Kinderhandel und -ausbeutung in Deutschland – gibt es das wirklich, Martina Döcker?
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[00:00:00.240] - Martina Döcker
Wenn man jetzt zum Beispiel in die Statistik vom letzten Jahr schaut, 2023, dann sprechen wir bei den Betroffenen oder Opfern, minderjährigen Opfern von Menschenhandel, von 226 Opfern. Und da ist es tatsächlich auch so, dass in erster Linie die sexuelle Ausbeutung ja gesehen wird. Dann, wenn man da noch mal eben auf spezifische Formen schaut, dann sind wir ja auch in dem Bereich des sexuellen Missbrauchs gegen Entgelt, von Kindern, von Jugendlichen. Wir sind auch im Bereich der Darstellung sexueller Gewalt.
[00:00:31.970] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:55.610] - Nadia Kailouli
Kinderhandel in Deutschland, da würde man zunächst mal sagen: "Das gibt es doch gar nicht." Aber das gibt es eben leider doch. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit 226 minderjährige Betroffene gezählt. Und das sind nur die registrierten Fälle, die im sogenannten Bundeslagebild „Menschenhandel und Ausbeutung" auftauchen. Das Dunkelfeld ist riesig, denn was nur selten erfasst wird, sind Kinder, die zur Prostitution gezwungen werden oder zum Betteln zum Beispiel, oder Kinder, die illegal in Restaurants oder Nagelstudios arbeiten müssen. Der Handel mit Minderjährigen und deren Ausbeutung fällt nur auf, wenn die Polizei genau kontrolliert. Und selbst dann sagen Kinder nur selten aus, denn ihnen wurde eingeschärft: „Rede nicht mit Behörden." Dass es Menschenhandel in Deutschland überhaupt gibt, ist erschreckend und anscheinend ist das Ausmaß so groß, dass es jetzt die erste bundesweite Beratungsstelle zum Thema Menschenhandel und Ausbeutung von Minderjährigen gibt. Geleitet wird sie von Martina Döcker und sie ist heute bei uns bei einbiszwei.
[00:01:55.450] - Nadia Kailouli
Martina Döcker, herzlich willkommen bei einbiszwei.
[00:01:58.140] - Martina Döcker
Vielen Dank für die Einladung. Habe ich mich sehr gefreut.
[00:02:00.800] - Nadia Kailouli
Ja, wir freuen uns vor allem, dass du da bist, denn wir reden über ein Thema. Darüber haben wir hier bei einbiszwei tatsächlich so noch nicht gesprochen. Und zwar geht es um Menschenhandel, vor allem um Menschenhandel von Minderjährigen, von Kindern. Vielleicht fangen wir einfach mal so an, Menschenhandel? Was ist das genau?
[00:02:18.460] - Martina Döcker
Also Menschenhandel ist ein sehr komplexes Phänomen und es ist auf jeden Fall eine schwere Kindeswohlgefährdung, wenn wir von Minderjährigen sprechen. Es ist auch eine Verletzung von Kinderrechten und wir befinden uns aber auch im Bereich einer schweren Straftat. Und wenn man jetzt über die Definition von Menschenhandel spricht, dann schaut man als erstes Mal auf die weltweit, sage ich mal, verbindliche Definition des Palermo-Protokolls aus dem Jahr 2000, welche dann auch von der Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels und auch der EU-Menschenhandelsrichtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels übernommen wurde oder man hat sich zumindest weitgehend auch daran orientiert. Und diese Definition setzt sich aus drei Elementen zusammen. Also man spricht einmal von der Handlung, man spricht von den Mitteln und von dem Zweck. Und bei den Handlungen geht es um die Rekrutierung von Betroffenen von Menschenhandel. Das können ja sowohl erwachsene Personen sein, als eben auch Minderjährige. Und dann, wenn man von Rekrutierung spricht, dann ist es eben, es geht um die Anbahnung des Kontakts, es geht um Transportmöglichkeiten, um Aufnahme, um Beherbergung. Also das sind so die Handlungen, sage ich mal, die dahinter stehen. Und dann gibt es noch das Mittel. Also wenn man sich tatsächlich diese Definition anschaut. Und dann geht es um die Ausnutzung einer Zwangslage. Es geht um Drohung, es geht vielleicht auch um Zahlungen, es geht um Vortäuschung falscher Sachverhalte. Und dann, wenn wir zu der Tat selber kommen, dann ist es eben die Ausbeutung. Und da gibt es ganz verschiedene Ausbeutungen, die auch schon in der Definition des Palermo-Protokolls festgelegt worden sind. Und es sind eben die Ausbeutung im Bereich der sexuellen Ausbeutung, der Arbeitsausbeutung, Ausbeutung bei der Begehung strafbarer Handlungen, Bettelei ist hinzugekommen durch die EU-Menschenhandelsrichtlinie, die Ausnutzung - ganz neu dabei - also von Zwangsverheiratung, die illegale Adoption, wenn wir das auch noch mal kindspezifisch schauen und auch die Ausbeutung im Rahmen von Leihmutterschaft und die Organentnahme. Das sind erst mal die Ausbeutungsformen, die dort beschrieben stehen. Und was aber bei Kindern und Jugendlichen, also wenn wir von betroffenen Kindern und Jugendlichen sprechen, dann ist wichtig zu beachten, dass Menschenhandel bereits besteht, wenn wir von der Rekrutierung zum Zweck der Ausbeutung sprechen. Also es muss nicht immer zur Ausbeutung kommen. Dann sind wir schon im Bereich des Menschenhandels, durch diese Rekrutierung und Anbahnung des Kontaktes. Und eben diese Wahl, also der Mittel, dass man eine Zwangslage herstellt oder mit Drohungen arbeitet oder Gewalt, das ist bei Minderjährigen auch nicht erforderlich. Der Grund, der dahinter steht, ist eben, dass man sowieso davon ausgeht, es besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Jugendlichen und einfach auch Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen, sage ich mal. Und so ist dann die offizielle Definition in den internationalen und auch europäischen Rechtsinstrumenten, die sich dann auch im Nationalen, also bei uns im Strafgesetzbuch, in den verschiedenen Paragrafen wiederfindet.
[00:05:29.780] - Nadia Kailouli
Jetzt hat man von dem einen oder anderen, was du gerade geschildert hast, schon mal was gehört. Also der sexuellen Ausbeutung, dass Frauen aus unterschiedlichen Ländern irgendwo hin transferiert werden und da zur Prostitution gezogen werden, zum Beispiel. Organhandel. Das sind alles so Szenarien, wo wir in Deutschland denken: "Das passiert da irgendwo bei denen, denen es eh schon nicht gut geht." Jetzt ist eure Beratungsstelle zu dem Thema aber hier in Berlin. Inwieweit spielen diese Themen, die du gerade angesprochen hast, in Deutschland eine Rolle?
[00:06:01.000] - Martina Döcker
Also das ist richtig, was du sagst, dass man erst mal bei Menschenhandel nicht an Deutschland denkt. Und dennoch wissen wir, nur wenn wir von dem Hellfeld ausgehen und das Hellfeld, was wir in Deutschland haben, also tatsächlich zur Datenlage und Statistik im Bereich des Menschenhandels mit Minderjährigen, dann schauen wir auf das Bundeslagebild Menschenhandel des Bundeskriminalamtes. Und da sprechen wir dann auch von den abgeschlossenen Ermittlungsverfahren. Und wenn man jetzt zum Beispiel in die Statistik vom letzten Jahr schaut, 2023, dann sprechen wir bei den Betroffenen oder Opfern, minderjährigen Opfern von Menschenhandel, von 226 Opfern.
[00:06:38.950] - Nadia Kailouli
In Deutschland?
[00:06:40.060] - Martina Döcker
Genau, in Deutschland.
[00:06:41.480] - Nadia Kailouli
Die registriert sind, also die schon sozusagen ermittelt sind?
[00:06:45.120] - Martina Döcker
Die ermittelt sind, genau. Und da ist es tatsächlich auch so, dass in erster Linie die sexuelle Ausbeutung ja gesehen wird oder wir auch betroffene Minderjährige identifizieren. Und es sind tatsächlich, aber auch nach dem Bundeslagebild, in aller in erster Linie deutsche Minderjährige, die betroffen sind von sexueller Ausbeutung. Also wir haben auch Minderjährige mit ausländischer Staatsangehörigkeit, aber es sind eben auch Deutsche, die betroffen sind.
[00:07:10.830] - Nadia Kailouli
Das heißt dann, dass das eben Kinder sind, Minderjährige sind, die in Deutschland leben, die sozusagen zur sexuellen Ausbeutung innerhalb des Landes – es klingt so schlimm – gehandelt werden. Das klingt wirklich schlimm, wenn ich das gerade so ausspreche, merke ich gerade. Das klingt auch so wahnsinnig sachlich, technisch irgendwie.
[00:07:29.670] - Martina Döcker
Genau, ich finde auch, es klingt wahnsinnig schlimm, im Bereich der sexuellen Ausbeutung, aber tatsächlich auch bei den anderen Ausbeutungsformen. Es ist eben auch so, dann haben wir ja da gerade im Bereich der sexuellen Ausbeutung… Es ist die Ausbeutung in Form von Zwangsprostitution einerseits, wie auch bei Erwachsenen oder bei Frauen. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch wissen, Prostitution ist für Minderjährige verboten. Also es darf eigentlich gar nicht stattfinden. Und dann sind wir aber auch im Bereich der kindspezifischen Form der sexuellen Ausbeutung. Wenn ich ja kindspezifisch sage, dann meine ich da tatsächlich Personen unter 18 Jahren mit, also Kinder und Jugendliche. Im internationalen Gebrauch spricht man halt nach UN-Kinderrechtskonvention dann von Kind, also unter 18 Jahren. Ich weiß, im deutschen Kontext muss man da immer auch gut unterscheiden, aber es geht eben um Minderjährige. Und dann, wenn man da noch mal eben auf spezifische Formen schaut, dann sind wir ja auch in dem Bereich des sexuellen Missbrauchs gegen Entgelt, noch von Kindern, von Jugendlichen. Wir sind auch im Bereich der Darstellung sexueller Gewalt, also was man häufig unter dem Begriff noch "Kinderpornografie", was einfach auch ein Begriff sein sollte, den wir auf jeden Fall aus unserem Sprachgebrauch streichen und auch aus dem Sprachgesetzbuch.
[00:08:48.550] - Nadia Kailouli
Das ist so interessant. Wir haben da gestern noch hier drüber gesprochen, also intern, unter Kolleginnen und Kollegen, dass dieser Begriff „Kinderpornografie", so, also was ist das? Was soll das sagen? Aber das ist im juristischen Sinne eben noch so eben auch in den Büchern steht. Deswegen bin ich dir gerade so dankbar, dass auch du sagst, das sollten wir eigentlich so nicht sagen.
[00:09:08.720] - Martina Döcker
Absolut.
[00:09:09.030] - Nadia Kailouli
Das noch so ergänzend. Aber wenn du das alles jetzt so schilderst, um das mal so zu verstehen, was passiert da eigentlich bei aller furchtbaren, schrecklichen Tat, die da begangen wird. Aber um das System Handel, Menschenhandel zu verstehen, wie soll ich mir das irgendwie vorstellen? Da sind Kinder, die sind ja irgendwo, die leben ja irgendwo, sei es zu Hause oder in einer Einrichtung, wenn sie halt nicht bei ihren Eltern sind. Wie kann es denn in Deutschland dann passieren, dass da Menschen sind, die Kinder, Minderjährige, zu sexuellen Handlungen zwingen, missbrauchen, oder weil du eben auch den Punkt Arbeitsausbeutung angesprochen hast oder betteln oder so? Wie kann das sein, dass das innerhalb unseres Landes passieren kann, dass man Kinder in Menschenhandelgeschäfte reinbringt?
[00:10:00.430] - Martina Döcker
Ja, ich glaube, tatsächlich ist das sehr komplex und vieles passiert dann natürlich auch im Verborgenen. Und wir müssen einerseits wissen, es ist auch so komplex, weil wir sprechen einerseits von dem Bereich der organisierten Kriminalität und es werden ja auch sehr, sehr hohe Gewinne damit erzielt. Und andererseits sprechen wir aber auch vom direkten Nahfeld oder dem direkten sozialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen. Also es können ja auch Eltern oder eben Familienangehörige in die Ausbeutung, in den Handel mit Kindern involviert sein. Und dann sind wir wieder sehr schnell bei diesen Abhängigkeitsverhältnissen. Und ich glaube, das ist so komplex und auch so vielschichtig, dass das sicherlich auch anders abläuft, wenn wir jetzt zum Beispiel im Bereich der sexuellen Ausbeutung bei deutschen betroffenen Minderjährigen halt schauen, wo dann auch zum Beispiel die Anwerbung über – ist bestimmt ja auch schon mal im Rahmen des Podcasts gefallen – die Lover-Boy-Methode zum Beispiel erfolgt, wo es darum geht, um die Vortäuschung eines Liebesverhältnisses und dann auch eine emotionale Abhängigkeit entsteht und darüber dann auch die Prostitution angebahnt wird und ganz umfassend Abhängigkeit, aber auch Isolation aufgebaut wird. Also seitens, es sind ja dann in erster Linie Mädchen oder junge Frauen eben auch betroffen. Und da ist der Schritt schon sehr groß, aufgrund von Scham, aufgrund aber auch von einer Verbundenheit und den Partner nicht zu verlieren. Es kommen sicherlich auch andere Aspekte hinzu, wie zum Beispiel eine Drogenabhängigkeit. Und manchmal ist auch die Frage: Was war vielleicht auch zuerst da? Besteht vorher der Drogenkonsum und für den Drogenkonsum wird es vielleicht auch erst mal als eine gute Einnahmequelle, sage ich mal, gesehen, auch sexuelle Dienstleistungen anzubieten, aber dann auch das nicht mehr kontrollieren zu können, weil eben Zuhälter tätig werden und da eben auch sehr große Abhängigkeiten und Scham entsteht. Und dann ist es, glaube ich, schon ein sehr großer Schritt, sich auch in diesen Situationen Hilfe zu holen. Und wenn wir von deutschen Mädchen, zum Beispiel – es sind sicherlich auch Jungen betroffen – sprechen, dann sind es ja noch dann Mädchen, die die Sprache kennen, die die Gesellschaft kennen, die Institutionen, und vielleicht noch mal eher wissen, an wen sie sich wenden können, oder ist es Schule, Schulsozialarbeit oder Jugendclub oder dann doch die beste Freundin. Aber wenn wir von ausländischen Betroffenen sprechen, die vielleicht auch nicht die deutsche Sprache sprechen, unsere Gesellschaft nicht kennen, also keine Kontakte haben, tatsächlich sehr, sehr isoliert gehalten werden, dann ist es sehr, sehr schwierig. Und ich glaube, hinzu kommt eben das dann auch wenig Wissen und Kenntnisse oder: "Was ist denn dann eigentlich auch Ausbeutung oder Zwang? Und welche Rechte habe ich auch? Und welche Möglichkeiten der Hilfe gibt es eigentlich auch?" Vielleicht insbesondere noch, wenn wir auch von Minderjährigen sprechen, die aus Drittstaaten kommen, die dann vielleicht auch illegal eingereist sind. Das sind dann auch sehr schwierige Kontexte. Und sicherlich wird, sage ich mal, die Menschenhändler, die Täter, die ausbeutenden Personen, die haben ja auch entsprechende Anweisungen gegeben, informiert, die das auch sehr schwierig machen, sich daraus zu bewegen.
[00:13:16.460] - Nadia Kailouli
Ja, und wenn wir jetzt von den Fällen sprechen, die jetzt eben ermittelt worden sind: Hast du Einblick, um mal einen Einblick zu bekommen, was für Fälle das sind? Also in welcher Situation fand das statt? Wo sind die sozusagen rausgeholt worden? Aus welchen Situationen? Man bekommt ja irgendwie so Bilder. Gibt es hier, weil du gerade auch organisierte Kriminalität erwähnt hast. Da stellt man sich vor, gibt es da eine Gruppe von Leuten, die in irgendeiner Halle irgendwo da irgendwelche Menschen verbarrikadieren und die dazu zwingen: „So, und ihr geht jetzt raus und um 17 Uhr seid ihr wieder da und dann müsst ihr das und das und das geleistet haben." Keine Ahnung. Also ist das ein Szenario, was jetzt realistisch ist oder bin ich komplett weit weg?
[00:13:58.460] - Martina Döcker
Ich würde es zumindest auch nicht ausschließen, dass es in ganz ähnlicher Form auch laufen kann und organisiert werden kann. Also ich sage mal so, von diesen großen Hallen, das habe ich jetzt zwar nicht in Deutschland gesehen, aber tatsächlich, wenn es um den Bereich der Digitalisierung des Menschenhandels geht, weiß ich, dass es solche ganz großen Hallen zur Ausbeutung, zum Beispiel in Kambodscha gibt, oder auch in einigen afrikanischen Ländern. Ich weiß es tatsächlich nicht von Deutschland her. Ja, wie sieht es denn aus? Was sind das für Situationen? Also jetzt sind wir mit unserer neuen Fachberatungsstelle tatsächlich erst am Anfang. Gleichwohl gibt es IN VIA Berlin, gab es ja schon seit vielen Jahren die Fachberatungsstelle für Frauen, also für Erwachsene, wo aber auch immer wieder halt minderjährige Betroffene angekommen sind und das ging dann in erster Linie über das LKA, sozusagen. Und das waren sowohl Deutsche als auch ausländische Minderjährige. Und zuletzt fiel dieser Bereich, was ich eben schon angesprochen hatte, wenn diese Kombination mit einer Drogensucht. Aber wenn ich jetzt noch mal denke, ausländische Betroffene… Ich kann mich zum Beispiel erinnern, das ist jetzt aber noch aus meiner vorherigen Tätigkeit, da hatte ich mich schon auch mit dem Thema beschäftigt. Deswegen kam es eben auch dazu, jetzt, sage ich mal, in dieser neuen Fachberatungsstelle auch tätig zu werden. Und da kann ich mich zum Beispiel erinnern, dass wir kontaktiert wurden beim internationalen Sozialdienst und da ging es um ein ungarisches Mädchen, was eben zuvor im Kinderheim in Ungarn gelebt hatte, dort aus diesem Kinderheim vermutlich auch über die Lover-Boy-Methode rekrutiert wurde und mittlerweile 16 Jahre alt war und sagte, sie war seit zwei Jahren in Deutschland an verschiedenen Orten, immer wieder verschiedene Orte und wurde zur Prostitution gezwungen. Und dieses Mädchen hat dann es irgendwann geschafft, in verschiedenen Hotels und so weiter zu fliehen und an die örtliche Polizeistelle, also von einer Kleinstadt zu wenden. Und gleichzeitig, die Personalien, die dieses Mädchen angegeben hat… Also es fand sich im Profil im Darknet, als die Polizei eben auch Ermittlungen aufgenommen hat. Und es war interessant, weil auch die Personalien an anderer Stelle aufgefallen sind in Süddeutschland bei einer Kontrolle am Bahnhof, also dass dieselben Personalien benutzt worden sind. Jetzt kann ich zum Beispiel gar nicht sagen, wie die Ermittlungen an der Stelle weitergegangen sind, weil ich für den Bereich Kinderschutz an der Stelle zuständig war. Und dieses Mädchen wollte zum Beispiel sehr schnell nach Ungarn zurückkehren, also in das Kinderheim, was sie kannte, wo sie mit drei Jahren, sage ich mal, aufgenommen worden ist, hatte ja auch eigentlich keine andere Idee, was, sage ich mal, eine andere Perspektive sein könnte. Und da kam es dann sehr schnell zu einer Rückführung auch nach Ungarn an der Stelle, sodass ich zum Beispiel gar nicht weiß, wie die Ermittlungen dann verlaufen sind und was da vielleicht tatsächlich noch, ob es zu einem Strafverfahren an der Stelle auch kam. Und das ist, glaube ich, oft auch mal die Krux, dass diese Zusammenführung von Kinderschutz und Strafermittlung, also diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, wir da an der Stelle tatsächlich noch sehr, sehr viel verbessern müssen.
[00:17:16.990] - Nadia Kailouli
Wenn du jetzt gerade so… Also nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine sind ja auch nach Deutschland sehr, sehr viele tausende, hunderttausende Menschen gekommen, vor allem eben Frauen und Kinder. Und wir kennen die Fälle von Frauen, die irgendwo von vermeintlich Helfern angesprochen worden sind: „Sie können bei mir schlafen. Ich gebe Ihnen ein Zuhause und so. Und dann stellte sich aber heraus, dass da ganz andere Absichten hinter steckten und sich einige Frauen dann selbst befreit haben aus einer Situation, wo eventuell sexuelle Gewalt hätte stattfinden können oder dass das Ziel war." Und dementsprechend sind ja auch Kinder davon betroffen. Also merkt ihr das auch, dass gerade Menschen, die aus Notsituationen jetzt gekommen sind, gerade aus der Ukraine in den letzten zwei Jahren, dass vermehrt eben Kinder auch Opfer von diesem Menschenhandelsystem geworden sind, hier in Deutschland zum Beispiel?
[00:18:13.000] - Martina Döcker
Zumindest ist es eine sehr vulnerable Gruppe, sage ich mal. Insbesondere Geflüchtete sind eine sehr vulnerable Gruppe für den Menschenhandel, ja, sowohl auf der Flucht oder vielleicht auch schon im Herkunftsland, aber auch mit Ankunft hier in Deutschland. Das sollte man, glaube ich, immer im Blick haben. Und jetzt bei den Geflüchteten aus der Ukraine, eben Mütter ja, wie du schon sagtest, häufig mit Kindern. Da hatte man das von Anfang an im Blick und hat versucht, auch sehr viel Präventionsarbeit, also zur Aufklärungsarbeit, für die Ukrainerinnen, auch mit Kindern zu machen. Und ich weiß, dass wir hier im Zuge der ressortübergreifenden Arbeitsgruppe zum Thema Handel mit Kindern da auch immer noch mal im Austausch waren mit dem LKA Berlin, wo die gesagt hatten, es gab ein paar wenige Fälle, wo es zu Überprüfungen kam, aber wo nichts nachgewiesen werden konnte. Ich habe aber gelesen, dass es zum Beispiel einen Fall in Hamburg tatsächlich gegeben hat, wo eben auch ein Mann, glaube ich, sogar für den Transport gesorgt hatte und Mutter und Kinder bei ihm gelebt haben in Hamburg und dass es da zu sexuellen Übergriffen an der Stelle auch gekommen ist, in der Form der Ausbeutung, was jetzt meiner Meinung nach auch verurteilt worden ist. Aber das habe ich tatsächlich auch nur aus der Ferne, sage ich mal, zur Kenntnis genommen und kann tatsächlich nicht sagen, dass bei uns jetzt in unserer neuen Fachberatungsstelle eben mit dem Fokus minderjährige Betroffene oder auch bei den Kolleginnen im Bereich Menschenhandel mit Frauen das tatsächlich also als Betroffene angekommen ist.
[00:19:44.120] - Nadia Kailouli
Jetzt seid ihr eben eine recht neue Beratungsstelle eben ganz gezielt für Minderjährige, die Opfer von Menschenhandel geworden sind. Jetzt frage ich mich: Wie kommen die denn auf euch zu? Also kommen die dann da irgendwie raus oder merken, okay, keine Ahnung, eine 15-Jährige wird von ihrem Freund dazu gezwungen, sich zwangs zu prostituieren, weil er sie unter Druck setzt mit: „Sonst bin ich nicht mehr dein Freund und wenn du mich liebst, dann machst du das." Sind das dann diese Fälle, die dann sagen: „Ich will das nicht mehr. Ah ja, super, da gibt es ja jetzt die Beratungsstelle, die kontaktiere ich mal." Oder wie kommt das?
[00:20:19.550] - Martina Döcker
Ja, das wäre schön, ne? Nein, ich glaube, so wird das nicht funktionieren. Also ich will nicht ausschließen, dass vielleicht auch mal vorkommt, so dass irgendjemand dann die Informationen weiter gibt und dann meldet sich ein Betroffener oder eine Betroffene direkt bei uns. Aber ich glaube, das Herausfordernde ist tatsächlich, diesen Zugang zu schaffen, zu Hilfen, also insbesondere bei Minderjährigen. Bei Erwachsenen ist es sicherlich auch nicht einfach, aber bei Minderjährigen ist es sehr, sehr schwierig. Und die Erfahrungen zeigen auch, dass viele das dann vielleicht auch erst mit Volljährigkeit schaffen oder es gelingt. Und die Idee, die wir dazu haben, ist schon, dass wir natürlich auch direkt betroffene Minderjährige ansprechen wollen, aber dass wir tatsächlich ganz viel auch in die Sensibilisierung geben von allen möglichen Stellen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Und einerseits sind es auch die Schulen. Aber was wir gerade eben auch viel machen, ist erst mal, wir stellen uns vor als neue Fachberatungsstelle und wir schulen und sensibilisieren auch in der Kinder-und Jugendhilfe, weil das ist tatsächlich so, dass bislang sehr, sehr wenige Kenntnisse vorhanden sind, auch in der Kinder-und Jugendhilfe ist es tatsächlich ein Thema gewesen, was sehr so, wenn überhaupt, also von der Strafverfolgung, der Strafermittlung geführt wurde oder bearbeitet wurde, dieses Thema.
[00:21:39.920] - Martina Döcker
Und in der Kinder-und Jugendhilfe ist es bislang kaum ein Thema und das ist auch, so sage ich mal, die Errungenschaft, die ich so sehe mit dieser tatsächlich ganz neuen Fachberatungsstelle, die ja durch die Senatsverwaltung in Berlin finanziert wird, aber eben angedockt ist an eine Fachberatungsstelle, die auch schon seit sehr langem besteht, also wo eine große Expertise in dem Bereich Menschenhandel mit Frauen besteht, dass es tatsächlich eine Fachberatungsstelle im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ist. Und das Ziel ist schon, die Kinder- und Jugendhilfe an der Stelle auch ein Stück weit fit zu machen, zu ertüchtigen, auch Menschenhandel zu erkennen und die Ausbeutung von Minderjährigen zu erkennen, dass wir Betroffene überhaupt identifizieren, dass wir für Schutz sorgen können, dass wir aber auch für die Gewährleistung von Opferschutzrechten. Und dann wäre es schon die Idee, also noch mal zum Zugang zu uns als Fachberatungsstelle zu nennen, dass das tatsächlich über Kinder-und Jugendhilfe, also Jugendamt, Regionaler Sozialdienst, Amt für soziale Dienste oder auch die Teams für die unbegleiteten Minderjährigen oder die Kinderschutzteams, aber vielleicht auch genauso im Bereich der Streetwork, der aufsuchenden Arbeit, also all die tatsächlich, die in Berührung kommen, dass die Zugänge ermöglichen. Und gleichzeitig auch, und das ist auch unsere allererste Aufgabe, dass wir für die Fachberatung der Fachkräfte sorgen in dem Bereich, weil man davon ausgeht, dass wenig Wissen herrscht und dass man ganz spezifisch eben auch hinschauen muss, damit wir überhaupt die Identifizierung verbessern, weil das, was ich eben anfangs meinte, zum Hellfeld, die 226, in den abgeschlossenen Ermittlungsverfahren der Strafermittlungsbehörden hier in Deutschland, da wird halt eben einfach ein großes Dunkelfeld vermutet. Und das ist auch gerade so meine Erfahrung. Also wenn ich jetzt, sage ich mal, im Kontakt bin mit den verschiedenen Teams in der Kinder- und Jugendhilfe, dass da schon ganz viel Berührung mit dem Thema ist, aber dass es nie unter dem Begriff „Menschenhandel" oder auch „Ausbeutung" verstanden wird. Und das ist dann manchmal die Schwierigkeit, dass vielleicht auch nicht die richtigen Schritte oder die dann auch wirken können. Manchmal muss man ja auch sehr schnell sein, anderenfalls sind betroffene Minderjährige nicht mehr auffindbar, gehen vermisst.
[00:23:52.980] - Nadia Kailouli
Also das heißt, die Polizei, die macht da zu wenig?
[00:23:56.060] - Martina Döcker
Nein, das würde ich jetzt so nicht sagen. Man sagt, eigentlich ist es ein Kontrolldelikt und das hängt natürlich auch mit personellen Ressourcen zusammen. Jetzt ist es in Berlin auch so, dass es auch in Berlin das einzige Kommissariat im Bereich Menschenhandel zum Nachteil Minderjähriger gibt. Also hier gibt es ein spezialisiertes Kommissariat, was es auch in anderen Bundesländern eben nicht gibt. Und das heißt, da gibt es natürlich schon ganz schön viel Expertise und Know-how an der Stelle und unsererseits dann auch eine enge Zusammenarbeit.
[00:24:29.520] - Nadia Kailouli
Wenn wir jetzt bei diesen 225 Fällen sind oder 226 Fällen und du jetzt gerade sagst, das sieht sehr nach einem riesigen Dunkelfeld aus, dann fragt man sich ja schon, wie soll man die überhaupt entdecken? Also vor allem, wenn das Kinder und Jugendliche sind, die in irgendeinem Konstrukt auch leben, wo sie zu irgendetwas, sei es zu sexuellen Handlungen oder zur Arbeitsausbeutung oder was auch immer gezwungen werden, misshandelt werden, wie soll man da reinkommen? Wie soll man da rankommen? Also wie kann da die Arbeit als Beratungsstelle dienen? Klar, wir haben verstanden, ihr sensibilisiert. Also ihr macht den Schritt, bevor es soweit ist, dass ihr überhaupt sagt, wir brauchen eine Awareness. Macht es sichtbar, dass es das Thema gibt und dass es da Leute gibt, die helfen können. Aber da spielt ja auch eine ganz große Angst eine Rolle. Also Leute, die dazu in der Lage sind, Kinder, Jugendliche zu etwas zu zwingen, das sind ja Kriminelle. Und vor Kriminellen habe ich Angst. Vor allem wenn die mich schon zu etwas zwingen und mir vielleicht auch mit etwas drohen. Der Schritt, das irgendwo anzuzeigen, ist ja riesig und davor habe ich ja auch Angst. Wie macht man das also?
[00:25:42.030] - Martina Döcker
Ja, also das mit der Sensibilisierung tatsächlich ist es ja einerseits … Also natürlich ist es für die Prävention, aber die Sensibilisierung ist ja auch da, um überhaupt Anzeichen zu erkennen. Und das ist häufig wirklich tatsächlich auch so ein Mosaik, zusammenführen von Informationen oder auch beobachten, oder wenn ich da schon mal ein komisches Bauchgefühl habe, noch genauer hinzuschauen und auch zu gucken: Wie komme ich denn eventuell auch an Informationen? Wen muss ich an der Stelle noch einbeziehen? Deswegen, diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, glaube ich, sehr, sehr wichtig, einerseits für das Erkennen und für die Identifizierung von Betroffenen, aber dann auch, wenn wir, sage ich, auch mal für die Sicherheit … Also wenn man jetzt sagt, wir bieten Hilfe an, wir versuchen, Minderjährige daraus zu lösen, dann brauchen wir auch ein ganz sicheres Umfeld für die Betroffenen. Und auch dafür braucht es die Zusammenarbeit, die enge Zusammenarbeit für die Gefährdungs- und Risikoeinschätzung, und auch zu gucken, welche Maßnahmen brauchen wir, damit wir die Sicherheit gewährleisten können. Und ich glaube, da müssten wir auch noch einiges verbessern. Wir haben zum Beispiel keine spezialisierte Unterkunft für minderjährige Betroffene des Menschenhandels. Das macht es auch schwierig, wenn man im Einzelfall sehr genau schauen muss, welche Absprachen kann man treffen. Da sehe ich auf jeden Fall Bedarf auch, damit wir überhaupt auch Minderjährigen tatsächlich was anbieten können und auch eine Alternative anbieten können und auch sagen: "Wir können dich schützen." Also wenn wir auch tatsächlich im Bereich der organisierten Kriminalität denken. Aber ich will auch noch mal betonen: Das eine ist tatsächlich der Bereich der organisierten Kriminalität, aber tatsächlich eben auch, wir wissen, es findet auch innerhalb von Familien statt, wenn es darum geht, zum Familieneinkommen beizutragen, wie auch immer. Also diesen Teil haben wir auch. Den gibt es durchaus auch. Aber ich denke, dass wir tatsächlich den betroffenen Minderjährigen auch gut vermitteln müssen: Wir kümmern uns und wir machen euch auch ein sicheres Angebot und geben euch eine sichere Perspektive.
[00:27:51.400] - Nadia Kailouli
Und das könnt ihr dann auch garantieren, weil oft ist es ja irgendwie so: „Da ist was vorgefallen. Wie beweise ich das jetzt?" Und solange man da keine Beweise hat, dann laufen erst mal Ermittlungen und dann gilt die Unschuldsvermutung und solange die Ermittlungen laufen, muss ich irgendwie wieder da raus. Jetzt war ich aber schon bei der Polizei. Also könnt ihr das garantieren, dass, wenn man sich jetzt an euch wendet oder zu der Polizei geht und die sind sensibilisiert für dieses Thema, dass sie dann geschützt sind?
[00:28:22.350] - Martina Döcker
Also ich sehe zumindest unsere Aufgabe so, dass wir alles dafür tun, dass das passiert, dass das auch im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe möglich ist und dass wir die Polizei hinzuziehen, wo das notwendig ist und das mit der Anzeige… Also es gibt nicht die Pflicht zur Anzeige, aber natürlich ist es auch eine wichtige Information. Und wenn die Möglichkeit besteht und all die Unterstützung sozusagen, die auch ein Minderjähriger in den Rahmen dieses Prozesses auch anzuzeigen und auch dieses Ermittlungsverfahren durchzustehen. Und tatsächlich ist es eine große Hürde. Also der Personalbeweis, der auch erfolgen muss für dieses Ermittlungsverfahren. Ich glaube, das sind sehr große Hürden auch in der Strafverfolgung und auch für die Verurteilung von Tätern. Für mich steht das als Fachberatungsstelle der Kinder- und Jugendhilfe nicht im Vordergrund, sondern tatsächlich, dass es eine individuelle und bedarfsgerechte Hilfe für das betroffene Kind oder den betroffenen Jugendlichen, dass wir die schaffen. Und da sehe ich tatsächlich, wenn, noch ganz viel Entwicklungsbedarf, diesen Teil der geeigneten Unterbringung, der macht mir tatsächlich auch noch große Sorgen. Also wenn ich auch sage, okay, wir haben jetzt die Fachberatungsstelle, aber ich glaube, da brauchen wir auch noch andere geeignete Maßnahmen. Und ich hoffe, dass wir da hinkommen.
[00:29:47.840] - Nadia Kailouli
Was würdest du sagen, was wäre das Wichtige? Was würde euch helfen? Klar, dass ihr überhaupt die Unterkünfte habt, ja, wie wahrscheinlich eine Anlaufstelle für Frauen, die Gewalt erlebt haben, dass die in einem Frauenhaus dann irgendwie sagen: "Okay, Dann finden wir und habt ihr hier erst mal ein Zimmer, wo ihr in Sicherheit seid." Aber auch da wissen wir, wie viele Frauen eben vor verschlossenen Türen dann stehen, weil sie keine Kapazitäten haben. Also die Unterkunft, dass wenn man kommt, dass man dann irgendwie auch sicher beherbergt werden kann. Und darüber hinaus, was würdest du dir wünschen, was vor allem ja den Kindern am Ende helfen kann, wenn sie in so eine Situation gekommen sind, dass sie, sei es im familiären Kontext oder eben in organisierter Kriminalität?
[00:30:34.020] - Martina Döcker
Ja, was ich mir wünschen würde. Also ich sage mal, ich würde mir erstens wünschen, dass wir auch, weil ich davon ausgehe, auch wenn die Zahlen des Hellfeldes ein bisschen eine andere Bild vermitteln, dass wir eigentlich von sehr vielen ausländischen Betroffenen, Minderjährigen sprechen, dass wir da genau hingucken und auch genau abklären, wenn wir über die Perspektiven, also auch innerhalb von Kinder- und Jugendhilfe, nachdenken und dass wir auch Perspektiven in Deutschland mit einer Aufenthaltsperspektive auch schaffen. Also da geht es ja dann insbesondere, wenn wir von Drittstaatangehörigen sprechen und nicht von der Freizügigkeit in der EU. Und da müssen wir an beides denken. Das sind eigentlich auch Vorgaben, die bestehen, also staatliche Verpflichtungen aus der Europaratskonvention und auch aus der EU-Menschenhandelsrichtlinie. Und die sind derzeit aber nach deutschem Aufenthaltsrecht, Asylrecht, noch sehr an die Kooperation mit den Ermittlungsbehörden gekoppelt und sind eben auch Kann-Bestimmungen. Und ich glaube, dass man an der Stelle auf jeden Fall einerseits für eine Perspektive und tatsächlich auch eine Stabilisierung für Betroffene da noch mal sehr genau hinschauen muss, dass man hier tatsächlich für einen sicheren Aufenthalt sorgt. Und manchmal kann auch die Rückkehr ins Heimatland auf jeden Fall der bestmögliche Weg oder im besten Interesse des Betroffenen sein, aber dass wir dann auch für eine gute Abklärung und nicht vorschnell zurückführen und auch immer in Kooperation mit den Behörden vor Ort, also auch da für Unterstützung zu sorgen. Und dann sind wir auch in dem Bereich von therapeutischen Hilfen, also dass wir da auch Angebote hier machen können, in Deutschland, aber auch anknüpfen können in dem jeweiligen Heimatland zum Beispiel.
[00:32:22.010] - Nadia Kailouli
Jetzt gibt es ja Fälle, die sind für mich nicht sichtbar. Es gibt aber auch Fälle, die sind für mich sichtbar. Zum Beispiel, wenn auf der Straße ein Kind bettelt. Wie sollte ich damit umgehen? Also als die, die es sieht, als erwachsene Person, die in Berlin irgendwo auf der Straße sieht, da ist ein Kind und da hinten dran ist dann auch eine Mutter oder ein Vater vielleicht. Weiß man gar nicht, ist das wirklich die Mutter? Ist das wirklich der Vater? Das weiß man ja auch nicht. Und da wird gebettlet und dann kommt zum Beispiel jemand und nimmt da das Geld und haut wieder ab und so. Also mische ich mich da ein? Melde ich das? Was sollte ich da am besten tun?
[00:32:58.790] - Martina Döcker
Also ich würde auf jeden Fall sagen, melden, weil es ist ja, sage ich mal, das ist mutmaßlich ein Fall von Ausbeutung eben durch Bettelei. Das Kind wird da ja wahrscheinlich nicht freiwillig, sage ich mal, sitzen oder vielleicht vermeintlich freiwillig, weil auf einer Verbundenheit den jeweiligen Erwachsenen gegenüber, aber vielleicht auch nicht. Es ist auf jeden Fall eine Gefährdung des Kindeswohls. Es ist auch eine Gefährdung, weil ja, sage ich mal, andere Rechte da verletzt werden, zum Beispiel das Recht auf Bildung. Also das Kind wird vermutlich auch nicht zur Schule gehen. Und von daher auf jeden Fall melden und ich würde das auch in allererster Linie ans örtliche Jugendamt, wenn wir jetzt von Berlin sprechen, das jeweilige Bezirksjugendamt melden. Es wäre aber sicherlich auch eine Möglichkeit, Ordnungsamt oder Polizei an der Stelle auch einzuschreiten.
[00:33:44.010] - Nadia Kailouli
Das heißt, wenn die Polizei so was sieht, dann … Weil man sieht das nicht so oft, man sieht viele Erwachsene, die das machen, aber man sieht jetzt nicht so oft Kinder, aber man sieht es jetzt auch nicht selten.
[00:33:54.960] - Martina Döcker
Eben.
[00:33:55.470] - Nadia Kailouli
Das heißt, wenn die Polizei so was, das Ordnungsamt, so was sieht, dann wäre das Ordnungsamt und die Polizei dazu natürlich verpflichtet, das eigentlich direkt zu registrieren und dem hinterherzugehen, weil ein Kind sollte nicht auf der Straße stehen, egal zu welcher Urzeit, und mit den Eltern oder überhaupt Erwachsenen in einer Bettelsituation sein.
[00:34:14.530] - Martina Döcker
Genau. Und es wäre ja erst mal wichtig zu überprüfen: Wer sind denn auch die erwachsenen Personen? Also sind das denn eigentlich die Personensorgeberechtigten? Oder mit welchen Erwachsenen hält sich das Kind auf? Wo sind die Eltern oder Personensorgeberechtigten? Also da braucht es auf jeden Fall eine Abklärung und die Polizei würde an der Stelle auf jeden Fall auch das Jugendamt kontaktieren. Und trotzdem bleibt dann so die Frage: Wie schafft man es dann auch für dieses betroffene Kind? Auch wenn man jetzt sagt, okay, es sind eigentlich keine Personen, Sorgeberechtigten hier vor Ort, die Personen, die dabei waren, sind auch gar nicht mehr auffindbar, wie auch immer, dann würde es ja auch erst mal zu einer Inobhutnahme des Kindes halt kommen.
[00:34:52.540] - Nadia Kailouli
Also das heißt, es muss alles in diesem Setting dann auch passieren?
[00:34:56.230] - Martina Döcker
Genau. Und deswegen sind die Absprachen so wichtig. Und dann eben aber auch richtig. Deswegen ist es auch so die Funktion, die ich mit der neuen Fachberatungsstelle verbinde, dass wir schon gucken, dass die Akteure ganz genau voneinander wissen und in Absprache sind, welche Maßnahmen jetzt wichtig sind für das Kindeswohl, also Sicherung des Kindeswohls an dieser Stelle. Aber es wird in jedem Fall herausfordernd sein, weil die Erfahrung ist ja auch da, dass häufig, wenn es dann zu einer Inobhutnahme kommt, Kinder auch sehr schnell vermisst sind, also dass sie eigenständig sich auch wieder die Inbohutnahme-Stelle oder in einen Kindernotdienst oder Jugendnotdienst dann eben auch verlassen. Und ich glaube, da müssen wir noch mal besser dranbleiben, mit unserem Schutzangebot im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe.
[00:35:47.850] - Nadia Kailouli
Martina, ich finde, du hast uns heute einen Blick in einen Bereich gegeben, den man gar nicht wahrhaben möchte. Unser Podcast ist sowieso voll mit Themen, die man eigentlich gar nicht wahrhaben möchte, aber wir sind nicht naiv. Wir wissen, die Zahlen sind da. Wir sprechen über sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen. Und heute noch mal den Einblick dahin zu bekommen, dass es, was Minderjährige betrifft, durchaus auch in Deutschland eben Menschenhandel gibt, sowohl im Familiären als auch in der organisierten Kriminalität, hat uns, glaube ich, auch noch mal ein bisschen die Augen dafür geöffnet, dass wir auch als Zivilbevölkerung auf der Straße ein bisschen besser hinschauen sollten. Und wenn wir da was sehen, wo wir denken oder das Gefühl haben, dieses Kind sollte gerade nicht in dieser Situation sein, dass wir den Mut haben, das an irgendeiner Stelle zu melden. In diesem Sinne sage ich vielen, vielen Vielen Dank, dass du heute bei uns warst.
[00:36:31.980] - Martina Döcker
Ja, Dankeschön.
[00:36:36.270] - Nadia Kailouli
Ja, Leute, wenn ihr euch jetzt denkt: „Ey, in was für einer krassen Krankenwelt leben wir eigentlich? Jetzt reden wir hier schon von Menschenhandel von Minderjährigen und das auch in Deutschland." Da muss man einfach sagen: Ja, so ist es nun mal. Und es ist gut, dass wir darüber reden, damit wir dafür eine Sensibilität bekommen, damit uns das einfach auch bewusst ist, dass Kinder und Jugendliche eben in Situationen sind, in denen sie nicht sein sollten, sie missbraucht werden, ausgebeutet werden et cetera. Das ist Alltag und eigentlich ist es ja auch egal, wo, ob es jetzt irgendwie in Drittstaaten ist oder hier bei uns vor der Haustür. Wir sollten ja irgendwie dafür dankbar sein, dass es dann eben so Beratungsstellen gibt und Frauen gibt, wie Martina, die sich das auf die Agenda holen und sagen: „Ey, wir müssen da was machen. Wir gucken, was können wir tun, Minderjährigen da zu helfen."
[00:37:29.950] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Da kriegen wir zum Beispiel Fragen: „Wie soll ich mein Kind überhaupt fragen, ob da was passiert ist?" Oder zum Beispiel: „Wie sage ich meinem Kind, dass wenn Freunde zu Besuch sind und wir grillen, dass mein Kind nicht die Unterhose ausziehen soll?" Solche Fragen erreichen uns und dieses Thema beschäftigt euch und wir möchten euch dabei gerne unterstützen. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Einige von euch kennen Ulli Freund vielleicht schon aus der Folge 82 von einbiszwei. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an: einbiszwei@ubskm.bund.de, oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handel „Missbrauchsbeauftragte". Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Kinderhandel in Deutschland – da würde man zunächst mal sagen: Das gibt’s doch gar nicht. Aber das gibt es leider doch. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit 226 minderjährige Betroffene gezählt. Und das sind nur die registrierten Fälle, die im sogenannten „Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung“ auftauchen. Das Dunkelfeld ist riesig, was hier nur selten erfasst wird, sind Kinder, die zur Prostitution gezwungen werden.
Zu den schweren Straftaten gehören sexuelle Ausbeutung, aber auch die Ausbeutung durch Arbeit zum Beispiel in Restaurants oder Nagelstudios. Dann gibt es die Kinder und Jugendlichen, die zum Betteln gezwungen werden und abends einen bestimmten Betrag abgeben müssen. Aber auch der illegale Adoptionshandel oder die Zwangsheirat sind schwere Kindeswohlverletzungen und gehören in den Bereich des Kinderschutzes. Bei Minderjährigen herrscht sowieso schon ein Machtungleichgewicht zu den Erwachsenen. Oft spielt bei den Opfern auch ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis zu den Tätern eine Rolle. Schon die Rekrutierung von Minderjährigen mit der Absicht zur Ausbeutung gilt deshalb als schwere Straftat.
Dieser Handel mit Minderjährigen und deren Ausbeutung fällt nur auf, wenn die Polizei genau kontrolliert. Trotzdem werden all diese Taten selten geahndet, weil es kaum Aussagen von Opfern gibt. Die meisten Kinder und Jugendlichen offenbaren sich nicht, aus Scham, aber auch wegen Sprachbarrieren. Und: Die Menschenhändler haben ihnen eingetrichtert: Vertraue keinen Behörden.
Dass es Menschenhandel in Deutschland überhaupt gibt, ist erschreckend und anscheinend ist das Ausmaß so groß, dass jetzt die bundesweit erste Beratungsstelle zum Thema Menschenhandel und Ausbeutung von Minderjährigen eröffnet wurde. Geleitet wird sie von Martina Döcker. Wie sie Kindern helfen möchte, erzählt Martina bei einbiszwei.
LINKSAMMLUNG:
Website der Beratungsstelle
Fachberatungs- und Koordinierungsstelle bei Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen in Berlin
Pressemitteilung Caritas
Bundesweit erste Beratungsstelle der Kinder- und Jugendhilfe für Minderjährige, die von Menschenhandel betroffen sind, stellt sich vor (10/2024)
Tagesspiegel Interview mit Martina Döcker
Beratung für Kinder und Jugendliche: Erste Hilfsstelle für minderjährige Opfer von Menschenhandel (10/2024) (Paywall)
Behörden Spiegel Artikel
Schutz Minderjähriger vor Menschenhandel
Erklärung von Menschenhandel und Publikationen
Menschenhandel mit Minderjährigen