Sexuelle Gewalt in der Pflege – warum sind Krankenhäuser oder Pflegeheime keine sicheren Orte, Ulrike Hoffmann?
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[00:00:01.930] - Ulrike Hoffmann
Da ist es wirklich auch zu Vergewaltigungen gekommen, dass Pfleger alte Frauen eben vergewaltigt haben. Und ich glaube, so richtig, sage ich mal, rational zu erklären, ist das gar nicht. Da sind Patienten in einer hilflosen Situation. Das gibt es natürlich auch mit jüngeren Patienten Fälle, wo im Aufwachraum eben Patienten, die noch nicht ganz aus der Narkose erwacht worden sind, sexuelle Übergriffe erlebt haben. Also das gibt es sozusagen auch in ganz vielen Settings und natürlich auch gegen Kinder und Jugendliche.
[00:00:27.840] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich Willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:52.500] - Nadia Kailouli
Ein Patient fasst eine Krankenschwester an. Eine Ärztin bedrängt einen jungen Auszubildenden oder ein Mitarbeiter befriedigt sich vor einer Patientin. Auch vermeintlich sichere Orte wie ein Krankenhaus oder Pflegeheim können Tatort sexualisierter Gewalt sein. Und das kann natürlich junge Patienten betreffen, also Kinder oder junge Erwachsene und auch alte Menschen. Gewalt in der Pflege wird mitunter erst bei genauem Hinschauen deutlich, denn die Voraussetzung dafür, dass sie im Verborgenen stattfindet, sind günstig. Ulrike Hoffmann arbeitet in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. Sie hat jahrelang selbst als Pflegekraft gearbeitet und schult heute medizinisches Personal zum Thema sexualisierte Gewalt. Was sie angehenden Ärzt:innen und Pfleger:innen beibringt, erzählt sie uns heute bei einbiszwei. Herzlich willkommen bei einbiszwei, Ulrike Hoffmann.
[00:01:41.520] - Ulrike Hoffmann
Hallo.
[00:01:42.000] - Nadia Kailouli
Schön, dass du da bist. Wir reden über die Pflege, Missbrauch in der Pflege. Wir machen es jetzt mal ganz konkret. Ist das so ein großes Thema? Ja, ne?
[00:01:50.010] - Ulrike Hoffmann
Ja, also es ist auf jeden Fall ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen sollte und was bisher in der Ausbildung von Pflegekräften auch wenig Thema ist, was aber natürlich auch in in beide Richtungen geht. Also einmal Übergriffe gegenüber Patientinnen oder auch Patienten und aber auch in die andere Richtung, also dass Pflegekräfte von Übergriffen eben auch betroffen sein können durch Patientinnen und Patienten. Es ist auf jeden Fall ein Thema, insgesamt Gewalt im Krankenhaus oder medizinisch-therapeutischen Bereich, was man sich mal anschauen muss.
[00:02:17.160] - Nadia Kailouli
Klar, wenn wir über die Pflege sprechen, dann sprechen wir über Menschen, die natürlich hilfebedürftig sind in irgendeiner Form. Und dann reden wir natürlich über eine Zusammenarbeit, ein Miteinander, was ja auch sehr körpernah ist. Liegt da sozusagen das grundsätzliche Problem? Weil es so körpernah ist, kann es eben zu Übergriffen kommen, egal in welche Richtung?
[00:02:38.420] - Ulrike Hoffmann
Ja, also das ist sicher ein Risikofaktor, würde man vielleicht sagen, zu sagen, in Situationen, wo es insbesondere um Körperlichkeit geht, aber auch wo es zum Beispiel auch um körperliche Untersuchungen geht, wo es um Pflegemaßnahmen geht. Das sind sicher Risikosituationen, in denen es auch zu Übergriffen kommen kann. Also das muss man auf jeden Fall sagen. Insgesamt ist der medizinisch-therapeutische Bereich einfach ein gefahrgeneigter Bereich. Das sind vulnerable Patientengruppen, das können Kinder und Jugendliche sein, das können auch alte Menschen sein, Menschen mit Behinderung. Und es sind eben einfach auch Situationen, in denen es einfach zu Übergriffen kommen kann, also seien es Pflegesituationen oder Untersuchungssituationen oder auch Gesprächssituationen, also dass Menschen im Rahmen von Therapie zum Beispiel auch Missbrauch oder auch andere Formen von Gewalt erleben.
[00:03:23.900] - Nadia Kailouli
Du bist selbst ausgebildete Pflegekraft. Du hast also Ahnung, worüber wir heute sprechen, also nicht nicht nur im präventiven Sinne, sondern auch im praktischen Sinne. Was würdest du sagen, aufgrund deiner eigenen Erfahrung, als du noch im Pflegebereich aktiv gearbeitet hast, wo lagen für dich die Bruchstellen, wo du sagst, das ist eigentlich nicht okay so?
[00:03:43.670] - Ulrike Hoffmann
Also ganz vielfach ging es eher so um den Bereich von grenzverletzendem Verhalten Verhalten, wo man einfach sagt, man akzeptiert zum Beispiel die Schamgrenzen von Patienten nicht oder geht da einfach hinüber. Einfach bestimmte Situationen: Der Patient ist auf der Toilette, man klopft nicht an, man reingeht oder die Patienten werden vielleicht auch nackt oder halbnackt einfach liegen gelassen, dann wird die Tür geöffnet, dann guckt vielleicht jemand rein oder es ist kein Sichtschutz angebracht oder auch, dass man mit den Patienten in einer unangebrachten Weise einfach redet, Bemerkungen auch macht über den Körper der Patienten. Also ganz viel sind das, glaube ich, einfach so grenzverletzende Situationen, die viel auch aus meiner Sicht mit Fachlichkeit zu tun haben, also damit zu überlegen: Wie möchte ich eigentlich Patienten auch pflegen? Ich erinnere mich auch vielfach, dass Patienten zum Beispiel auf dem Nachtstuhl saßen und abgeführt haben und mit ihrem Nachthemd bekleidet waren und dann hat man ihnen das Frühstück hingestellt und die saßen, muss man ganz platt sagen, die saßen halt einfach auf der Toilette und haben halt nebenher sozusagen gegessen. Das sind Situationen, die sind völlig normal gewesen, so im Alltag auf Station. Heute würde ich das, glaube ich, sehr viel kritischer bewerten und auch sehr viel stärker sagen, das muss man einfach mal anschauen. Das ist so, da braucht es vielleicht auch andere Abläufe. Und auch, dass Patienten zum Beispiel auch vielleicht nicht gut aufgeklärt werden oder man sie einfach aufdeckt, ohne irgendwie eine Vorankündigung zu machen. Also solche Situationen würden da für mich auch dazugehören.
[00:05:07.340] - Nadia Kailouli
Das klingt so sehr würdelos. Man ist da ausgeliefert und dann ist das so sehr anschaulich, wie du das jetzt beschrieben hast. Man erinnert sich ja dann im Gespräch immer an sich selbst. Ich war jetzt noch nicht in der klassischen Pflegeeinrichtung, aber ich weiß noch, als ich mal eine OP hatte und ich so einen Kittel anhatte und ich ja noch fit war – das war noch vor der Narkose –, musste ich dann halt dann von dem einen Bett zum anderen Bett laufen und da waren andere Leute im Zimmer und da dachte ich so: „Ja, aber mein ganzes Hinterteil liegt doch frei." Und ich fand das sehr unangenehm.
[00:05:35.080] - Ulrike Hoffmann
Ja, ich glaube, das wird einfach gar nicht so reflektiert. Ich will das auch überhaupt nicht verurteilen. Also das sind ja auch Situationen, die habe ich selber auch miterlebt und das hat man auch so ein Stück weit auch als normal empfunden. Das sind halt einfach Krankenhausabläufe und heutzutage, wo es noch mal sehr viel prekärer ist mit der Situation, dass einfach Mangel ist an Fachkräften, dass vieles schnell gehen muss und so. Also so was nimmt ja auch Zeit weg, dann auch manchmal dem Patienten einfach Zeit zu geben, zu sagen: „So, jetzt halten Sie mal hinten in Ihren Nachthemd zu", oder da auch selber drauf zu achten. Man kann ja auch selber nach dem Nachthemd greifen, das zumachen und sagen… Also bestimmte Abläufe sind nicht zu ändern, die sind halt einfach so. Man muss von einem Bett ins andere. Die Frage ist: Wie kommt man da hin? Wie kann man das irgendwie unterstützen? Und sich das, glaube ich, einfach bewusst zu machen. Das ist es, glaube ich.
[00:06:17.210] - Nadia Kailouli
Ich bin dann rückwärts gelaufen, um das jetzt mal aufzuklären. Jetzt ist es ja so, dass du ja jetzt Pflegepersonal dahingehend schulst, Präventionsarbeit leistet, gerade eben ja auch, was sexualisierte Gewalt betrifft. Jetzt denkt man sich so, welche Pflegekraft soll denn da ein Interesse daran haben, einen Menschen in der Pflege sexuell zu belästigen, sexuell übergriffig zu werden und so? Das stellt man sich irgendwie so schwer vor, weil man natürlich das klassische Bild im Kopf hat: Alter Mann oder alte Frau, junge Pflegerin oder junger Pfleger. Wie kommt es da zu sexualisierter Gewalt?
[00:06:58.150] - Ulrike Hoffmann
Also, weil du es gerade sagst, mit dem Altersunterschied. Ich hatte jetzt auf der Zugfahrt zufällig noch einen Bericht gelesen, der relativ frisch rausgekommen ist vom Zentrum für Qualität in der Pflege und die hatten in der stationären Langzeitpflege von alten Menschen eben auch solche Fälle von sexualisierter Gewalt untersucht. Und da ist es wirklich auch zu Vergewaltigungen gekommen, dass Pfleger alte Frauen eben vergewaltigt haben. Und ich glaube, das so richtig, sage ich mal, rational zu erklären, ist das gar nicht. Es gibt halt einfach die Gelegenheit, vielleicht auch die Gelegenheit, Macht auszuüben, die Gelegenheit, da Sexualität auch auszuleben, irgendwelche Bedürfnisse, und dass dann einfach auch die Gelegenheit ergriffen wird. Da sind Patienten in einer hilflosen Situation. Das gibt es natürlich auch mit jüngeren Patienten Fälle, wo im Aufwachraum eben Patienten, die noch nicht ganz aus der Narkose erwacht worden sind, sexuelle Übergriffe erlebt haben. Also das gibt es sozusagen auch in ganz vielen Settings und natürlich auch gegen Kinder und Jugendliche. Da hatte ja das Universitätsklinikum des Saarlandes, die hatten ja da einen ziemlich großen Skandal vor einigen Jahren, wo ein Arzt in der Ausscheidungsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie eben zum einen unnötige Untersuchungen im Intimbereich von Kindern auch durchgeführt hat und die Kinder auch angegroomt hat. Also der hat seine seine Stellung als Arzt dafür genutzt, die Kinder für seinen Judo-Club auch anzuwerben. Und auch da ist es dann in dem Kontext zu Übergriffen gekommen. Und das war anscheinend ein ganz sympathischer Arzt, weil die Eltern haben die Kinder ja dann auch mitgegeben, haben gesagt, die können in den Judo-Club zu ihm gehen, die sind auch teilweise zum Übernachten bei ihm dann zu Hause gewesen. Also das ist jetzt niemand gewesen, wo man gedacht hat, der ist total abstoßend und mit dem will man eigentlich gar nichts zu tun haben, sondern anscheinend ganz im Gegenteil, ein sehr sympathischer Arzt.
[00:08:39.280] - Nadia Kailouli
Und für uns natürlich in dem Blick in der Gesellschaft, den wir haben, man vertraut natürlich diesen "Göttern in weiß", man vertraut dem Arzt, der Ärztin, die Krankenschwester, die meint das ja nur gut mit mir, keine Ahnung. Und dann ist es wahrscheinlich so schwer in unserer fast naiven Vorstellung von: Wer sich um mich kümmert, der meint es gut mit mir, dass es da eben nicht zu diesen Übergriffen kommt. Nun hast du sehr eindrücklich schon geschildert, dass das durchaus so ist. Wie kann man denn da überhaupt dann aufklären? Ich meine, ein Täter ist ein Täter. Wie soll man da vorweg Präventionsarbeit leisten und auf was sensibilisiert man denn da?
[00:09:16.010] - Ulrike Hoffmann
Also ich glaube, zentral ist es überhaupt, zum Thema zu machen, dass es zu solchen Situationen kommen kann. Ich mache auch viel zum Thema Schutzkonzepte im Krankenhaus, wo es immer wieder auch darum geht, zu sagen, es hat solche Fälle gegeben, das auch einfach mal sage ich mal ganz platt zu sagen, diese Konstellation hat es gegeben oder da gab es eine Konstellation, wo ein Chefarzt Kinder im therapeutischen Kontext halt sexuell missbraucht hat und so. Und einfach deutlich zu machen, diese Fälle gibt es, um da einfach auch Awareness zu erzeugen, auch, sage ich mal, zu sagen, da schaut man einfach mal auch genauer hin. Man beschäftigt sich breiter mit dem Thema Gewalt und Gewaltprävention. Es ist aber schon so, dass ich auch noch erlebe, dass da nicht immer die Bereitschaft, sage ich mal, dafür da ist, sich damit auseinanderzusetzen. Bei dem einen Seminar, was ich in den letzten Jahren gegeben habe für Pflegekräfte, da sind natürlich die Pflegekräfte auch in das Wahlpflichtseminar gekommen, die besonders schon interessiert sind an der Thematik oder die da vielleicht auch schon selber was gesehen haben oder die selber erlebt haben, dass sie einen Übergriff erlebt haben durch einen Patient zum Beispiel und da schon eine gewisse Awareness mitbringen. Aber da sind manchmal schon auch noch, sage ich mal, dicke Bretter zu bohren für die Thematik, zu sensibilisieren auch, zu sagen, zu solchen Situationen kann es kommen und sich das auch einfach mal bewusst zu machen: Ich habe da Zugriff auf nackte Menschen und so was kann natürlich zu einer Situation führen, wo es einen Übergriff geben kann und wo vielleicht ein Patient auch ein Problem hat, solche Dinge zum Beispiel zu melden. Gerade für den Krankenhausbereich sind natürlich auch andere Gewaltformen bedeutsam. Also das ist auch was, wo viele schon mal Erfahrungen mitbringen oder was gesehen haben, körperliche Gewalt gegen die Patienten, dass die grob angefasst werden oder dass der Patient auch mal angeschrien wird oder so, oder dass Pflegemaßnahmen einfach nicht so durchgeführt werden, wie es fachlich geboten wäre. Auch da muss ich natürlich einschränkend sagen, das liegt auch manchmal am Fachkräftemangel, dass es da zu solchen Gewaltsituationen auch kommt. Zu entschuldigen ist es damit trotzdem nicht, aber das ist natürlich eine Ursache, an die man angreifen muss, sozusagen.
[00:11:16.400] - Nadia Kailouli
Du sprichst diese Szenarien an, die kennen wir zum Glück auch aus sämtlicher Berichterstattung, wo solche heimlich gefilmten Videos von wie ein Patient, eine Patientin eben misshandelt worden ist, Gewalt angewendet worden ist et cetera. Geändert hat sich trotzdem nichts, sondern man hat es einfach nur sichtbar gemacht, was da hinter den Türen oder sogar bei offenen Türen so passiert. Jetzt würde ich aber gerne noch mal auf diesen Punkt kommen. Du hast es so schön gesagt: Es gibt durchaus noch dicke Bretter, die zu bohren sind. Warum ist denn das Brett so dick? Also was ist denn da der Widerstand, sich aufklären zu lassen, was Präventivarbeit betrifft, zum Thema sexualisierte Gewalt in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern et cetera?
[00:11:58.260] - Ulrike Hoffmann
Also was eine Rolle spielt, ist sicher zu dieser Gedanken, Pflegekräfte oder auch andere Leute, die im medizinisch-therapeutischen Bereich arbeiten, die wollen ja Menschen helfen. Und da ist vielleicht manchmal auch die Sicht so, das können auch Täter, Täterinnen sein und das können auch Personen sein, die sich ganz bewusst einen medizinisch-therapeutischen Bereich für ihre Arbeit aussuchen, genauso wie es Personen gibt, die ganz bewusst in Kitas arbeiten oder als Lehrkräfte in Schulen und die Situation dort ausnutzen, um Gewalt auszuüben. Ich glaube, es hängt vielfach daran, wenn es eine gute Haltung in der Institution gibt und eine gute Kultur, wo man sagt: „Gewalt, das geht bei uns gar nicht!" Und solche Dinge werden angesprochen und man ist kollegial im Team und ist da auch offen, so was anzusprechen, dann wird man auch bereit sein, sich mit der Thematik vertieft auseinanderzusetzen und auch Fälle vielleicht aufzuarbeiten, aus Fehlern zu lernen, zu gucken, was können wir in der Situation beim nächsten Mal besser machen. In Fällen, wo das nicht der Fall ist, wo vielleicht auch Kollegen gar nicht auf Fehlverhalten angesprochen werden, also man sieht, der Kollege, der schreit immer wieder die Patienten an oder der Kollege geht immer wieder ins Zimmer und die Patienten liegen da vielleicht nackt irgendwie und achtet da die Schamgrenzen nicht. Wenn da keine gute Haltung manchmal im Team ist, dann werden solche Dinge auch gar nicht angesprochen. Und man wird ja auch betriebsblind, sieht die Problematik, vielleicht auch irgendwann gar nicht mehr oder man resigniert. Und dann gibt es halt Leute, die verlassen dann das Team und sagen: „So möchte ich hier nicht arbeiten." Vielleicht versuchen manche auch, es anzusprechen, zu sagen, wir müssen uns mit der Thematik auseinandersetzen, ein Schutzkonzept vielleicht entwickeln. Aber ich glaube, wenn es da mal im Team schwierig ist, das zu ändern, das sind ja auch Prozesse, die länger gehen, wo es auch Sache der Leitung ist, der Führungsperson, solche Dinge auch anzusprechen und zu sagen, wir brauchen eine Veränderung in unserer Haltung im Team, wie wollen wir miteinander arbeiten? Und das sind dann Prozesse, die sind sehr, sehr schwer zu initiieren und das dauert auch. Braucht man langen Atem dafür, braucht man für Schutzkonzeptentwicklung eh schon. Also auch wenn es jetzt nicht schwierig ist im Team, ich bin selber auch in der Schutzprozessgruppe bei mir in der eigenen Klinik, da muss man immer dranbleiben an der Sache, die Dinge zu verbessern, das wieder anzusprechen, zu sagen: „Wie wollen wir arbeiten? Wo können wir Verbesserungen machen?" Und bei uns läuft das gut. Das sind gute Teams und da ist eine hohe Awareness da für das Thema Gewaltprävention. Und da, wo das noch gar nicht da ist, ist es ein langer Prozess, es zu erzeugen.
[00:14:15.650] - Nadia Kailouli
Jetzt ist es natürlich, du hattest diesen Arzt eben angesprochen, der missbräuchlich gegenüber kleinen Patientinnen und Patienten war, gegenüber Kindern. Nun ist es ja nun so, dass der Chef in weiß, der Arzt, natürlich den da zu kritisieren und zu sagen: „Ich habe da was gesehen. Ich finde das nicht okay, wie der sich verhält." Das ist ja dann auch wieder eine ganz andere Machtspirale in der Anzeige, sage ich mal. Also wenn eine Pflegekraft beobachtet, wie sozusagen der Chef, der Arzt da jetzt missbräuchliches Verhalten zeigt, wie groß ist das Thema: "Wie spreche ich das an? Weil irgendwie habe ich Angst, wenn ich es anspreche, verliere ich jetzt hier meinen Job."?
[00:14:51.310] - Ulrike Hoffmann
Also ich glaube, den Job zu verlieren, davor braucht man in der Pflege, glaube ich, nicht so richtig viel Angst zu haben. Das Problem ist eher, dass Whistleblower ja generell, dass das vielfach problematisch ist für die Leute. Also vielfach werden die dann so ein bisschen als in Anführungsstrichen "Kollegenschweine" wahrgenommen. Man hat halt da irgendetwas angesprochen und man kennt ja auch Fälle, wo Whistleblower dann einfach die Institution auch verlassen haben, weil ihnen das gute Arbeiten hinterher da nicht mehr ermöglicht wurden oder hinter dem Rücken geredet oder sie schlecht gemacht worden sind. Also sie haben eigentlich das gemacht, was man machen soll, nämlich einen Missstand anzusprechen, aber dass dann gut damit umgegangen wird, das steht noch mal auf einem ganz anderen Papier. Im Krankenhaus sind die sehr ausgeprägten Hierarchien sind auf jeden Fall auch ein Risikofaktor. Es ist schon schwierig, Dinge innerhalb der eigenen Berufsgruppe anzusprechen, zu sagen: "Das ist, finde ich nicht okay, wie du den Patient pflegst oder wie du damit umgehst." Aber die Ärzte darauf anzusprechen oder auch auf der ärztlichen Ebene zu sagen, ich spreche den Oberarzt oder den Chefarzt drauf an. Da sind einfach große Hürden da, weil es so viel Abhängigkeitsverhältnisse auch innerhalb der Institutionen eben gibt. Und das ist im Krankenhaus noch mal, sage ich mal, auch spezifisch eine Herausforderung über die Hierarchieebenen. Wir haben bei uns in der Klinik, in der Schutzprozessgruppe, sind wir ein interdisziplinäres Team. Das heißt, da sind aus allen Berufsgruppen eben Leute auch dabei, um auch deutlich zu machen, dieses Thema betrifft alle Berufsgruppen und da muss man einfach miteinander auch ins Gespräch gehen und ja, Fehlverhalten auch einfach anzusprechen. Aber das ist sehr herausfordernd.
[00:16:21.960] - Nadia Kailouli
Du hattest gerade ein bisschen geschmunzelt nach dem Motto: „Man muss jetzt, glaube ich, gerade in der Pflege nicht Angst haben, seinen Job zu verlieren." Da liegt ja auch irgendwie vielleicht ein bisschen die Gefahr, dass wenn man dann im Team das anprangert und sagt: „Hier XY, das war nicht in Ordnung!" Und dann zum Beispiel eine Pflegeeinrichtung sagt: „Ja super, was soll ich jetzt machen, wenn ich den jetzt rausschmeiße, dann sind wir hier noch einer weniger." Ist das Thema, also gerade dieser Fachkräftemangel in der Pflege, dass man dann unglücklicherweise darüber hinwegschaut, dass diese Person, dieser Mitarbeiter, diese Mitarbeiterin zwar Scheiße gebaut hat, aber man sie trotzdem braucht.
[00:17:03.510] - Ulrike Hoffmann
Also auf alle Fälle ist das ein Risiko, weil eben der Markt das einfach auch gar nicht hergibt, dann so viel neue Fachkräfte- Interessanterweise in dem Bericht, den ich gelesen hatte, war das auch ein Thema, dass man sagt: Es ist so schwierig, fachlich gutes Personal in ausreichender Anzahl zu finden und es kann sicher ein Risikofaktor dafür sein, zu sagen: „Ich sehe da jetzt darüber hinweg, wie der Mitarbeiter ist. Hauptsache, ich kriege meinen Nachtdienst besetzt." Im Prinzip müsste man sagen, gut ist das natürlich nicht. Also es wäre natürlich schon auch besser, man hat einen gewissen fachlichen Standard, so möchte man miteinander umgehen und auch deutlich zu machen: Da ist ja eine Grenze auch überschritten und so wollen wir mit den Patienten nicht umgehen. Wenn jetzt jemand, sage ich mal, eher fachliches Fehlverhalten zeigt, im Sinne von Nichtachtung von Schamgrenzen, solche Dinge, ist das auch immer noch mal ein Punkt, wo man sagen kann, man kann ja an der Fachlichkeit des Mitarbeiters auch erst mal versuchen zu arbeiten, zu sagen: „Wir schauen da drauf. Wir möchten, dass so und so mit den Patienten umgegangen wird", und mal zu gucken, ob sich vielleicht auch etwas verbessert. Aber es gibt sicher auch Leute, da verbessert sich nichts. Und ich kann das jetzt, sage ich mal, von meinem Elfenbeinturm schlecht sagen: „Entlassen Sie die Leute!" Aber ich glaube, wenn es dann zu einem schweren Übergriff kommt, das, was das dann hinter sich herzieht, mal ganz abgesehen von der Belastung für den Patienten oder die Patientin, die das erlebt hat, ist das halt für die Institution natürlich auch nicht günstig, wenn es dann zu so einem Fall gekommen ist, vor allem wenn man schon vorher gewusst hat, dass der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin möglicherweise auch problematisches Verhalten an den Tag legt. Und man hat es schon mal gesehen, dass es schwierig ist, vielleicht auch schon mal angesprochen, vielleicht gab es schon mal eine Ermahnung oder was auch immer. Und dann hat man die Person aber behalten und dann ist Schlimmeres sozusagen passiert.
[00:18:42.100] - Nadia Kailouli
Das muss man dann erst mal rechtfertigen.
[00:18:43.200] - Ulrike Hoffmann
Das muss man dann auch erst mal rechtfertigen.
[00:18:47.740] - Nadia Kailouli
Jetzt würde ich gerne mal auf deine aktive Präventionsarbeit, die Weiterbildung des medizinischen Personals blicken. Wie sieht das denn genau aus? Also redet man da in einem Schulungsraum, zeigt man Beispiele, wo es schiefgelaufen ist? Oder wie sieht so eine Weiterbildung und Aufklärung zum Thema: Gewaltprävention, wie verhindere ich oder wie halte ich da überhaupt ein Auge drauf, dass es erst gar nicht dazu kommt, dass es Übergriffe an Patientinnen und Patienten gibt?
[00:19:14.810] - Ulrike Hoffmann
Also ich mache Unterricht in verschiedenen Settings. Zum Teil sind das einfach auch Basisvorlesungen für Medizinstudentinnen und Studenten zum Beispiel. Bei denen, wo ich Pflegekräfte unterrichtet habe, da ist es eher auch ein mehrtägiges Seminar gewesen, wo man gesagt hat, man nähert sich dieser Thematik mal von allen Richtungen. Also es ist ja für den Bereich immer wichtig, dass Institutionen Schutzort sind und Kompetenzort. Das heißt, ich schule dazu: Was ist, wenn gewaltbelastete Patienten ins Krankenhaus kommen? Wie kann man die sozusagen unterstützen, auch Thema Kinderschutz. Ein Kind hat Gewalt in der Familie erlebt. Was kann ich dann eigentlich konkret machen? Was sind die rechtlichen Grundlagen auch? Paragraph 4 KKG Bundeskinderschutzgesetz. Wann kann ich dem Jugendamt melden und wie sieht das aus? Was sind auch Hinweiszeichen und was kann Pflege auch ganz spezifisch tun? Weil Pflegekräfte da eigentlich auch in einer sehr guten oder geeigneten Position sind, zum Beispiel die Interaktion mit den Eltern sehr gut auch beurteilen zu können. Ärzte, die kommen vielleicht mal für eine Untersuchung rein oder für Visite, die sehen die Patienten ganz kurz, aber die Pflegekräfte sind ja viel näher dran an der Familie und können dann vielleicht auch sehen, wenn die Eltern-und Kind-Interaktion schwierig ist und können dazu Beobachtungen machen. Das ist das eine. Und es geht aber natürlich auch, um so ein bisschen Awareness dafür zu schaffen: Viele Menschen haben belastende Kindheitserfahrungen erlebt, die sind heute erwachsen, kommen vielleicht ins Krankenhaus wegen einer Behandlung, wegen einer Therapie, wegen einer Untersuchung oder sind irgendwie im Pflegekontext dafür zu sensibilisieren, dass diese traumabelasteten Patienten einfach auch besondere Bedürfnisse haben oder Ängste entwickeln können im Rahmen von Untersuchungen. Oder dass sich zum Beispiel, wenn sich so eine alte, demente Dame immer gegen die Waschung des Intimbereiches wehrt, dass das vielleicht auch eine Gewaltursache haben kann, dass sie da mal was erlebt hat in der Nachkriegszeit vielleicht und einfach das sozusagen auf dem Schirm zu haben. Das ist das eine. Und das andere ist aber natürlich auch, dass Institutionen ja Schutzort sein sollen. Das heißt, es soll nicht zu Gewalt in der Institution kommen. Und da habe ich in dem Seminar immer beide Richtungen angeschaut. Also einmal Gewalt gegen Patienten. Wie sieht das aus? Jetzt waren die Pflegekräfte auch immer aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Die kamen aus der Intensivmedizin, ganz normal aus der Pflege. Da waren Hebammen dabei, manche waren auch ambulant, manche haben in der Psychiatrie gearbeitet. Und einfach da die spezifischen Situationen auch anzuschauen: Wo kann es in dem spezifischen Arbeitssetting zu Gewalt kommen?
[00:21:34.620] - Ulrike Hoffmann
Zum Beispiel in der Psychiatrie ist auch Thema Zwangsmaßnahmen, freiheitsentziehende Maßnahmen, Zwangsmaßnahmen ist da auch noch mal eine Thematik, weil das auch zur Machtausübung missbraucht werden kann, dass man Patienten fixiert oder ruhigstellt. Und aber natürlich auch die andere Richtung, zu sagen, sie haben vielleicht einen Übergriff erlebt durch einen Patient, grenzverletzendes Verhalten oder vielleicht auch durch einen Kollegen: Wie kann man da im Team dazu arbeiten? Wie kann man mit der Thematik einfach umgehen? Also es waren dann immer immer fünf oder sechs sehr dichte Tage, wo wir uns mit verschiedenen Übungen, mit Fallbeispielen dieser Thematik genähert haben und ganz viel auch einfach diskutiert. Also viel haben die Studierenden da auch Fälle aus ihrer Praxis mitgebracht: Was haben Sie erlebt? Und wir haben dann einfach besprochen Was könnten da Lösungsansätze sein? Also wie kann man da in der Klinik vorgehen? Wie macht man auch ein Schutzkonzept? Und so weiter.
[00:22:21.140] - Nadia Kailouli
Das heißt, damit wir das richtig verstehen, weil du von Studierenden sprichst, das ist sozusagen Teil der Grundausbildung? Weil das klingt so, als sollte es auf jeden Fall Teil der Grundausbildung sein, statt "nur", in Einführungsstrichen, eine Weiterbildung?
[00:22:33.510] - Ulrike Hoffmann
Es ist leider nicht zwingend ein Teil der Grundausbildung. Also es gibt ja in der Krankenpflegeausbildung so bestimmte Tätigkeits- oder Kompetenzfelder. Das Thema Gewaltprävention wird da allenfalls am Rande thematisiert. Ich würde es für sehr, sehr wichtig halten, dass es in der grundständigen Ausbildung schon thematisiert wird, weil ich denke, dass alle Pflegekräfte da früher oder später mit dieser Thematik in Kontakt kommen. Bei mir waren das jetzt tatsächlich Leute, die im Bachelor- oder Masterstudiengang eben auch machen, zum Teil berufsbegleitend, also dass die in der Praxis sind und dann eben berufsbegleitend studieren. Zum Teil haben die es auch als Add-on, sozusagen als Studiengang, oben drauf gemacht und es ist ein Wahlpflichtseminar gewesen. Das heißt, die haben sich das spezifisch auch ausgesucht.
[00:23:16.710] - Nadia Kailouli
Kannst du einmal den Studiengang benennen?
[00:23:18.060] - Ulrike Hoffmann
Das waren zum Beispiel Studierende der Gesundheitswissenschaften und Hebammenwissenschaften, also praktisch in diese Richtung. Meiner Ansicht nach müsste es eigentlich überall vermittelt werden, mal Thematik sein und so ein Grundwissen auch einfach zu diesem Thema weitergegeben werden. Und das ist jetzt leider noch nicht der Fall. Das ist nicht nur dort so, ist auch im Medizinstudium so, dass das allenfalls am Rande Thema ist und da auch noch viel Sensibilisierungsarbeit in diesem Bereich auch notwendig ist.
[00:23:46.070] - Nadia Kailouli
Kannst du uns einen Ratschlag geben für die potenziellen Patientinnen und Patienten, die ins Krankenhaus kommen oder zur Reha gehen müssen und halt eben darauf angewiesen sind mit medizinischem und Pflegepersonal zusammenzuarbeiten. In dem Sinne: Kannst du uns da, ich will nicht sagen einen Tipp geben, aber vielleicht Hinweise geben, wo du sagst: "Das ist eine Grenzüberschreitung, da dürfen Sie sagen, das möchte ich so nicht." Weil oft weiß man das ja selber gar nicht so: Ach so Gott, muss ich das jetzt über mich ergehen lassen? Gehört das jetzt dazu oder gehört das nicht dazu?
[00:24:22.090] - Ulrike Hoffmann
Ja, ich glaube, was da ein ganz großer Punkt ist, ist auch gute Aufklärung, also dass man dem Patienten sagt, man macht jetzt diese Untersuchung, dafür muss sich der Patient in leiden, zum Beispiel, soweit es eben notwendig ist und muss sich aber nicht ganz ausziehen. Und wenn man da, sage ich mal, ein schwieriges Bauchgefühl auch hat, das auch einfach anzusprechen. Ich habe schon den Eindruck, da wird sozusagen mehr drauf geachtet. Ich habe ja auch selber schon Untersuchungen im Krankenhaus gehabt, dass dann gesagt wird: "Entkleiden Sie den Oberkörper und so weiter und Hose und das alles, das können Sie auch anlassen." Ich glaube, Patienten sollten auch einfach nachfragen: "Warum ist das nötig? Ich habe das jetzt noch nicht so ganz verstanden", also in Richtung Aufklärung. Ich weiß aber selber, dass es sehr, sehr schwierig ist, nachzufragen. Also ich habe auch mal eine Situation erlebt, wo ich gedacht habe bei einer Untersuchung, das hätte jetzt so nicht sein müssen. Und ich habe ja den medizinischen Background und ich habe es dann aber trotzdem auch nicht angesprochen. Auch so, dass ich erlebt habe, Ärzte waren extrem unfreundlich, haben sie überhaupt nicht vorgestellt und so. Im Prinzip hätte ich sagen müssen: „Entschuldigung, stellen Sie sich bitte mir erst mal vor." Zumal ich noch im gleichen Haus arbeite, oder wo zum Beispiel dann auch infrage gestellt wurde, ob diese Untersuchung jetzt notwendig ist, wo ich gedacht habe, das ist ja schön, aber das diskutieren Sie jetzt bitte nicht mit mir, weil ich bin Patient. Ich kann es ja wenigstens noch einordnen, weil ich einen medizinischen Background habe, aber wer im Prinzip da kommt, ist dem System auch ein Stück weit ausgeliefert. Und ich glaube, der Weg kann einfach nur sein, einfach auch die Patienten zu ermuntern, nachzufragen. Und das ist auch was, was ich in der Weiterbildung auch immer wieder sage: Sie müssen den Patienten aufklären. Die haben ein Recht darauf, am Behandlungsprozess zu partizipieren, dass sie denen erklären, warum ist das jetzt notwendig und dass der Patient auch eine informierte Entscheidung auch über Dinge treffen kann. Aber ich weiß eben, wie groß die Hürde ist, nachzufragen. Gerade war ja vorhin schon Thema "Halbgott in weiß". Traut man sich beim Arzt nicht so. Ist vielleicht auch eine Position, wo Pflegekräfte noch mal in einer besonderen Position sind. Das habe ich auch früher ganz oft erlebt. Der Arzt hat dem Patienten irgendwas erklärt mit viel Fachsprache und so weiter. Dann ist er aus dem Zimmer gerauscht und dann hat der Patient gefragt: „Ja, Schwester, was wollte der mir jetzt eigentlich sagen?" Und dann ist man erst mal in eine Übersetzungsleistung gegangen und hat gesagt, der hat das und das gemeint. Und ich glaube, da müssen auch Mediziner noch mal besser geschult werden, zu sagen: „Erklären Sie sich bitte dem Patienten verständlich, was Sie wollen und geben Sie Raum für Nachfragen. Sagen Sie haben sie eine Frage?, und meinen sie das vor allem auch so." Weil zu sagen: „Haben Sie eine Frage? Und meinen Sie das vor allem auch so." Weil zu sagen: "Haben Sie eine Frage?" Und dann ist man aber schon eigentlich bei der Unterschrift, dann hat der Patient ja auch gar nicht den Raum, noch mal Unklarheiten nachzufragen oder auch Ängste, sage ich mal, vielleicht auch irgendwie zu benennen.
[00:27:00.950] - Nadia Kailouli
Absolut. Jetzt kann ich mir durchaus vorstellen, dass vielleicht der eine oder die andere Kollegin, Kollege von dir, aus der Branche, uns jetzt so zuhört und sich denkt: „Ja, die Ulrike hat ja super Vorstellungen. Wie sollen wir das denn schaffen? Also ich bin ja froh, dass ich überhaupt da meinen Zehnstundentag irgendwie über die Bühne bekomme und jetzt soll ich auch noch jedem Patienten erklären..." Und ich kenne mich selber, ich bin eine Patientin, das liegt in der Natur der Sache bei mir. Ich habe immer sehr, sehr viele Fragen und kann dann durchaus verstehen, wenn dann der Arzt oder die Ärztin sagt: „Ich habe die Zeit gar nicht." Wie soll man das, was ja eigentlich grundsätzlich gut ist, was du da ansprichst, in den Zeiten, in denen wir leben, mit Fachkräftemangel et cetera und Kosten – Krankenhäuser sind ein wirtschaftliches Unternehmen –, werden sie gefühlt immer mehr. Das Thema Geld spielt eine immens hohe Rolle. Wie soll man das umsetzen können?
[00:27:55.550] - Ulrike Hoffmann
Also das ist sicher eine Thematik, die total wichtig ist und ich verstehe da auch jeden Einwand. Ich sehe es ja beim Schutzprozess selber in unserer Klinik. Wir haben seit Jahren eine Schutzprozessgruppe. Wir treffen uns immer wieder in kleineren, größeren Arbeitsgruppen, arbeiten an bestimmten Elementen des Schutzkonzeptes und manchmal ist es halt einfach so, dass die Sitzung ausfallen muss, weil es ist halt akut Personalmangel und dann können wir es halt einfach nicht durchführen. Ich sehe trotzdem einen Gewinn, sich mit der Problematik, Gewaltprävention auseinanderzusetzen, weil viele Situationen im Arbeitsalltag auch zu Verunsicherung oder zu Unzufriedenheit führen. Ich habe das zum Beispiel auch erlebt: Übergriffe durch Patienten, die Hand am Po und so weiter oder im Schritt oder irgendwie anzügliche Bemerkungen. Und ich könnte mich nicht erinnern, dass das jemals auf der Station offen angesprochen worden ist. Man hat dann vielleicht mal so flapsig gesagt: „Oh, der Patient, der grabscht immer", und dann ist da vielleicht am nächsten Tag ein Pfleger reingegangen und so. Aber einfach, es gab gar keinen Raum, da mal zu sagen: „Das finde ich jetzt nicht in Ordnung, dass der immer so ist. Können wir da mal drüber reden?" Das hat jeder so ein bisschen verschämt, irgendwie zur Kenntnis genommen, aber das ist nie offen angesprochen worden. Und es gibt ja auch Situationen, die erzeugen einfach Unsicherheit. Und ich würde insofern für das Arbeitsklima einfach trotz aller zeitlichen Mängel oder Probleme einfach mal ermutigen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Vielfach finden ja auch Fortbildungen statt auf Stationen. Da kann man ja sagen, so heute reden wir mal anderthalb Stunden darüber, welche Situationen im Arbeitsalltag sind denn für euch schwierig oder problematisch? Bei uns an der Klinik zum Beispiel Umgang mit hochaggressiven Patienten. Das ist bei uns auch mal Thema gewesen in unserem jährlichen Schutzprozesstag, wo man sich dezidiert mal nur damit auseinandergesetzt hat und die Kollegen einfach mal sagen konnten, das ist aber schwierig gewesen an der Situation, da habe ich mich nicht wohlgefühlt. Und ich glaube, dass sich einfach für die gute Zusammenarbeit im Team oder für das Ansprechen schwieriger Situationen, dafür lohnt sich das trotzdem, zu versuchen, das irgendwie unterzubringen. Ich sehe die Mängel alle, Personalmangel und so weiter. Das sind natürlich Themen. Aber man muss ja jetzt auch nicht anfangen und sagen: „Bis in zwei Monaten haben wir unser Schutzkonzept entwickelt. Das funktioniert so sowieso nicht, aber zu sagen, wir nähern uns diesem Thema mal, oder vielleicht auch mal einen Fall, der auf der Station schwierig war in der Bearbeitung, einfach mal zum Anlass zu nehmen, eine Besprechung zu diesem Fall zu machen und mal jeden zu fragen: „Wie blickst du auf den Fall?" Wird man auch merken, unterschiedliche Berufsgruppen schauen da unterschiedlich drauf. "Wie wärst du in der Situation vorgegangen? Was ist irgendwie für dich schwierig?", und dann gemeinsam über das sprechen über so konkrete Situationen, vielleicht zu Konzepten zu kommen oder dazu, dass das eben ein dauerhaftes Thema ist.
[00:30:38.190] - Nadia Kailouli
Das ist, glaube ich, ganz gut, dass du das auch noch mal angesprochen hast, weil klar, wenn wir über sexualisierte Gewalt, Gewalt als solches in der Pflege reden, dann reden wir natürlich darüber, dass Patientinnen und Patienten das erleben, aber durchaus natürlich auch das Personal an sich auch selbst durch die Patientinnen und Patienten. Die können selbstverständlich auch Täter sein. Ulrike, vielen, vielen Dank, dass du uns einen Einblick gegeben hast, dass es durchaus trotz Ressourcenmangel, Personalmangel und was auch immer, es dennoch sehr wichtig und richtig ist, das Thema präventive Arbeit zum Thema sexualisierte Gewalt in der Pflege anzubringen, sowohl irgendwie beim Tisch zusammen in der Kommunikation unter den Kolleginnen und Kollegen, als auch ganz gezielt als Weiterbildung. Ulrike Hoffmann, vielen Dank.
[00:31:23.620] - Ulrike Hoffmann
Vielen Dank.
[00:31:27.180] - Nadia Kailouli
Ja, was können wir alle jetzt aus dem Gespräch mit Ulrike mitnehmen? Ich denke, was auf jeden Fall wichtig ist oder für uns alle so sehr, sehr schnell umsetzbar ist, ist, dass man Sachen anspricht, die einem komisch vorkommen, wie zum Beispiel: „Wieso muss ich mich jetzt hier oder da entkleiden? Können Sie mir erklären, was sie da jetzt gerade genau machen?", und so. Also ich glaube, das ist etwas, was wir direkt so für uns in unseren, ich nenne es jetzt mal Alltag, wenn wir in der Pflege sind oder im Krankenhaus sind, dass wir das anwenden können.
[00:32:00.220] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Da kriegen wir zum Beispiel Fragen: „Wie soll ich mein Kind überhaupt fragen, ob da was passiert ist?" Oder zum Beispiel: „Wie sage ich meinem Kind, dass wenn Freunde zu Besuch sind und wir grillen, dass mein Kind nicht die Unterhose ausziehen soll?" Solche Fragen erreichen uns und dieses Thema beschäftigt euch und wir möchten euch dabei gerne unterstützen. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Einige von euch kennen Ulli Freund vielleicht schon aus der Folge 82 von einbiszwei. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an: einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handel „missbrauchsbeauftragte". Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Ein Patient fasst eine Krankenschwester an, eine Ärztin bedrängt einen jungen Auszubildenden oder ein Mitarbeiter befriedigt sich vor einer Patientin: Auch vermeintlich „sichere Orte” wie ein Krankenhaus oder Pflegeheim können Tatort sexualisierter Gewalt sein.
Ulrike Hoffmann arbeitet in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm und ist seit 2024 Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie hat jahrelang selbst als Pflegekraft gearbeitet und schult heute medizinisches Personal zum Thema sexualisierte Gewalt. Sie möchte, dass das Thema Gewalt in den Ausbildungslehrplänen viel wichtiger wird. Bereiche, in denen sich etwas verbessern muss, gibt es viele. Pflege ist ein Riesenthema, es gibt einen unglaublichen Personalmangel, Gewalt ist wenig sichtbar. Auch im Rückblick auf Corona: Da konnten Angehörige lange Zeit ihre Familienmitglieder nicht besuchen und es fand keine Kontrolle von außen statt. Bekannt ist auch, dass Patient:innen, die sehr einsam sind und keine Angehörigen haben, die mal nach ihnen schauen, ein höheres Risiko haben, Gewalt zu erfahren. Es herrscht eine große Abhängigkeit von der Pflegekraft. Und natürlich auch von anderen medizinischen Fachkräften. Den Menschen fällt es schwer, sich zu beschweren, weil sie denken, sie würden danach nicht mehr so gut versorgt. In vielen Bereichen der Medizin und Pflege gibt es auch kein Beschwerdemanagement, keine Ombudspersonen. Andererseits muss man auch strukturelle Faktoren mit in den Blick nehmen, die personelle Besetzung in vielen Pflegeeinrichtungen ist schlecht. Das ist ein Risikofaktor dafür, dass es zu Gewalt kommt, einfach auch aus einer Überforderung heraus.
Bisher gibt es keine verlässlichen Zahlen dazu, wie häufig sexualisierte Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen in Deutschland vorkommt. Das liegt vor allem daran, dass oft nur ein kleiner Teil davon bekannt wird. Pflegebedürftige Menschen können sich mitunter nicht mitteilen. Eventuell wollen sie aus Scham oder Angst nicht von Vorfällen berichten oder diese polizeilich anzeigen.
Was sie angehenden Ärzt:innen und Pfleger:innen beibringt, erzählt Ulrike Hoffmann bei einbiszwei.
LINKSAMMLUNG:
Stiftung „Zentrum für Qualität in der Pflege”
Gewaltprävention in der Pflege – Sexualisierte Gewalt
Aufarbeitungskommission Vorstellung von Ulrike Hoffmann
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Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm Vorstellung von Ulrike Hoffmann
Zur Webseite der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ulrike Hoffmann ist seit 2024 Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
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