli
Du hast da bei einer Studie mitgemacht und die heißt: "Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend". Was war das für eine Studie?
[00:02:38.980] - Ava Anna Johannson
Das war eine Studie von der Aufarbeitungskommission. Die hat eben festgestellt, dass das ein Thema ist, mit dem sich bisher noch gar nicht wirklich auseinandergesetzt wurde. Was bedeutet das eigentlich für Betroffene, wenn sie vor der Entscheidung stehen, ob sie Eltern werden möchten oder nicht? Und was bedeutet das auch, wenn sie Kinder haben für das Familienleben, für das Aufwachsen der Kinder, für die betroffenen Eltern, wenn Kinder da sind.
[00:03:06.870] - Nadia Kailouli
Wir können an dieser Stelle ganz offen sagen, du bist Mutter, du hast zwei erwachsene Kinder heute. Du bist aber auch Opfer von sexualisierter Gewalt. Wann war das für dich ein Thema: "Bekomme ich Kinder? Bekomme ich keine Kinder oder habe ich Angst davor? Vielleicht kannst du uns da ein bisschen mitnehmen, wie das so bei dir war?
[00:03:26.340] - Ava Anna Johannson
Ja, sehr gerne. Tatsächlich war das bei mir so, diese Entscheidung, ob ich Kinder bekomme oder nicht, da hat meine Betroffenheit von sexuellem Missbrauch bewusst gar keine Rolle gespielt. Ich war zu der Zeit glücklich verheiratet und fand es ganz normal, dann Kinder zu bekommen. Und ich glaube, so ein Impuls war schon auch der Wunsch, ein normales Leben zu haben. Und da glaube ich im Rückblick schon, dass es da auch Zusammenhänge gibt zu meiner Vorerfahrung, dass das schon auch ein großer Wunsch war.
[00:03:58.390] - Nadia Kailouli
Das heißt für dich war so in der Zeit, wo du verheiratet warst im Leben, standest, da war das Thema sexueller Missbrauch gar nicht präsent in deiner Familienplanung sozusagen?
[00:04:09.280] - Ava Anna Johannson
Genau. Tatsächlich war es bei mir so, dass ich so mit dem Erwachsenwerden und mit dem Auszug aus meinem Elternhaus so einen starken Wunsch hatte, meine Kindheit und Jugend wirklich hinter mir zu lassen, nach vorne zu gucken, ein normales Leben zu haben. Und ich habe das Thema Missbrauch wirklich sehr aktiv auch aus meinem Leben verdrängt. Das ist dann eben erst später wieder hochgekommen, als meine Kinder ungefähr neun und elf waren. Da hat es mich dann wieder eingeholt.
[00:04:37.960] - Nadia Kailouli
Was war da? Was hat dich da genau eingeholt?
[00:04:40.720] - Ava Anna Johannson
Es gab ein Triggerereignis, also was das war, ist glaube ich, in dem Zusammenhang nicht wichtig. Das hat nur dazu geführt, dass die ganzen Erinnerungen an den Missbrauch wirklich ganz plötzlich und in einer ganz dramatischen Weise wieder hochgekommen sind. Ich hatte es wirklich so von jetzt auf gleich mit ganz vielen starken Emotionen, mit Körpererinnerungen zu tun, mit Flashbacks, mit einer ganz hohen Anspannung und wusste im ersten Moment gar nicht, was ist eigentlich los mit mir? Und das hat sich dann eben im Laufe des Prozesses herausgestellt, dass das die Erinnerungen an den Missbrauch sind. Und das waren so zusammengefasst Symptome, wie man sie einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung zuordnen würde.
[00:05:25.150] - Nadia Kailouli
Wie geht man dann damit um? Man ist eine erwachsene Frau. Ja, man hat diese Historie in seiner Vita, dass da Missbrauch passiert ist, hat aber irgendwie, wie du gerade so schön gesagt hast, gesagt: "Ey, ich will das alles hinter mich lassen, ich will eine Familie aufbauen, ich will ein schönes Leben führen." Und auf einmal kommt da ja dieser Trigger und diese Erinnerung. Und dann hat man aber ein Kind zu Hause und das ist neun Jahre alt. Wie geht man dann damit um?
[00:05:50.740] - Ava Anna Johannson
Das war schwierig. Einfach, weil ich in einem totalen Ausnahmezustand war, wirklich dringend Unterstützung gebraucht habe und dementsprechend nicht so da sein konnte für meine Kinder, wie ich es gerne gewesen wäre und wie es sicherlich auch gut gewesen wäre für meine Kinder, Sondern ganz im Gegenteil war es so, dass natürlich meine Kinder sich auch gefragt haben was ist da los? Und sich Sorgen gemacht haben. Ich hatte ganz viele Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, also wie ich damit umgegangen bin, war, für mich war es klar, dieser Zustand muss sich ändern, weil er einfach auch so unaushaltbar war und auch, weil ich natürlich gut für meine Kinder da sein wollte. Und dementsprechend habe ich mir Hilfe und Unterstützung gesucht.
[00:06:35.690] - Nadia Kailouli
Das heißt, du hast dich zurückgezogen in der Zeit, weil du nicht damit ja, ich will nicht sagen klargekommen bist, aber irgendwie nicht anders einen Umgang damit finden konntest, was da für Erinnerungen hochgekommen sind. Also waren das Erinnerungen, die dann sozusagen präsent im Alltag waren und man sich gedacht hat: "Oh Gott, ich will das aus meinem Kopf rausbekommen."?
[00:06:55.790] - Ava Anna Johannson
Genau so war das. Das war tatsächlich. Zum Beispiel war das von außen, denke ich, spürbar oder für meine Kinder spürbar dadurch, dass ich wirklich permanent hoch angespannt war, damit auch leicht reizbar war, dass ich ja ganz oft tatsächlich mich zurückziehen musste, um mich irgendwie zu sortieren, dass ich ja an ganz vielen Dingen, die für meine Kinder im Leben wichtig waren, Kindergeburtstage zum Beispiel, Schulaufführungen, nicht teilnehmen konnte, weil mich das komplett reizüberflutet hätte zum Beispiel, weil, weil auch Nähe zu zu vielen Menschen schwierig war.
[00:07:32.060] - Nadia Kailouli
Jetzt haben sie sozusagen deine Kinder mitbekommen: "Mama geht es nicht gut." Du bist direkt sozusagen den Schritt dann auch gegangen zu merken: "Okay, so will ich aber auch nicht leben. Ich hole mir da Unterstützung." Wie vermittelt man das dann zu Hause bei den Kindern?
[00:07:46.550] - Ava Anna Johannson
Das fand ich tatsächlich nicht schwer, weil ich fand, es war eine gute Nachricht, meinen Kindern zu sagen: "Ich hole mir Hilfe." Da steckte auch drin: "Ihr müsst euch nicht kümmern, ihr müsst keine Verantwortung übernehmen. Ich kümmere mich selber darum und tue alles, was ich kann, damit es mir besser geht."
[00:08:05.310] - Nadia Kailouli
Ab wann war das Thema, das Thema sozusagen zu thematisieren? Also ab wann holt man dann die Kinder ins Boot und sagt denen: "Mama ist damals was passiert, das war nicht schön."
[00:08:17.820] - Ava Anna Johannson
Das war bei mir Schritt für Schritt. Also tatsächlich war am Anfang das, was ich eben sagte, dieses "Ich bin in einem Ausnahmezustand, aber ich hole mir Hilfe", die Botschaft an meine Kinder, aber was mit mir los war, das musste ich tatsächlich auch selber erst mal rausfinden und sortieren. Und es war schon ein mühsamer und langer Prozess in der Psychotherapie. Und es hat auch beinhaltet für mich selber erst mal eine Sprache zu finden für das, was mir als Kind passiert ist, weil die hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Genau. Und das waren so Schritte auf dem Weg, dass ich in der Therapie geübt habe, darüber zu sprechen und mir dann geschützte Räume gesucht habe und so weit es immer möglich war, auch mit meinen Kindern das Gespräch gesucht habe. Und was ich am wichtigsten finde für das Gespräch mit meinen Kindern, war, dass ich ihnen auch gesagt habe: "Ich bin auf dem Weg und wir müssen zusammen gucken, wie kriegen wir das hin? Auf jeden Fall möchte ich, dass ihr Fragen stellen könnt, wenn ihr Fragen habt. Und soweit ich das kann und es mir möglich ist, gebe ich darauf auch Antwort." Ja, und ich glaube, dieses den Kindern zu ermöglichen, Fragen zu stellen und dass sie so eine Erlaubnis haben und nicht denken: "Oh Gott, ich will meine Mutter ja nicht zusätzlich belasten oder ähnliches. Ist ein ganz wichtiger Punkt, weil Kinder ganz gut wissen, welche Informationen sie im jeweiligen Alter gerade gebrauchen und welche vielleicht auch nicht.
[00:09:41.820] - Nadia Kailouli
Jetzt sind deine Kinder ja heute erwachsen.
[00:09:43.680] - Ava Anna Johannson
Genau.
[00:09:44.040] - Nadia Kailouli
Ab wann oder gab es den Zeitpunkt, wo du so ganz offen mit denen reden konntest, wo sie ganz offen verstanden haben als erwachsene Person: "Mama wurde sexuell missbraucht."
[00:09:55.160] - Ava Anna Johannson
Ja, den Zeitpunkt gab es. Weil das eben irgendwann benannt wurde. Und dann gab es immer mal wieder auch Fragen von meinen Kindern: "Was ist genau passiert?" Und so Stück für Stück habe ich das dann auch beantwortet. Je nachdem, wie viel sie auch wissen wollten.
[00:10:09.650] - Nadia Kailouli
Das war ja wahrscheinlich auch nicht so leicht, oder?
[00:10:11.600] - Ava Anna Johannson
Das war nicht leicht. Das war natürlich irgendwie eine schwere Nachricht auch für meine Kinder, das dann auch auszuhalten, dass ihre Mutter so eine Vergangenheit hatte. Für mich war das tatsächlich auch schwer im Gespräch diese Dinge auszusprechen. Das habe ich immer wieder gemerkt, dass das eine Herausforderung war, auch die eigene Scham zu überwinden. Tatsächlich. Aber ich habe das gemacht und ich glaube, dass das total gut ist, mit den Kindern zu sprechen. Weil zum einen meine Kinder so das gut einordnen konnten und auch können, was mit mir los war, dass sie auch besser verstehen können, so in Kontakt mit meiner Herkunftsfamilie, was da für Dynamiken passieren und warum die passieren. Genau dieses Thema, dass meine Kinder wussten, ich hole mir Unterstützung. Sie sind nicht verantwortlich. Sie haben auch keine Schuld an meinem Zustand. Das, finde ich, ist auch ein wichtiges Thema.
[00:11:03.790] - Nadia Kailouli
Nun hast du ja an dieser Studie mitgemacht und da war klar, du bist damit nicht alleine. Da gibt es viele Betroffene, die vor den gleichen Herausforderungen standen oder sogar noch stehen. Und kannst du uns einen Einblick darin geben? Du hast die Studie nicht geleitet, du bist Teilnehmerin, aber du hast ja viel mitbekommen vielleicht, was das darüber hinaus, was sind das so für Themen, die Menschen betreffen, in der ich sag jetzt mal Familienplanung?
[00:11:31.450] - Ava Anna Johannson
Ja, genau. Das erste ist tatsächlich wo es schon wichtig wird, die Entscheidung möchte ich überhaupt Kinder bekommen oder nicht? Da ist es so, dass das Thema Missbrauch auf jeden Fall bei ganz vielen Betroffenen eine Rolle spielt. Und Menschen entscheiden sich für Kinder, weil sie zum Beispiel ähnlich wie ich vielleicht den Wunsch haben nach einer eigenen heilen Familie, weil sie den Wunsch haben, dass die eigenen Kinder es besser haben als sie selbst. Genau. Weil Kinder natürlich auch Hoffnung beinhalten auf die Zukunft. Andere Menschen entscheiden sich bewusst gegen Kinder, weil sie sagen. "Ich weiß gar nicht, ob ich meinen Kindern gerecht werden kann mit all den Belastungen, die ich mitbringe." Manche sagen auch: "Ich habe Angst davor, selber Täter zu werden. Und damit das nicht passiert, schütze ich meine nicht geborenen Kinder." Andere entscheiden sich gegen Kinder, weil sie Angst davor haben, dass die Kinder vielleicht in anderen Kontexten Opfer werden. Und dann gibt es auch noch die Gruppe derer, die tatsächlich aufgrund der körperlichen Folgen des Missbrauchs gar keine Kinder bekommen können. Und ja, ich denke so all diese Menschen, die gerade keine Kinder bekommen, weil es nicht möglich ist oder weil sie sich auch dagegen entscheiden aufgrund der eigenen Erfahrungen. Das ist total traurig und ich wünsche mir, dass das Thema mehr Sichtbarkeit bekommt.
[00:12:57.770] - Nadia Kailouli
Ich habe dazu auch ein bisschen was gelesen und das Thema, was du gerade ansprichst, dass sie keine Kinder bekommen können, das muss man vielleicht noch mal deutlicher besprechen. Da geht es jetzt nicht darum, dass sie gesundheitliche Einschränkungen haben, was den Körper betrifft, sondern dass sie einfach nicht in der Lage sind, irgendwie in eine gewisse Intimität dafür zu gehen. Habe ich das richtig verstanden und gelesen, oder?
[00:13:20.420] - Ava Anna Johannson
Also beides gilt tatsächlich. Es gibt auch Menschen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen als Folge des Missbrauchs keine Kinder bekommen. Aber natürlich hat die Missbrauchserfahrung auch Auswirkungen auf Partnerschaft, auf Sexualität, auf Intimität. Genau. Und das ist für viele Betroffene schwer, das zuzulassen. Oder sogar unmöglich.
[00:13:43.430] - Nadia Kailouli
Wie war das für dich, als du an dieser Studie teilgenommen hast. Die ist ja jetzt im März erst erschienen und der ganze Weg sozusagen schon hinter dir lag. Du hast ja lange das erst mal mit dir ausgemacht, dir therapeutische Hilfe geholt. Deine Kinder waren noch klein und jetzt dann sozusagen Jahrzehnte später, irgendwie kommt jetzt so eine Studie und auf einmal haben wir Möglichkeiten, besser darüber zu sprechen, das besser zu untersuchen. Tabubruch ist da auch ein großes Thema. Wie hast du das so erlebt, diese Zeit, da in dieser Studie dabei zu sein und zu auch andere Geschichten zu hören und deine eigene Geschichte mit für diese Studie zur Verfügung zu stellen?
[00:14:23.580] - Ava Anna Johannson
Also als erstes habe ich mich gefreut, als ich gefragt wurde, ob ich Teil der Forschungsgruppe sein möchte. Das kam zustande, weil ich auch schon an anderen Studien und Projekten der Aufarbeitungskommission und der UBSKM teilgenommen habe. Von daher kannte ich Barbara Kavemann schon vorher und für mich hat es in ganz vielen Aspekten einen Wert. Das eine ist, dass ich persönlich wirklich auch von diesem Austausch, den wir in der Forschergruppe hatten, profitiert habe und eben auch von all diesen Erkenntnissen, die in der Studie zusammengekommen sind, weil das auch noch mal diesen Effekt hatte. Ich bin gar nicht die einzige, der es so geht, sondern ganz viele Betroffene haben Probleme und Fragen in Bezug auf Elternschaft. Das ist so ein Aspekt. Ein anderer Aspekt ist, dass so diese ganzen schrecklichen Erfahrungen, die ich mitgebracht habe, wenn ich die einbringen kann in so ein Projekt, was am Ende zu neuen Erkenntnissen führt, aus denen Forderungen abgeleitet werden können oder die zur Verbesserung der Situation von Betroffenen beiträgt, dann finde ich, gibt es so meiner Erfahrung im Nachhinein ein Nutzen und damit auch ein Stück weit einen Sinn. Und das finde ich, finde ich sehr wertvoll für mich.
[00:15:40.890] - Nadia Kailouli
Jetzt fragt man sich natürlich, wie kann man denen denn helfen? Also wenn man jetzt sogar das Ergebnis dazu hat, dass Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Kinderplanung oft vor Herausforderungen stehen, vor großen Fragen stehen: "Kann ich das überhaupt?" Und dann dazu kommen: "Nein, ich glaube, ich kann das gar nicht." Was ja natürlich total schade ist, weil man sich denkt: "Vielleicht kannst du es ja doch." Aber irgendwas blockiert dann ein und man hat so eine große Angst davor. Wie kann man diesen Leuten helfen zu sagen, okay, also gibt es da bestimmte Therapiemöglichkeiten oder gibt es einfach nur den guten Zuspruch oder so, um zu sagen "nur" in Anführungsstrichen: "Nur weil du sexuellen Missbrauch erlebt hast, heißt das nicht, dass du nicht trotzdem ein guter Vater eine gute Mutter sein kannst."
[00:16:28.860] - Ava Anna Johannson
Ich finde, das ist schon mal eine wichtige Erkenntnis, dass Betroffene nicht per se bessere oder schlechtere Eltern sind als der Bevölkerungsdurchschnitt, sondern dass sie eben spezielle Herausforderungen mitbringen. Wo ich aber glaube, viele davon kann man mit Unterstützung auch gut bewältigen. Ich glaube, was es braucht, ist tatsächlich sind Räume, in denen man das Thema besprechen kann, also zum Beispiel spezialisierte Beratungsangebote. Aber auch überall da, wo das Thema Elternschaft, Elternwerden aufploppt, Menschen, die auch bereit sind, mal nachzufragen, ist die eigene Betroffenheit von Missbrauch ein Thema, was in dem Zusammenhang mit der Entscheidung eine Rolle spielt? Das können zum Beispiel Hebammen sein, das kann in der Schwangerschaftskonfliktberatung sein, das können Frauenärztinnen sein, die vielleicht auch dieses Thema gezielt mal ansprechen.
[00:17:22.120] - Nadia Kailouli
Viele haben ja da auch vor allem Angst vor der Geburt. Warum spielt da die Geburt so eine große Rolle? Weißt du das?
[00:17:30.370] - Ava Anna Johannson
Ja, Schwangerschaft und Geburt bedeuten ja massive körperliche Veränderungen. Und man beschäftigt sich natürlich sehr mit dem eigenen Körper. Man hat viele Untersuchungen und das birgt natürlich das Risiko, dass man auch noch mal so ganz dicht wieder an diese Missbrauchserfahrungen rankommt. Und speziell Geburt ist tatsächlich ein Thema, wo man noch mal in besonderer Weise, ich sag jetzt mal in Tüdelchen "ausgeliefert" ist. Wenn es gut läuft, hat man dieses Gefühl nicht. Wenn es schlecht läuft, hat man aber tatsächlich dieses Gefühl mit dem Körper passiert ganz viel. Das ist ja schon auch eine Grenzerfahrung. Und bei mir zum Beispiel war es so, und das sagen auch ganz viele andere Betroffene in der Studie, dass sie Gewalt erlebt haben unter der Geburt. Und das macht es natürlich dann alles noch viel schlimmer.
[00:18:21.760] - Nadia Kailouli
Dazu hatten wir tatsächlich auch schon mal eine Folge hier bei einbiszwei Gewalterfahrungen in in der Geburt, bei der Geburt oder überhaupt bei gynäkologischen Untersuchungen. Aber klar, wenn man in der Kindheit in der Jugend Gewalt erfahren hat, sexuellen Missbrauch erfahren hat, dann ist das wahrscheinlich so der Triggermoment oder kann zu einem Triggermoment werden.
[00:18:41.060] - Ava Anna Johannson
Kann zu einem Triggermoment werden. Genau.
[00:18:43.670] - Nadia Kailouli
Ja, genau. Man muss natürlich immer sagen, nicht jeder oder jede erlebt irgendwie das Gleiche. Aber das sind alles so Faktoren, die passieren können und die dann uns wieder zu der Frage hinbringen: Warum kann es für Betroffene sexuellen Missbrauchs zu Herausforderungen kommen, zu schmerzhaften Erfahrungen kommen, wenn man dann selber in die Familienplanung geht? Gibt es denn aber auch tatsächlich jetzt mal ganz doof gefragt, Erkenntnisse darüber, dass man sagt: Ja, Betroffene von sexuellem Missbrauch haben vielleicht auch tatsächlich Probleme damit, ich will nicht sagen, für ihre Kinder da zu sein, aber loszulassen, weil man die Angst auch hat, dass das dem eigenen Kind auch passieren kann?
[00:19:21.050] - Ava Anna Johannson
Also ob es dazu genaue Zahlen gibt, glaube ich nicht, kann ich aber gar nicht sicher sagen. Und da gilt glaube ich, das, was ich vorhin gesagt habe, dass betroffene Eltern eben, dass man nicht generell sagen kann, sie sind bessere oder schlechtere Eltern, sondern sie bringen bestimmte Voraussetzungen mit belastende Voraussetzungen, aber das gilt ja auch für viele andere Eltern. Da gibt es vielleicht andere belastende Vorerfahrungen, die eine Rolle spielen können, dass es zu bestimmten Schwierigkeiten beim Aufwachsen der Kinder führen kann. Und tatsächlich, was ich so im Kopf habe zu den Berichten von den Menschen, die sich in der Studie beteiligt haben, ist es sehr unterschiedlich gewesen. Natürlich ist es für einige Betroffene schwierig, loszulassen, die Kinder auch anzunehmen. Dann spielt das Geschlecht der Kinder manchmal eine Rolle. Dann gibt es aber auch andere Betroffene, die sich wirklich gut darauf vorbereiten und die dann auch gut gewappnet sind, diese Herausforderungen zu meistern und die somit den Kindern auch ein gutes Aufwachsen ermöglichen.
[00:20:26.430] - Nadia Kailouli
Glaubst du, es braucht dafür spezielle Therapieangebote oder Beratungsangebote?
[00:20:32.220] - Ava Anna Johannson
Ja, ich würde mir das wünschen. Also tatsächlich ist es ja eh so, also ich kenne das aus dem Bereich Menschen mit psychischen Erkrankungen, wenn man sich in Psychotherapie begibt, spielen die Kinder nur sehr am Rande eine Rolle, wenn überhaupt. Und ich finde das wichtig, dass das viel mehr auch ins Zentrum gerückt wird, dass man guckt, wie ist die Familienkonstellation, was brauchen die Betroffenen, um auch gute Eltern sein zu können? Was brauchen auch die Kinder? Ich bin auch sehr dafür, dass die Kinder ein eigenes Angebot bekommen, dass sie auch Ansprechpersonen außerhalb der Familie haben, mit denen sie über schwierige Themen sprechen können, auch vertrauensvoll sprechen können.
[00:21:12.750] - Nadia Kailouli
Nun bist du ja Diplompädagogin, das heißt, du bist auch in einem Bereich tätig, wo man ja unter anderem auch vielleicht über diese Themen sprechen kann. Ist das etwas, was du, oder ich weiß gar nicht, ist das was, was du jetzt auch nach der Studie so mehr und mehr auch in deinen Fokus rückst, zu sagen: "Okay, wir müssen Räume schaffen, wo wir darüber reden." Weil du selber gemerkt hast, es ist eigentlich total gut, wenn wir darüber reden und wenn wir dazu auch Daten und Fakten haben.
[00:21:38.640] - Ava Anna Johannson
Auf jeden Fall Reden, finde ich, ist ein Schlüssel, die eigene Scham zu überwinden, die Täter zu entmachten, gegenseitiges Verständnis zu wecken. Ich finde, Reden schult auch die Kompetenz der Kinder. Wenn sie wissen, sie können auch über schwierige, schambehaftete Themen sprechen, ist das ja auch ein wirksamer Schutz, wenn auch die Kinder mal in schwierige Situationen geraten, dass sie sich dann auch trauen, das anzusprechen, zu Hause zum Beispiel oder in in anderen Bereichen. Ich würde nur gerne kurz korrigieren: Ja, ich bin Diplompädagogin, aber sehe mich selbst in erster Linie als EX-IN-Genesungsbegleiterin. Das muss ich vielleicht kurz erklären.
[00:22:19.230] - Nadia Kailouli
Ja, bitte.
[00:22:20.160] - Ava Anna Johannson
Genau. EX-IN steht für Experienced Involvement und ist eine Qualifikation für Menschen mit psychischen Erkrankungen zur Genesungsbegleiterin. Und die Idee dahinter ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit Genesungserfahrung ganz viel wertvolles Erfahrungswissen sammeln und das wieder ins Hilfesystem einzubringen. Und das, finde ich, kann man analog genauso sagen für Betroffene von sexuellem Missbrauch. Tatsächlich gibt es ja auch eine große Schnittmenge. Viele Menschen, die von Missbrauch betroffen sind, haben eine psychische Erkrankung und ganz viele Menschen mit psychischer Erkrankung haben auch eine Missbrauchsgeschichte. Und das ist die Perspektive, mit der ich unterwegs bin, ganz ausdrücklich die Betroffenenperspektive. Und das, was ich so an Erfahrungswissen mitbringe, möchte ich einbringen. Und ich möchte Menschen eben auch auf dieser Ebene der Peer-Ebene begegnen: "Wir haben einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund und lass uns darüber ins Gespräch kommen."
[00:23:19.930] - Nadia Kailouli
Warum glaubst du, sollte das auch andere motivieren, das zu machen? Weil viele haben ja vor allem so eine Angst. Du hast jetzt Scham ein paar Mal ja genutzt das Wort. Und viele haben ja auch Angst, also gerade im familiären Kontext. Ich stelle mir jetzt gerade vor, okay, da wird, da wird dem Kind erzählt, sei es auch das Kind ist schon älter: "Oma oder Opa haben Mama was Böses angetan damals", aber der Kontakt ist noch da, der ist gar nicht abgebrochen, sondern es ist jetzt Oma und Opa. Also da spielt ja wahrscheinlich auch der Gedanke mit eine Rolle: "Also kann ich das meiner Familie überhaupt", in Anführungsstrichen, "antun", dabei wurde ja der Betroffene was angetan, "dass der Täter in der Familie ist."
[00:24:00.710] - Ava Anna Johannson
Da ist es natürlich eine total wichtige Frage, wo man, glaube ich, ganz sorgfältig abwägen muss und auch gucken muss, was ist notwendig, damit den Kindern nicht das Gleiche passiert? Das ist natürlich eine wichtige Frage. Bei mir war das nun so, dass meine Täter, als meine Kinder da waren, in meiner Familie keine Rolle mehr gespielt haben. Entweder weil sie nicht mehr am Leben waren oder weil es sowieso keinen Kontakt mehr gab. Trotzdem war es aber so, dass in meiner Familie es ganz viele dysfunktionale Muster gab, also Täter waren weitläufigere Verwandte, nicht meine Eltern, aber meine Eltern waren ja Menschen, die das Ganze nicht bemerkt haben, weil sie es vielleicht auch nicht bemerken wollten, obwohl es deutliche Anzeichen gab. Also Menschen, die das Ganze auch zugelassen haben. Und auch das hat ja eine Dynamik und von daher war das auch für mich schon immer so eine Frage Wie kann der Kontakt zu meiner Herkunftsfamilie für meine Kinder auch gut sein?
[00:24:59.240] - Nadia Kailouli
Welche Antwort hast du darauf gefunden?
[00:25:01.880] - Ava Anna Johannson
Das hat sich im Laufe des Prozesses verändert. Tatsächlich war das so als meine Kinder noch klein waren, habe ich so ganz unbewusst diese ungünstigen Muster aus meiner Herkunftsfamilie mitgemacht, mitbedient. Eins davon war zum Beispiel, dass es ganz viele unausgesprochene Erwartungen gab, die man aber irgendwie erfüllen musste. Und das habe ich auch von meinen Kindern erwartet. Aber als ich selber in diesen Prozess von Aufarbeitung gegangen bin und auch in das Gespräch mit meinen Kindern gegangen bin, war wirklich ganz wichtig, meinen Kindern zu sagen: "Traut eurer Wahrnehmung, nehmt eure eigenen Bedürfnisse ernst. Und wenn es zum Beispiel in meiner Herkunftsfamilie wirklich ein Tabu ist, Ketchup auf die Nudeln zu machen, ist mir das total egal. Wenn ihr das möchtet, dann macht ihr das trotzdem."
[00:25:53.160] - Nadia Kailouli
Aber ich finde, das ist so ein schöner Satz, dass einfach die Erlaubnis für Ketchup auf die Nudeln ja, das ist einfach ein Sinnbild für Freiheit: "Ja, wenn ich das machen möchte, dann mache ich das." Ava Anna Johannson, ich danke dir so sehr, dass du heute bei uns warst und uns einen Einblick in dein Leben gegeben hast. Aber auch einen Einblick in eine sehr, sehr wichtige Studie. Vielen, vielen Dank für deinen Besuch heute.
[00:26:17.580] - Ava Anna Johannson
Sehr gerne. Es hat mich gefreut.
[00:26:22.680] - Nadia Kailouli
Ja, Mensch, das war ja sehr eindrücklich, was Ava uns hier erzählt hat. Und man muss ja mal sagen, also da macht man sich ja oft gar keine Gedanken drüber, wie ist das denn eigentlich dann, wenn man sagt: "Hey, will ich eigentlich Kinder? Kann ich das überhaupt? Schaffe ich das überhaupt?" Oder dann, während ich schon Kinder habe, kommt dann auf einmal die Erinnerung zurück. Also gut, dass wir genau darüber heute auch mal hier bei einbiszwei gesprochen haben.
[00:26:50.680] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info. Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-mail an einbiszwei@ubskm.Bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handel 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
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Erfahrungen mit sexueller Gewalt begleiten viele Betroffene ihr Leben lang. Und sie tauchen auch dann wieder auf, wenn es um Fragen der Lebensplanung geht: Will ich Kinder? Kann ich eine gute Mutter oder ein guter Vater sein? Wie schütze ich mein Kind und wann erzähle ich ihm, was mir passiert ist?
Genau das wurde jetzt in einer Studie untersucht: Was bedeutet es, Eltern zu werden, wenn man in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hat? Über 600 Betroffene haben mitgemacht – manche in langen Interviews, andere über einen Online-Fragebogen. Die Studie wurde von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gefördert und im März veröffentlicht.
Eine, die mitgewirkt hat, ist Ava Anna Johannson. Sie hat in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt durch Familienangehörige erlebt und später selbst zwei Kinder bekommen. Heute arbeitet sie als Diplom-Pädagogin und EX-IN Peerberaterin in der Sozialpsychiatrie. Sie ist Mitgründerin des Betroffenennetzwerks „Sexueller Missbrauch“ in Schleswig-Holstein. Ava hat für die Studie von ihren Erfahrungen mit dem Mutterwerden nach sexueller Gewalt in der Kindheit erzählt.

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Studie der Aufarbeitungskommission: „Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend”
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