
Du hast die „einfachste Psychotherapie der Welt” erfunden – wie funktioniert die „Narrative Expositionstherapie” (NET), Dr. Maggie Schauer?
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[00:00:00.000] - Maggie Schauer
Sexuelle Gewalt führt fast immer zu Traumafolgesymptomen. Es ist tatsächlich eine sehr schädliche, sehr giftige Form der Traumaeinwirkung. Unser Vorgehen war, weil wir in prekären Regionen arbeiten, dass wir eine Traumatherapie entwickeln, die möglichst einfach ist im Sinne von robust und für jedermann zugänglich und möglichst wenig Zeit bedarf, also effektiv ist.
[00:00:29.120] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich für Willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missständen und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:47.980] - Nadia Kailouli
Was traumatische Erfahrungen auslösen können, weiß mein heutiger Gast sehr genau. Die Psycho-Traumatologin Dr. Maggie Schauer hat mit Kindersoldaten gearbeitet, mit Überlebenden von Kriegen und Naturkatastrophen und auch mit Menschen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt haben. Gemeinsam mit den Psychologen Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie eine Therapieform entwickelt, die Menschen helfen soll, genau solche Traumata zu verarbeiten, auch dort, wo eigentlich keine Therapie möglich ist, in Krisengebieten, in Flüchtlingscamps, in Regionen ohne ausreichend psychotherapeutische Versorgung. Die Methode heißt Narrative Expositionstherapie, kurz NET, und wie sie funktioniert, erzählt sie uns am besten selbst.
[00:01:33.940] - Nadia Kailouli
Dann freue ich mich sehr, dass heute die Psychologin und Privatdozentin Maggie Schauer bei uns ist. Herzlich willkommen.
[00:01:40.080] - Maggie Schauer
Ja, gerne. Dankeschön.
[00:01:41.790] - Nadia Kailouli
Wir sind uns zugeschaltet und ich sage direkt, worüber wir sprechen. Und zwar sprechen wir über „die einfachste Psychotherapie der Welt". So heißt nämlich unter anderem dein Buch und das klingt jetzt zu schön, um wahr zu sein. Was ist denn „die einfachste Psychotherapie der Welt"?
[00:01:56.840] - Maggie Schauer
Ja, der Titel ist missverständlich. Der soll auch gar nicht zynisch klingen, weil Traumapsychotherapie natürlich nie einfach sein kann. Der ist immer schmerzhaft und ist auch kein Quick Fix. Nur, es gibt dem Menschen wesensgerechte Therapien, würde ich sagen und da ist die Narrative Expositionstherapie eine davon, weil der Mensch ein Storyteller ist. Wir alle möchten Geschichten erzählen. Von klein aus möchten wir Geschichten hören. Das heißt, wir haben eine natürliche Veranlagung, unsere Lebensereignisse, vor allem die Aufregenden, mitzuteilen. Und das machen wir uns da zunutze bei dieser Art der Traumatherapie. Das heißt, ich muss ganz wenig wissen, ist alles sehr niederschwellig und es ist sogar für Laien-Therapeuten anwendbar, wenn die gut ausgebildet sind. Also es ist nicht einfach im Sinne von, der Vorgang selber ist einfach, sondern ich würde sagen, der Mensch ist dafür gemacht, sich auf diese Weise mitzuteilen und Traumatisierte können das eben gerade nicht. Den helfen wir, Sprache zu finden.
[00:03:02.820] - Nadia Kailouli
Okay, dazu muss ich dann mal auch die Unterschrift des Buches vorlesen, vielleicht. Also „Die einfachste Psychotherapie der Welt" ist der Titel und dann, "Wie wir die Ursache von Stress und Krankheit behandeln und den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen". Das ist sozusagen jetzt auch der volle Titel, nicht, dass man hier verwirrt wird. Jetzt hast du es ja gerade gesagt, das große Wort „Trauma" und „Traumatherapie". Nun, gibt es ja verschiedene Formen. Du hast ja mit Kollegen zusammen eine eigene Therapieform, wenn man so will, entwickelt, dieses abgekürzt NET, richtig?
[00:03:38.580] - Maggie Schauer
NET, nennen wir das.
[00:03:40.060] - Nadia Kailouli
Ach, das nennt man auch NET.
[00:03:40.720] - Maggie Schauer
Die uns kennen.
[00:03:41.390] - Nadia Kailouli
Die NET Therapie. Das klingt auch einfach schön, muss man sagen, die NET Therapie.
[00:03:46.480] - Maggie Schauer
Genau, so ist es.
[00:03:47.710] - Nadia Kailouli
Was beinhaltet das genau?
[00:03:49.560] - Maggie Schauer
Ja, also im Grunde genommen hatten wir vor 20, 30 Jahren noch weniger gute Datenlagen und haben gedacht, der Therapeut, intuitiv gefühlt, es ist so schwer, an das Trauma ranzugehen und keiner möchte das. Also helfe ich Patienten, Patientinnen, Traumaüberlebenden, davon wegzubleiben. Und dann gab es ganz viele Therapievorschläge, wie man sich abspalten kann, wie man das unterdrücken kann, wie man das vielleicht eingrenzen kann, wie ich drüber wegkomme, ohne noch mal zurückzuschauen. Und das hat sich in den Jahrzehnten, die darauf gefolgt sind, komplett widerlegt. Die heutigen Leitlinien spiegeln das wieder in der Versorgung der Menschen, dass wir unbedingt noch mal traumafokussiert vorgehen müssen. Und das bedeutet, wir müssen noch mal das Trauma angehen. Wir müssen eben diese Ereignisse verstehen, aufarbeiten und integrieren. Und da beruht dieser Ansatz darauf. Und unser Vorgehen war, weil wir in prekären Regionen arbeiten, in ressourcenarmen Regionen und Communities, dass wir eine Traumatherapie entwickeln, die möglichst einfach ist im Sinne von robust und für jedermann zugänglich und möglichst wenig Zeit bedarf, also effektiv ist, weil die meisten Menschen, zwei Milliarden Menschen, leben auf der Welt unterhalb der Armutsgrenze und die können sich gar nicht leisten, in Psychotherapie zu gehen. Es gibt auch gar keine professionellen Angebote von Psychiatern oder Psychologen für diese Art der Versorgung. Das heißt, unser Auftrag war, diese Brücke zu bauen, von der Forschung ins Feld und vom Feld zurück und eine Form der Traumatherapie zu entwickeln, die tatsächlich in einer relativ kurzfristigen Zeit durchzuführen ist, mit wenigen Sitzungen schon eine gute Besserung bringt bei Patienten, die multiple und komplex traumatisiert sind.
[00:05:39.340] - Nadia Kailouli
Kannst du uns das genauer erklären, was beinhaltet dann so eine kurze Sitzung? Also wenn wir das jetzt richtig verstehen, handelt es sich eben hierbei nicht um eine Therapie, die über Jahre hinweg gemacht wird.
[00:05:51.860] - Maggie Schauer
Nein, kann nicht sein.
[00:05:52.680] - Nadia Kailouli
Genau, sondern dass das sehr kurzweilig ist und damit aber dann trotzdem effektiv Wenn ich jetzt zu dir komme oder zu einem, der diese Therapieform anwendet, was passiert da? Wie geschieht das?
[00:06:06.360] - Maggie Schauer
Die NET geht in drei Schritten. Wir müssen uns also, so wie wir heute aus der Forschung die Belege haben, an das Trauma annähern von damals. Und da steht uns die Vermeidung im Wege. Vermeidung ist, anders als bei allen psychiatrischen Störungen, bei der Traumatisierung ein Symptombereich, der uns davon ablenken will. Also Traumatisierte mit einer Folgestörung, die würden nicht noch mal dranwollen, nicht drüber sprechen wollen, nicht erinnert werden wollen. Und dieses Vermeiden hält aber die Chronifizierung aufrecht. Das heißt, wie kommen wir da drüber weg? Und auch da gab es dann in der Psychotherapieschule verschiedene Vorschläge, bei der NET machen wir es so: Wir gehen in drei Schritten, die eben in dieser Weise erträglich sind. Das heißt, zunächst einmal fragen wir in Schritt eins die Arten von Trauma ab: „Haben Sie jemals eine Naturkatastrophe erlebt? Haben Sie jemals Unfälle erlebt? Haben Sie jemals, zum Beispiel, sexuelle Übergriffe erleiden müssen? Haben Sie körperliche Gewalt erlebt in Ihrem ganzen Leben? Haben Sie Leichen gesehen? Waren Sie im Kriegsgebiet?" Es gibt also Listen von Ereignis-Checklisten und die gehen wir durch noch ganz auf der faktischen Seite. In Schritt zwei bringen wir diese Ereignisse auf die Lebenszeitlinie, auf die biografische Linie, um zu sehen, wo gehören die hin? Also ich habe das erlebt und das und das und jetzt ordnen wir das zeitlich und räumlich ein. Das wäre ein sehr gut kontrollierter Zugang. Und erst in Schritt drei, der der wichtigste ist, beginnen wir, das ganze Leben zu erzählen, von der Geburt bis heute. Und vor allem die Situationen, die sehr schwierig, sehr aufregend, sehr schmerzhaft waren.
[00:07:46.160] - Nadia Kailouli
Okay, das klingt jetzt aber jetzt natürlich nicht nach einer Tagessitzung, oder?
[00:07:50.080] - Maggie Schauer
Nein, das sind ungefähr 6 bis 12 Doppelsitzungen.
[00:07:53.200] - Nadia Kailouli
Okay, gut. Das heißt, normalerweise, wenn man ja, ich weiß nicht, eine Verhaltenstherapie macht, dann wird einem so eine Doppelstunde pro Woche oder zwei Stunden die Woche angeboten und man fängt dann bei sechs Monaten an oder bei einem Jahr oder sogar bei zwei Jahren und so. Aber hier reden wir von ein paar Monaten, sozusagen, paar Wochen und dann…
[00:08:11.320] - Maggie Schauer
Genau, drei bis vier Monate. Es gibt auch Belege für nur vier Doppelsitzungen. Da wird es aber schon sportlich. Da müssen wir sehr fokussiert vorgehen. Und natürlich die Aufarbeitung und die bleibende Remission und die Besserung, auch körperliche Gesundheit, die ist um umso besser, je mehr sie von dem ganzen Leben betrachten können und die Dinge miteinander in Beziehung setzen.
[00:08:36.680] - Nadia Kailouli
Nun ist ja die Frage: Warum soll ich überhaupt dann zu dieser Therapie kommen? Also ab wann wird mir bewusst oder ab wann soll es Bewusstsein dafür geben, zu sagen, es wäre an der Zeit, eine Traumatherapie zu machen, vielleicht sogar die NET-Therapie?
[00:08:52.180] - Maggie Schauer
Das ist relativ schwierig. Das ist eine gute Frage, wirklich, weil viele Menschen leiden über Jahrzehnte und kommen gar nicht dahin, dass sie merken, das könnte ja ein Symptomkomplex sein, der einen Namen hat. Also deshalb bringt uns auch keiner bei. Ist ja bei Depressionen sehr ähnlich. Wir leiden vor uns hin und keiner bemerkt, was da überhaupt los ist. Also ganz deutlich, glaube ich, könnte jemand merken, dass er gut beraten wäre, in Traumatherapie zu gehen, wenn Intrusionen da sind, also wenn ich Wiedererleben habe, entweder Bilder sehe oder nachts Albträume habe oder auch schmerzhaft erfahre, dass ich Körperreaktionen zeige und Vermeidung aufbaue. Also wenn ich nicht mehr rausgehen kann an Orte, wenn ich merke: „Oh, das muss ich weghalten." Je stärker die Vermeidung wird, umso deutlicher. Dann gibt es noch zwei andere Probleme, die wir haben können. Es gibt Persönlichkeitsveränderungen. Also ich merke, ich sehe mich negativer, ich fühle mich wertlos, ich mag Sozialkontakte nicht mehr eingehen, die regen mich auch auf und die muss ich abbrechen. Also dieser Lustverlust auch überhaupt noch Leute zu treffen, Hobbys zu machen. Und nicht zuletzt, der vierte Bereich wäre die Übererdigung. Also jemand geht hinten bei mir vorbei und ich bin schon gestarteld. Oder mein Kind lässt den Teller fallen und dann werde ich sofort wütend und bin reizbar. Also diese schnelle Auslenkbarkeit, die spricht auch für Symptome aus dem Traumabereich, die ich besser früher angehe als später.
[00:10:26.650] - Nadia Kailouli
Okay. Wie würde es mir denn dann gehen, wenn ich jetzt zwölf Wochen NET-Therapie gemacht habe? Welche Veränderungen habt ihr festgestellt bei den Patientinnen und Patienten?
[00:10:37.320] - Maggie Schauer
Ja, das ist auch eine interessante Frage. Wir sind ja tendenziell als klinische Psychologen und Ärzte immer auf die Symptomatik sehr fokussiert. Die muss natürlich remitieren. Also die Problembereiche, die ich gerade genannt habe, Übererregung, Wiedererleben, Vermeidung und Persönlichkeitsveränderungen, die sollten sich in Richtung gesund verändern und weniger von allem werden. Das ist klar. Also Symptome sollen remitieren. Das bringt mich dann endlich wieder in die Lage, dass ich wieder Kontakte haben kann, dass ich wieder sozialer werde, dass ich mich wertvoller fühle, dass ich mich schminke und schön anziehe und dass ich auch, vor allem geht psychische Krankheit ja mit Dysfunktionalität einher. Ich kann meinen Job nicht durchhalten, kann mich nicht konzentrieren in der Schule und so weiter. Auch das bessert sich deutlich. Und dann haben wir noch Effekte gefunden auf ganz anderen Ebenen. Zum Beispiel das Immunsystem verbessert sich die Lage der T-Helferzellen, die Angriffe aufs Immunsystem abwehren kann. Wir haben sogar eine verbesserte DNA-Reparatur, also wenn Zellen geschädigt werden. Wir haben Effekte im transgenerationalen Bereich. Es ist also günstig, vor der Schwangerschaft idealerweise oder spätestens in der Schwangerschaft Traumasymptome abzuarbeiten. Da haben wir schon eine gute Datenlage. Ist förderlich für die Mutter-Kind-Beziehung und auch für das Parenting, also für die Fähigkeit, ruhige, ausgeglichene, feinfühlige Eltern zu sein. Also es gibt auch transgenerationale Effekte, wenn ich mich da dran traue.
[00:12:14.410] - Nadia Kailouli
Wahnsinn. Jetzt denkt man sich natürlich so: "Um Gottes Willen, habe ich auch ein Trauma?" Vielleicht klären wir mal die Frage: Ab wann hat denn ein Mensch ein Trauma?
[00:12:23.400] - Maggie Schauer
Ja, das wird ja sehr inflationär gebraucht, der Begriff. Und es ist auch okay. Ich kann auch zu einer Freundin sagen: „Du, ich bin total traumatisiert von dem, was mein Chef heute zu mir gesagt hat." Das bedeutet, das war für mich schlimm oder schrecklich oder schon so schockierend. In der klinischen Psychologie ist ein Trauma, da gibt es feste Kategorien. Ich glaube, ich hatte es vorher schon angesprochen. Also alles, was lebensbedrohlich ist für den Körper und für das Zentralnervensystem, also Gewebe, Organe, Zentralnervensystem, das fällt in die Kategorie Trauma. Es gibt eine ganze Liste von Threats to Human Life, also Bedrohungen des menschlichen Erlebens. Da haben wir Hitze, Kälte, Höhe, Beschleunigung, Hunger. Also es gibt sehr viele aus diesem Bereich. Wenn die extrem sind, kann es lebensbedrohlich werden und dann komme ich in eine starke Aufregung und dann geschieht so was wie eine Alarmreaktion, nennen wir das. Und da brennen sich diese heißen Erinnerungen ein. Da beginnt dieser pathologische Prozess. Es gibt aber auch eine soziale Traumata, also soziale Schmerzen, wie Abweisung, Diskriminierung, abgelehnt werden auch von Beziehungspersonen. Auch das würden wir unter Traumatisierung fassen.
[00:13:40.780] - Nadia Kailouli
Jetzt würden vielleicht einige sagen, die nicht so Therapiefreunde sind, sage ich mal: "Na ja, das kann man jetzt aber auch schwer vergleichen, nur weil deine Mutter oder dein Vater dir nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die du dir als Kind vielleicht gewünscht hättest oder verdient hättest, du davon ein Trauma trägst. Kann man das ja nicht vergleichen mit einem Kind, was im Krieg groß geworden ist und Angst hatte und Hungersnot hatte und so." Macht man da in der Therapie Unterschiede oder ist ein Trauma ein Trauma?
[00:14:05.400] - Maggie Schauer
Ich würde sagen, traditionell richten wir uns leider noch zu sehr nach den Symptomen. Also ein Kind, das in der Kindheit abgelehnt wird, wird in der Folge wahrscheinlich eher eine Symptomatik wie eine Depression entwickeln. Ein Kind, das ein Schocktrauma erlebt hat, wie eine Naturkatastrophe oder ein Krieg, hat vielleicht mehr die typischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung mit hoher Aufregung, mit Schlaflosigkeit, mit eben dem Bildersehen, zum Beispiel Ungewolltes wiedererleben. Das heißt, ich habe in der Folge verschiedene Traumaspektrumsreaktionen, sagen wir heute, womöglich, aber Trauma bleibt es trotzdem im klinischen Sinne, weil es schwer schädigt immer dann, wenn ich mich hilflos fühle und überwältigt, also durch Angst. Diese zwei subjektiven Kriterien spielen eine Hauptrolle. Da kann man es gut verstehen. Also wenn jetzt jemand sagt: „Ich habe ein Erdeben erlebt", dann wissen wir nicht, ist es jetzt traumatisch gewesen oder nicht? Dann würden wir den Menschen fragen: „Wie hilflos warst du und wie nah warst du dran? Also wie viel Angst hat es dir gemacht?" Was wir nicht vergessen dürfen, wir wissen heute, dass ein Trauma keine Traumaspektrumserkrankung nach sich zieht, sondern das sind immer mehrere. Wir sprechen von dem Bausteineffekt. Und da können wir Belastungen und Traumata erleiden und an einem Punkt brechen wir und dann haben wir ein Vollbild einer psychischen Erkrankung. Und davor gibt es aber viele, viele Möglichkeiten, die wir haben als Menschen, Ressourcen, wie wir denen begegnen können, ohne gleich psychisch krank zu werden.
[00:15:38.160] - Nadia Kailouli
Jetzt reden wir hier in diesem Podcast ja vor allem über das Thema sexualisierte Gewalt, sexueller Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Kann man sagen, dass sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt, früher oder später zu einem Trauma führt?
[00:15:52.820] - Maggie Schauer
Ja, da würde ich sagen, ja. Sexuelle Gewalt führt fast immer zu Traumafolgesymptomen. Es ist tatsächlich eine sehr schädliche, sehr giftige Form der Traumaeinwirkung.
[00:16:07.660] - Nadia Kailouli
Nun fragt man sich natürlich, der Weg zur Therapie, der wird natürlich besser. Wir haben jetzt eher einen Bedarf von Menschen, die Therapie wollen, die Therapieplätze sind, aber da muss man wirklich Glück haben, einen zu bekommen. Vielleicht die Folgen, die langfristigen Folgen, wenn man sich nicht therapeutisch helfen lässt, vor allem nicht in so einer einfachen Traumatherapie, einfach jetzt nicht despektierlich, sondern eben in wenigen Wochen gesprochen. Welche Folgen kann man langfristig absehen?
[00:16:42.880] - Maggie Schauer
Ich glaube, ich habe es schon angesprochen gerade, erst bekommen sie psychische Symptome, also eben zum Beispiel das Gefühl von Wertlosigkeit oder bei sexueller Gewalt auch viele Ekelgefühle. Sie haben vielleicht eine Veränderung des Essverhaltens daraufhin. Sie haben eine Veränderung im Sozialen, weil sie Kontakt und Berührung nicht mehr ertragen oder jetzt bei der Geburt, dass sie das Kind gar nicht annehmen können und so weiter. Also sexuelles Trauma hat natürlich spezielle auch so Riechen, Schmecken, Berührungen, hat in der Folge auch diese Problematik. Und sie haben eine Angststörung. Sie leben mit dieser Angst und sie leben immer mit, ihre Stressachse wird ganz schnell und immer wieder dauernd täglich nachts und tags ausgelenkt. Und das ist in der Folge eine hohe Ausschüttung von Stresshormonen, die das Immunsystem unterdrückt. Also werden sie auch körperlich kranker. Es gibt viralvermittelte Krebsarten, es gibt Magen-Darm-Erkrankungen, es gibt Herz-Kreislauf-Erkrankungen und so weiter. Das heißt, es beginnt dann, wir sagen immer, die erste Hälfte des Lebens wäre dann mehr diese psychologische Problematik, sozial und beruflich funktionseingeschränkt und auch dann im Leben insgesamt sehr stark behindert, dass sie ein volles gesundes Leben führen können. Und in der zweiten Hälfte des Lebens beginnen mehr und mehr Krankheiten multimorbid. Das heißt, sie sterben womöglich früher, wenn sie mehr Traumaerlebnisse haben. Und sie sterben nicht nur früher im Lebensalter, sondern sie sind die letzten Jahre des Lebens auch viel, viel kränker. Das heißt, es prägt sich leider auch die somatische Seite sehr, sehr negativ aus. Und deshalb ist es ideal, so bald wie möglich den Fuß in die Tür zu kriegen und sich diesen Erinnerungen und dieser Vergangenheit zu stellen.
[00:18:33.520] - Nadia Kailouli
Jetzt hast du ja eingangs gesagt, NET ist eine Therapie, die auch da anwendbar sein soll, wo man nicht jederzeit Zugang zu Therapie hat. Das klingt auch so toll, aber ich kann mir vorstellen, dass das wahnsinnig schwierig ist. Wie geht man denn da vor?
[00:18:50.580] - Maggie Schauer
Ich kann es vielleicht so erklären: Die WHO hat für so Großschadensereignisse oder für Gebiete, wo viele Menschen Versorgung brauchen, einen Screen-and-Treat-Task-Shifting-Ansatz vorgesehen. Das bedeutet, Task-Shifting heißt, ich hole mir Profis aus anderen Berufen und lerne die um, um einzusteigen mit in die Versorgung. Das kann jetzt eine gesundheitliche Versorgung sein, medizinisch. Das kann aber auch eine psychotherapeutische Versorgung sein. Also dieses Task-Shifting, dass wir Laientherapeuten ausbilden, die sind nicht Laien für das, was sie dann machen, aber die kommen aus anderen Kontexten und die muss ich mit einbeziehen, wenn der Bedarf steigt. Und das machen wir, wir nennen das Narrative Trauma Arbeit. Da bilden wir tatsächlich Leute aus, die Biografiearbeit machen, und zwar bei diesem Prozentsatz Menschen, die Trauma erlebt haben – das sind zum Beispiel 40% bei den Geflüchteten –, aber die vielleicht noch nicht das Vollbild entwickelt haben einer Störung, die dann nur wieder von Profis behandelt werden darf. Aber die können von diesem Bausteineffekt über diese Therapiearbeit, die sehr ähnlich ist wie bei der Narrativen Expositionstherapie, können die schon ganz viel runternehmen, um nicht zu kippen in die Störung sozusagen. Das wäre das Task-Shifting. Und Screen and Treat bedeutet, dass sie in der Gruppe der Betroffenen ein leichtes Screening haben, wo sie erkennen, wie zum Beispiel Screenings für Brustkrebs oder für andere Erkrankungen, wer ist denn überhaupt betroffen? Dass sie möglichst früh identifizieren, gehört er in die Gruppe gelb bei der Ampel oder in die Gruppe rot und möglichst früh intervenieren. Also diese Ansätze, die bauen dann auf dem Stufenmodell. Es gibt Leute, die können das Screening, die können das auch auswerten und die überweisen dann oder geben den Weg weiter für die professionellere Hilfe, entweder die Biografiearbeit dann oder eben dann eine ganz spezialisierte Traumatherapie, die dann wirklich in der Gruppe Rot von approbierten Therapeuten, Therapeutinnen ausgeübt wird.
[00:20:52.540] - Nadia Kailouli
Gibt es denn darüber schon Erkenntnisse, inwieweit NET angewendet werden kann in Krisengebieten? Also wenn wir uns jetzt mal zum Beispiel die Ukraine anschauen oder den Gazastreifen anschauen, habt ihr da Erkenntnisse darüber?
[00:21:05.200] - Maggie Schauer
Ja, in der Ukraine arbeiten wir eng mit Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen zusammen und bilden die auch aus. Im Gazastreifen sind wir gerade dabei, ein Kinderprojekt, KidNET, nennt sich das, aufzusetzen. Die Kinder-Jugendtherapie hat so ein paar andere Elemente noch und insgesamt wurde die Hauptevidenz, es sind über 56 kontrollierte Studien und es gibt Revues, es gibt Meta-Analysen, die basiert auf solchen Kriegs- und Krisengebieten. Also wir haben im Gegenteil weniger Studien im globalen Norden und mehr Studien in den Kriegs- und Krisengebieten.
[00:21:40.520] - Nadia Kailouli
Wenn du sagst, wir versuchen gerade, KidNET aufzubauen, unter anderem im Gazastreifen und so. Was heißt denn „wir"? Wer unterstützt euch da? Das ist ja gar nicht so einfach, da einfach hinzukommen, zu sagen: „Hallo, wir haben hier ein Therapieangebot für euch."
[00:21:55.500] - Maggie Schauer
Ja, die Idee ist immer, wir waren ja eigentlich Forscher an der Universität Konstanz und haben dann diesen Brückenbau ganz systematisch gemacht in die Feldsituation vor Ort, in die Gruppen vor Ort. Und zwar Menschen, die eigentlich keinen Kontakt mehr haben zu der Universität und auch die Helfer vor Ort haben keinen Kontakt mehr zur akademischen Welt. Und diesen Brückenbau haben wir systematisch betrieben über Jahrzehnte. Mithilfe unserer NGO Vivo International heißt die. Da wird es zusammengeführt, dass wir diese Erkenntnisse, die wir vor Ort haben, zurückbringen in die Forschung, dort weiterentwickeln, wieder zurückgeben an die Populationen. Also ganz systematisch und immer wissenschaftsbegleitet. Und wer unterstützt uns da? In Deutschland unterstützen uns verschiedene Stiftungen und auch Geldgeber, Spendengeber, aber auch die Regierung, zum Beispiel das Land Baden-Württemberg, unterstützt uns in einem großen Projekt, „Baden-Württemberg schützt" heißt das, wo wir ganz systematisch diesen Screen-and-Treat-Ansatz für Geflüchtete, Folterüberlebende und junge Erwachsene ausbauen, aber inzwischen auch haben wir es geöffnet für andere Migranten, die Hilfen brauchen. Dort bilden wir Migrantenpart:innen aus und auch in einer Innovation wirklich die jungen Therapeut:innen, die jetzt in der Ausbildung sind und die eigentlich nie einen Traumatisierten zu sehen bekommen, im Studium nicht, in ihrer Therapieausbildung nicht. Und wenn sie nicht eine zusätzliche Ausbildung machen zum Traumatherapeuten, dann würden die später, wenn sie in ihren Praxen und ihren Kliniken sind, sagen: „Gottes Willen, Trauma, das soll der Kollege, Kollegin machen", schieben diese Leute gleich weiter und das muss aufhören. Also deswegen gehen wir an die Ausbildungsinstitute und bilden dort junge Auszubildende aus, die bekommen dann schon den ersten oder zweiten Fall traumatisierte Menschen und werden dort supervisiert und begleitet. Und dann sinkt diese Angst und diese Schwelle, auch später solche Patienten, Patientinnen in Therapie zu nehmen.
[00:23:55.880] - Nadia Kailouli
Und die Erkenntnisse darüber, noch mal für mich zusammengefasst: Was ist sozusagen das Ergebnis? Was könnt ihr jetzt schon sagen, dass das gut ist, dass das ankommt, wenn ihr eben in Krisengebieten seid und die Leute ausbildet, in Flüchtlingsunterkünfte geht und, und, und? Also welche Erkenntnisse habt ihr, dass das auch fruchtet, sage ich mal?
[00:24:15.580] - Maggie Schauer
Also es gibt eben verschiedene Erkenntnisse. Das Punkt Eins ist, ich darf ja niemanden beglücken, der das nicht möchte. Also selbst wenn ich mit der Forschung weiterkomme, muss ich gucken, wie ist denn die Akzeptanz in der Bevölkerung? Möchten die überhaupt diese Angebote? Und die werden sehr gut angenommen. Traumafokussierte Therapie hat eine hohe Abbruchrate typischerweise. Bei der NET ist es kaum so. Und eben weil wir da auf diese menschliche Fähigkeit zurückgreifen, wenn ich jemandem sage: „Ich habe jetzt hier eine psychiatrische Störung festgestellt und du bekommst jetzt eine Behandlung", dann fühlen sich die Leute stigmatisiert und denken, sie sind verrückt oder so was. Und wenn ich jetzt aber sage: „Erzähl mir deine Lebensgeschichte", und bilde die Zuhörer aus, diese Lebensgeschichte zu hören, in einer gewissen Weise sehr empathisch, dabei zu bleiben und da, wo es schmerzhaft wird, diese Geschichtenerzählung zu verlangsamen, genauer zu gucken: „Was ist da passiert mit deinem Gehirn, mit deinem Körper? Wie kannst du das verstehen und integrieren?" Also diese Art des guten Zuhörens, die schulen wir und die lässt sich dann auch in der Gesellschaft disseminieren, also dass solche Therapeuten auch an andere Therapeuten dieses Wissen weitergeben. Also es ist nichts Fremdes, was wir da erfunden haben, sondern ist es eigentlich nur diese Fähigkeit professionell ausgebaut.
[00:25:34.620] - Maggie Schauer
Dann, wenn die Akzeptanz gut ist, habe ich natürlich höhere Raten an Teilnehmern und wir haben noch eine, wie möchte ich sagen, Wesenszug der NET, der, glaube ich, extrem bedeutsam ist für Traumatherapie. Sie können nicht mit dem weißen Kittel Traumatherapie machen und den Menschen sagen: „Du bist falsch, du bist krank", weil bei Trauma ist ja anders als bei anderen medizinischen oder sonstigen Störungsbildern, ist ja ein Unrecht häufig passiert, also ein zwischenmenschliches Unrecht. Entweder eine Menschenrechtsverletzung, Kinderrechtsverletzung, Frauentrechtsverletzung oder auch die organisierte Gewalt, die staatliche Verfolgung findet statt. Das heißt, ich muss diesen Aspekt ernst nehmen. Ich muss auch eine, wir nennen das Testimoniearbeit machen. Das heißt, ich dokumentiere das Unrecht. Der Mensch, der da sitzt und erzählt, ist nicht der Traumatisierte, sondern er ist auch Augenzeuge und Zeitzeuge der Geschehnisse. Und damit habe ich einen ganz anderen Aspekt noch mit in der Traumatherapie. Ich mache den Menschen zum Experten, zum Zeugen des Zeitgeschehens, des politischen Unrechts. Und diese Testimonies sind häufig ein wichtiger Grund für Betroffene, diese Erzählungen zu machen. Also die sagen sich: „Okay, es ist für mich schmerzhaft, noch mal dran zu müssen, aber ich mache es ja nicht nur für mich, dass meine Symptome besser werden, sondern meine Kinder sollen wissen, was da im Krieg passiert ist oder die Aufklärung soll zu mehr Frieden beitragen." Also das ist auch ein wichtiger Aspekt, jetzt gerade in dem Konflikt Israel und Palästina, dass wir da nicht so viele politische Querelen haben, sondern dass wir mal Zeugen und Überlebende ihre Aussage machen lassen und dokumentieren und damit auf beiden Seiten am Ende feststellen können, es gibt Verletzungen und wie wirkt die sich auf Menschen aus? Was passiert da in den Gemeinschaften und wie kann da neue, wie entsteht da neue Wut und Hass, wenn meine Angehörigen, meine Kinder verletzt werden? Also da kommen wir um diesen Aspekt nicht herum und wir kommen auch nicht drumherum, das zu dokumentieren. Und was wir tun in der Therapie, wir reden nicht nur ewig, sondern wir hören diese Erzählungen und in der nächsten Sitzung lese ich die Geschichte, die mir letztes Mal erzählt wurde, wieder vor. Und dieser Schritt ist extrem validierend. Viele Betroffene fühlen sich extrem wertgeschätzt, wenn der Zuhörer nicht nur irgendwie da beim Zuhören interveniert hat, sondern wenn er beim nächsten Mal meine Geschichte zurückbringt und sagt: „Ich habe es für dich aufgeschrieben. Jetzt ist es schwarz auf weiß. Magst du es noch mal hören?" Und die fühlen sich sehr berührt davon. Und dann können wir eben Dokumente erstellen, entweder anonymisiert oder mit dem Namen drauf für eine Verwertung in der Menschenrechtsarbeit.
[00:28:22.540] - Nadia Kailouli
Jetzt hast du mehrmals auch angesprochen, dass ihr Menschen ausbildet, die eben eigentlich nicht aus der therapeutischen Arbeit kommen. Wie wird das denn angenommen? Also von therapeutischen Kolleginnen und Kollegen sagen die nicht: „Nein, hallo, ich saß hier, weiß ich nicht, wie viele Jahre im Studium. Und jetzt kommt ihr und sagt hier: 'Mach mal hier ein paar Kurse und dann machst du das.'"
[00:28:44.200] - Maggie Schauer
Ja, da muss man natürlich aufpassen. Also dem approbierten Psychotherapeuten nehmen wir sicher nichts weg. Die sind ja mehr wie überlaufen. Die Wartelisten sind übervoll. Es gibt ja eher Hilferufe, wie das zu bewältigen ist. Wir stellen uns vor, ich bin jetzt mal ganz frech, wir stellen uns das so vor: Der approbierte Psychotherapeut ist der Experte und unter dem arbeiten fünf oder sechs Laientherapeuten. Und der Approbierte würde diese ganz schweren Fälle zu sich nehmen, die wirklich Traumafolgestörungen im Vollbild, wo sich die manifestieren. Aber drunter gibt es eben eine Gruppe belasteter Menschen. Da könnte sich die Funktionalität und die Ressourcenfreilegung enorm verbessern, wenn wir die anleiten, eben schon Teile dieser Erlebnisse aufzuarbeiten. Und so sehen wir das. Es ist natürlich standesrechtlich geregelt. Wir wollen da nicht etwas tun, was nicht erlaubt ist, aber es gibt einen großen Bereich, Hilfe anzubieten unterhalb dieser hochspezialisierten Luxusgruppe, zu der eigentlich keiner Zugang hat.
[00:29:53.020] - Nadia Kailouli
Das heißt, ich könnte das auch machen? Ich könnte mich auch ausbilden lassen?
[00:29:56.740] - Maggie Schauer
Ja, es gibt Menschen, Ihnen traue ich es sehr zu, weil Sie kommunikativ sind, weil Sie Mimik lesen können, Stimme hören können, spüren, was auf der anderen Seite passiert. Sie machen einen Perspektivenwechsel, Sie kapieren, was ich sage und so. Es gibt natürlich schon so, soziale Kompetenz spielt eine Rolle. Es kann sein jemand hat alle Ausbildungen, alle Credentials von den besten Universitäten und trotzdem kann er kein guter Zuhörer sein, Zuhörerin oder kann nicht gut spiegeln, was auf der anderen Seite vor sich geht. Ich denke, diese Leute sind besser im Labor aufgehoben, aber wir nehmen häufig in so Communities, in denen es gar niemanden gibt, der die Fachnähe ist, also Gesundheits- und Sozialberufe eignen sich immer, zum Beispiel Lehrer, Lehrerinnen oder Pfleger, Pflegerinnen oder Krankenschwestern und so weiter. Die sind ja schon sehr nah am Menschen dran. Und wenn es gar niemand gibt, dann gibt es immer Naturtalente in Communities. Das sind Personen, zu denen eh schon jeder hingeht und das Herz ausschüttet. Und denen können wir allerdings über einen mehrwöchigen Prozess beibringen: Wie kann ich auch gezielt zuhören? Wie kann ich mich noch besser anbieten als Mensch, der sich im Schulterschluss mit dem Erzähler in die Szene stellt und da noch mal durchgeht und diese Fäden zusammenbindet, die da auseinander geschnitten wurden, diese Wunde heilt, die auch eigentlich dann wieder nur in zwischenmenschlichen Kontakt heilen kann. Also diese korrigierende Beziehungserfahrung, die ist ganz wichtig. Ein Computer kann es noch nicht. Vielleicht später mal, wenn die AI noch besser wird, aber noch nicht.
[00:31:37.420] - Nadia Kailouli
Genau. Die KI-Therapie ist ja auch immer mehr und mehr ein Thema, aber natürlich muss man sich selber – und das lernt man ja wahrscheinlich dann auch in der Ausbildung – sich dessen bewusst machen, man kann hier auch Geschichten hören, die nicht easy sind. Also wenn jemand natürlich von einer Vergewaltigung erzählt, von Gewalt erzählt, von einem Trauma, wo, keine Ahnung, ein reißender Fluss die Schwester oder die Mutter mitgerissen hat. Das sind natürlich auch Geschichten, die muss man dann auch abkönnen, sage ich mal, oder?
[00:32:06.120] - Maggie Schauer
Ja, also für mich ist es so, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, die Menschenrechtsverletzungen, die es gibt in einem Leben, die sind immer unerträglich, dass es so was gibt. Aber der Mensch, der vor mir sitzt, der Gefühle hat, der weint, der wütend ist, der verzweifelt ist, der berichtet davon, wie es ihm ging und seinem Jüngeren selbst ging in dieser Situation, der ist ja nicht schrecklich, der Mensch. Und der macht mir keine Angst. Ich bekomme ja nur Angst, wenn ich mir vorstelle, in wie vielen Wohnungen und Kellern und in der Kinderpornografie gerade momentan Kinder und Erwachsene missbraucht werden. Diese Fakten, die müssen uns Angst machen und da müssen wir wirklich Mutmacher sein und einen Wegruf senden, dass wir alle da besser hinschauen und es mehr und mehr Menschen gibt, die in der Lage sind, so was aufzugreifen, zu bemerken bei Kindern und bei Erwachsenen genauso, bei alten Menschen genauso. Also das macht mir keine Angst, der Mensch, der mir gegenübersitzt. Die Sorge, die ist immer: Wie kann ich diesen transgenerationalen Effekt abbauen, dass Trauma immer weitergegeben wird. Darum müssen wir uns kümmern. Wir müssen uns psychohygienisch keine Sorgen machen, was in uns passiert, wenn ich jemandem zuhöre. Dieser Mensch lebt doch, der sitzt vor mir, der hat den Mut, zur Therapie zu gehen, der hat Hoffnung. Da muss ich keine Angst vor haben.
[00:33:33.700] - Nadia Kailouli
Ist die Therapie NET auch ein bisschen ein Appell an die Gesellschaft: „Redet mehr miteinander, hört euch mehr zu, spricht mehr miteinander"?
[00:33:42.440] - Maggie Schauer
Ja, vor allem ein Appell, dass wir solche Erlebnisse nicht stigmatisieren. Die allermeisten Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, fühlen sich beschämt durch diese interaktionelle Gewalt, die sie erlebt haben. Und Scham macht stumm. Und ich bin da wirklich … Ich halte es mit der Gisele Pelicot, die Scham muss die Seite wechseln. Also du musst wirklich du dich schämen oder muss sich nicht der Täter, die Täterin schämen? Und damit eröffnen wir einen Raum, einen sicheren Raum, in dem sich der Mensch mitteilen kann, was er da erlebt hat. Ich denke, diese Erniedrigung, gerade im sexuellen Trauma, die können wir wirklich durch Angebote, dass wir ganz klar uns stellen, auch politisch stellen, gegen solche Gewalt. Niemand darf den anderen Menschen sexuelle Gewalt antun. Da muss nicht ich mich schämen dafür.
[00:34:35.480] - Nadia Kailouli
Jetzt für die, die uns jetzt zuhören und sagen: „Oh, das ist die Therapie, die habe ich eigentlich immer gesucht." Wie finde ich die denn? Also wie ist das Angebot? Wie Ist der Zugang da rein? Wo seid ihr?
[00:34:47.020] - Maggie Schauer
Ja, also wir bilden approbierte Psychotherapeuten, -Therapeutinnen aus, Psychiater, Psychiaterinnen. Die haben ja meistens Webseiten und schreiben auf ihrer Webseite, was sie im Angebot haben. Es gibt jetzt jetzt eben mehr und mehr, dass wir ausbilden, auch diese Berater in der narrativen Traumaarbeit. Diese Dinge sind dann allerdings am Anfang, da sind wir jetzt zwei, drei Jahre dran und sind dabei, mehr in die Breite zu gehen. Und da geht es hauptsächlich über Peers, also entweder bei Migranten über Migrantenpart:innen oder jetzt haben wir die erste Gruppe Ex-In, also Gefängnisinsassen, die wir ausbilden als Berater für andere Gefängnisinsassen. Also es geht langsam in die Breite, in verschiedene Populationen. Und wir haben es jetzt auch verschriftlich, dem Beltz Verlag erscheint das Buch zur narrativen Traumaarbeit jetzt. Also wir haben gelernt, welche Form der Hilfe können wir anbieten und bei welcher Form der Hilfe können möglichst viele Sozial- und Gesundheitsberufe teilnehmen und auch andere Menschen, die sich dafür interessieren.
[00:35:54.540] - Nadia Kailouli
Maggie, ich finde, das war ein super Einblick in die NET-Therapie. Eigentlich, du kannst es besser. Also noch mal, NET steht für … damit ich das auch mal richtig sage, hier.
[00:36:04.010] - Maggie Schauer
Narrative Expositionstherapie.
[00:36:06.340] - Nadia Kailouli
Narrative Expositionstherapie.
[00:36:09.490] - Maggie Schauer
Weil Expositionstherapie ist tatsächlich aus dem klinischen Sinne das Mittel der Wahl, dass ich traumafokussiert vorgehe, nicht immer nur an den Symptomen doktere, sondern noch mal diese Aufarbeitung mache. Das wäre jetzt auch leitliniengerecht die erste Wahl bei Traumatisierungen. Das sind nicht die Medikamente und es sind nicht die Stabilisierungsverfahren, sondern die traumafokussierten Vorgehensweisen. Und Narrativ, weil wir eben Narrationen machen, das ist dieser ganz kennzeichnende Aspekt der NET. Und was mir gefällt an dem Wort Exposition, ist das Lateinische, aus der Position eines Traumatisierten heraustreten. Also wenn ich zum Erzähler, Erzählerin werde, dann bin ich nicht mehr der stumme Opfer des Traumas, sondern ich werde zum kompetenten Menschen, der sich mitteilen kann. Und das gefällt mir eben besonders gut an diesen Namen.
[00:37:06.420] - Nadia Kailouli
Und mir gefällt besonders gut, dass du heute unser Gast warst und uns da mitgenommen hast in diese von euch mitentwickelte oder von dir und Kollegen mitentwickelte Therapieform. Vielen, vielen Dank, Maggie Schauer.
[00:37:18.580] - Maggie Schauer
Danke, Nadia.
[00:37:22.700] - Nadia Kailouli
Also ich bin jetzt so begeistert. Wisst ihr, was ich daran jetzt so toll fand? Da ist eine, die sich damit so auseinandergesetzt hat, auch- das hat sie nicht alleine gemacht, da waren noch andere Leute mit dabei. Aber trotzdem, dass man da eben sich hinsetzt und sich überlegt: „Moment mal, Therapie, das ist so wichtig, ja. Traumatherapie, das ist so wichtig. Aber ganz ehrlich, Leute, worüber reden wir hier? Wer hat denn da Zugang zu?" Und dass die da was auf den Markt geworfen hat, wo man sagt: Ja, damit können wir zu den Leuten gehen, die wirklich traumatische Erfahrungen gesammelt haben, sei es in Krisengebieten, sei es auf der Flucht, sei es zu Hause, – das finde ich wirklich klasse. Da denkt eine wirklich an die vulnerable Gruppe unserer Gesellschaft, die einfach nicht jederzeit Zugang zu Therapie hat. Und das finde ich wirklich toll.
[00:38:11.980] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch auf die Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handel 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Traumata sind seelische Wunden. Sie entstehen durch Erfahrungen, die so überfordernd, so bedrohlich sind, dass unser ganzes System – Körper und Psyche – keinen Weg findet, sie einzuordnen und zu verarbeiten. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis die Folgen spürbar werden – in Form von Angst, Schlaflosigkeit, psychischen Erkrankungen oder dem Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, ohne genau benennen zu können, was.
Die Klinische Psychologin Dr. Maggie Schauer weiß, was traumatische Erfahrungen auslösen können. Sie hat mit Kindersoldaten gearbeitet, mit Überlebenden von Kriegen und Naturkatastrophen und auch mit Menschen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt haben. Gemeinsam mit Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie eine Therapieform entwickelt, die Menschen helfen soll, genau solche Traumata zu verarbeiten – auch dort, wo eigentlich keine Therapie möglich ist: in Krisengebieten, in Flüchtlingscamps, in Regionen ohne ausreichend psychotherapeutische Versorgung.
Die Methode heißt Narrative Expositionstherapie, kurz NET. Die Therapieform beschreibt sie unter anderem in dem Buch „Die einfachste Psychotherapie der Welt“. Im Vorwort zitiert sie Maya Angelou: „Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.” Genau darum geht es in der von ihr entwickelten Therapieform: das eigene Leben erzählen, von Anfang an – auch das Schreckliche.

LINKSAMMLUNG
Buch von Dr. Maggie Schauer „Die einfachste Psychotherapie der Welt”
Zum Buch
Buchkritik auf Spektrum.de
„Erzählen gegen Trauma und Angst”
Zu Gast bei der Sternstunde Philosophie von SRF Kultur
„Wie überwinden wir Trauma, Maggie Schauer?”
Im Interview mit Psychologie Heute
Was ist die Narrative Expositionstherapie (NET)?
Im Interview mit dem Tagesspiegel
Menschliche Abgründe im Pelicot-Prozess: „Täter leben um uns herum und wir sehen es ihnen nicht an”
