PODCAST | Folge 14 | Wolfgang Rothe

“Ich möchte bleiben um zu stören.“

Wolfgang Rothe ist gerne Priester, er liebt seinen Beruf, wie er sagt. Und dass, obwohl er jeden Grund hätte, mit der katholischen Kirche zu brechen. Denn Wolfgang Rothe wurde von einem Bischof missbraucht. Der versuchte anschließend auch noch, ihn aus dem Amt zu drängen. Wolfgang Rothes Geschichte ist die eines wirklich mutigen Mannes, der den Kampf mit der katholischen Kirche IN der katholischen Kirche aufgenommen hat – hier bei einbiszwei.




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Wolfgang Rothe [00:00:00] Früher hat man gesagt, das ist undenkbar. Das kann nicht sein, dass ein Priester so was tut, dass ein Bischof so was tut. Heute weiß jeder, das ist alles denkbar, das ist alles möglich, weil es das alles ja schon gegeben hat.

Nadia Kailouli [00:00:18] Hallo, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über sexuelle Gewalt. Ich bin Nadia Kailouli und hier spreche ich mit Kinderschutz-Expertinnen und -Experten, mit Menschen, die sich gegen sexuelle Belästigung wehren und sexuell missbraucht wurden und jetzt anderen Mut machen. Hier ist einbiszwei. Damit sich was ändert. Über katholische Priester, die Kinder sexuell missbrauchen, haben wir hier bei einbiszwei ja schon ein paarmal gesprochen. Diesmal war jemand bei mir zu Gast, der eine wirklich krasse Geschichte erzählt hat. Wolfgang Rothe ist nämlich selbst Priester und wurde von einem Bischof sexuell missbraucht. Der wollte ihn anschließend dazu bringen, sein Amt niederzulegen und aus der Kirche auszutreten. Als das aber nicht geklappt hat, wurde er von dem Bischof zu einem Psychiater geschickt. Der sollte mit einem Gutachten beweisen, dass Wolfgang schwul ist. Und er musste dann einen, er nennt es einen sogenannten "Schwulen-Test" machen. Und das war Leute jetzt nicht vor 60 Jahren oder so, sondern das war 2005! Welche schlimmen Fragen er da beantworten musste und was dabei rausgekommen ist, darüber hat er sehr offen mit mir gesprochen. Wolfgang hat sich nicht aus der Kirche rausdrängen lassen. Er sagt: "Ich bin gerne Priester und will in der Kirche bleiben, um dort dafür zu kämpfen, dass queere Menschen auch in der katholischen Kirche einen Platz finden." Hört euch also die Geschichte eines wirklich mutigen Mannes an, der den Kampf mit der katholischen Kirche in der katholischen Kirche aufgenommen hat. Jetzt hier bei einbiszwei. Wolfgang Rothe. Herzlich willkommen bei einbiszwei.

Wolfgang Rothe [00:01:54] Ja, vielen Dank, dass ich da sein darf.

Nadia Kailouli [00:01:56] Ja, ich freue mich. Wir haben uns entschieden, wir duzen uns, das machen wir hier bei ganz vielen und warum sollten wir beide das nicht tun? Ich muss kurz beschreiben, was du an hast oder besser gesagt, ich beschreibe es gar nicht, sondern ich sag gleich was du bist, weil ich sehe es. Ich würde es wahrscheinlich, wenn wir jetzt in einer Fernsehsendung sitzen, gar nicht so explizit sagen, weil man sieht, du bist römisch-katholischer Priester.

Wolfgang Rothe [00:02:15] Jawohl.

Nadia Kailouli [00:02:16] Ich würde gerne mit dir darüber anfangen zu sprechen, wie du reagiert hast, als es die Aktion vor ein paar Monaten gab, der Hashtag #OutInChurch und die dazugehörige Doku "Wie Gott uns schuf".

Wolfgang Rothe [00:02:29] Ja, ich wusste sehr lange von dieser Aktion, habe sie auch mitverfolgt, bin ihr auch sehr gewogen, wenngleich ich selbst nicht mit dabei war, weil ich schon länger in dem Thema unterwegs bin und auch zu diesem Thema, was meine Person betrifft, schon länger kein Geheimnis mache. Aber ich befürworte die Initiative aus ganzem Herzen und freue mich, dass sie stattgefunden hat und freue mich umso mehr über die Reaktionen, die sie hervorgerufen hat.

Nadia Kailouli [00:02:58] Du hast gerade gesagt, weil du über deine Person kein Geheimnis machst. Das wollen wir hier heute auch nicht machen. Aber ich mag es immer lieber, wenn die Leute selbst über sich sprechen, als dass ich sie über sie spreche. Welches Geheimnis hast du denn über dich gelüftet?

Wolfgang Rothe [00:03:12] Das große Geheimnis, was mich über viele Jahre hinweg begleitet hat, war zunächst einmal die Erfahrung des Missbrauchs. Das liegt mittlerweile eine ganze Weile zurück. Das war im Jahr 2004 und ich habe sehr lange gebraucht, um dieses Thema zur Sprache bringen zu können. Ich habe viele Jahre hinweg sogar die Absicht gehabt, dieses Thema niemals zur Sprache zu bringen, weil ich davon überzeugt war, dass mir ohnehin niemand glauben würde. Und zwar aus dem Grund, den du ganz am Anfang angesprochen hast, nämlich weil ich katholischer Priester bin. Und katholische Priester werden ja normalerweise eher der Täterseite als der Betroffenenseite zugeordnet. Und erschwerend kommt in meinem Fall noch hinzu, dass der Täter eben nicht in Anführungszeichen nur ein Priester, sondern ein Bischof war. In Anbetracht dessen war ich lange Zeit fest davon überzeugt. Wenn ich meine Geschichte erzähle, wird sie mir niemand glauben. Und darum habe ich über lange Zeit hinweg versucht, mit meiner Geschichte zu leben. Ich vergleiche das immer wie mit einem großen Haufen Unrat, der sich im eigenen Lebensraum angesammelt hat. Und um damit zurechtzukommen, stopft man ihn in einen Schrank, drückt mit aller Gewalt die Schranktüren zu, in der Hoffnung, damit diesen Unrat aus seinem Lebensraum beseitigt zu haben und irgendwie weiterleben zu können. Es zeigt sich dann aber, dass irgendwann der Druck hinter den Schranktüren zu groß ist, dass die Türen bersten und sich der ganze Unrat erneut mitten in den eigenen Lebensraum hinein erbricht.

Nadia Kailouli [00:04:57] Jetzt muss man dazu sage, wir haben bei einbiszwei ja schon des Öfteren mit Menschen gesprochen, die sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben. Und die haben das sehr oft erlebt in ihrer Kindheit und sind erst damit an die Öffentlichkeit gegangen oder überhaupt, haben sich erst getraut, das zu erzählen, als sie Erwachsene waren. Bei dir ist das anders. Der Missbrauch hat stattgefunden als du ein erwachsener Mann warst und zwar erst vor ein paar Jahren. Wie kann das sein?

Wolfgang Rothe [00:05:26] Ja, das Thema des Missbrauchs an Erwachsenen ist ein Thema, was lange Zeit ein wenig im Hintergrund stand. Mit gutem Grund im Hintergrund, weil natürlich der Missbrauch an Kindern und Jugendlichen noch einmal eine ganz andere Dimension ist, weil Kinder und Jugendliche natürlich noch um ein Vielfaches vulnerabler sind als Erwachsene. Der Missbrauch Erwachsener ist aber ein Thema, was in den letzten Jahren Gott sei Dank immer mehr in die Öffentlichkeit gerückt ist, und zwar gerade auch im kirchlichen Kontext. Denn Missbrauch Erwachsener geht sehr oft, fast immer, mit dem sogenannten spirituellen Missbrauch einher. Das heißt, kirchliche Amtsträger missbrauchen ihre spirituelle, ihre religiöse Autorität als Vorwand, um unter diesem Deckmantel dann auch sexuelle Gewalt anwenden zu können. Das hat bei mir noch eine ganz andere Dimension angenommen, weil nämlich in der Folge der eigentlichen Übergriffe des Bischofs, dieser Bischof versucht hat, mich zunächst gefügig zu machen. Das war etwas, was, während er übergriffig geworden ist, ein ständiges Wort, was er auf den Lippen führte. Fügen Sie sich, Sie brauchen sich nur zu fügen. Fügen Sie sich, dann wird alles gut. Und als das nicht geklappt hat, der hatte mir vorher ein Psychopharmaka verabreicht. Aber ich habe mich dann doch im letzten Moment noch befreien können und bin weggelaufen. Aber er hat dann in der Folge noch auf verschiedene andere Weise versucht, mich gefügig zu machen. Unter anderem dadurch, dass er mich versucht hat, dazu zu drängen, mich leisieren zu lassen, das heißt freiwillig auf das Priestertum zu verzichten, auf die Ausübung des Priestertums. Als das nicht geklappt hat, hat er versucht, das über Rom zu erreichen, was auch nicht geklappt hat, weil Rom da nicht mitgespielt hat. Und zu guter Letzt hat er dann auch noch versucht, mich mit anderen psychischen, psychologischen Mitteln für unzurechnungsfähig zu erklären. Er hat zum Beispiel einen Kirchenrechtler beauftragt, der versucht hat, nachzuweisen, dass ich psychisch unzurechnungsfähig sei und deswegen das Priesteramt illegal empfangen hätte und darum künftig nicht mehr ausüben zu dürfen. Und als Begründung für meine psychische Unzurechnungsfähigkeit hat er ausgerechnet einen Unfall, einen Sturz von meinem Balkon angeführt, der die Folge des Psychopharmaka war, das der Bischof mir verabreicht hatte. Das hat am selben Tag, wenige Stunden später stattgefunden. Als ich mich dann von jenem Bischof losgerissen hatte und wieder zu Hause war, habe ich, um den Ekel und den Schreck und das Entsetzen loszuwerden, ein großes Glas Wein getrunken und ein Psychopharmaka in Verbindung mit Wein, das ist eine denkbar schlechte Idee, und in dem Moment habe ich auch einen kompletten Filmriss. Ich weiß nicht, was in dieser Nacht weiterhin geschehen ist. Ich weiß nur, dass ich am nächsten Morgen im Krankenhaus aufgewacht bin, dass ich in der Nacht vom Balkon meiner Wohnung gestürzt bin und eben ins Krankenhaus gebracht wurde. Was allerdings den Vorteil hatte, dass ich gründlich durchgecheckt wurde und dass zum Beispiel auch das Psychopharmaka nachweisbar ist. Da gibt es Befunde, also das sind Dinge, die außer Streit stehen, weil sie eben durch ärztliche Befunde beweisbar sind.

Nadia Kailouli [00:09:15] Nun wollen wir, wollen wir auf diese Geschichte gleich noch mal näher eingehen. Aber was mich gerade so beschäftigt hat, war, wie absurd ist das? Wir wissen ja, dass es in der katholischen Kirche sehr, sehr viele Täter gibt. Das zeigen sämtliche Fälle aus den letzten Jahrzehnten. Und so viele Opfer versuchen oder haben versucht, weil sie das ausgesprochen haben, versucht haben zur Anzeige zu bringen und so was, dass Priester, Bischöfe etc. irgendwie ihr Amt verlieren und sind gescheitert. Nun ist der Missbrauch passiert und ein Bischof versucht, dass du dein Amt verlierst als Opfer. Was läuft da schief in der katholischen Kirche?

Wolfgang Rothe [00:09:54] In dieser Hinsicht so ziemlich alles. Also Du hast das jetzt sehr schön auf den Punkt gebracht, diese Vorgehensweise, die kann man nicht anders denn als pervers bezeichnen. Also das ist genau eine Erfahrung, die nicht nur ich, sondern die viele andere Betroffene auch gemacht haben, dass innerhalb der Kirche die Betroffenen die sind, die stören, die beseitigt werden sollen, die man versucht mundtot zu machen, während man die Täter weiterhin in Amt und Würden lässt, während man die Täter schützt.

Nadia Kailouli [00:10:26] Was bei dir zum Glück nicht geschafft worden ist, wenn ich das jetzt mal so sagen darf, ist dich mundtot zu machen auch. Du wurdest manipuliert. Du hast es gerade auch noch mal eindrücklich geschildert, wie du auch psychisch eben unter Druck gesetzt worden bist. Aber man hat dich nicht zum Schweigen bekommen. Du sprichst über deinen Missbrauch sehr, sehr offen und du sprichst auch sehr, sehr kritisch über Punkte in der katholischen Kirche. Trotzdem bist du ja weiter im Amt des Priesters. Warum?

Wolfgang Rothe [00:10:55] Das hat zwei Gründe. Zum einen bin ich nach wie vor sehr gerne Priester. Ich liebe meinen Beruf, habe keinen Grund, diesen Beruf nicht zu lieben, weil das, was ich in meiner Gemeinde, was ich in meiner täglichen Arbeit erlebe, als etwas sehr Erfüllendes, als einen schönen Beruf erlebe, als einen Beruf, mit dem man auch bei vielen Menschen sehr viel Positives erleben und bewirken kann. Und auf der anderen Seite ist es ein gewisser Trotz. Denn wenn ich jetzt meinen Beruf bzw die Kirche verlassen würde, dann würde ich ja zum Ausdruck bringen, dass diejenigen, die mir Unrecht getan haben, so weitermachen können wie bisher. Ich würde ihnen das Feld überlassen. Ich würde ihnen die Botschaft vermitteln Ich bin das Problem, nicht ihr. Und darum möchte ich bleiben, um zu stören. Ich möchte bleiben, um in der Kirche gerade aus der Kirche heraus deutlich zu machen, dass es einer Veränderung bedarf, weil ansonsten die Kirche ihre Existenzberechtigung verliert bzw. verloren hat.

Nadia Kailouli [00:12:00] Jetzt ist es ja so sozusagen eine Kampfansage aus den eigenen Reihen in der Kirche. Ich kann mir vorstellen, dass viele davon nicht begeistert sind, gerade in den eigenen Reihen. Bekommst du Anfeindungen? Jetzt nicht nur von Gläubigen, sondern gerade eben von Bischöfen, von Priestern, von Amtskollegen?

Wolfgang Rothe [00:12:22] Es ist so, dass man mich weitgehend in Ruhe lässt. Ich spüre natürlich, dass mir sehr viel Misstrauen, sehr viel Ablehnung entgegengebracht wird. Aber Gott sei Dank hat sich die öffentliche Stimmung in den letzten Jahren doch sehr gedreht. Das, was ich damals als der Missbrauch geschehen ist, in meinem Fall, das war 2004 noch undenkbar war, dass man mir in der Öffentlichkeit glauben würde. Das hat sich geändert. Und zwar hat die Kirche selbst dafür gesorgt, dass sich das ändert. Weil früher hat man gesagt, das ist undenkbar. Das kann nicht sein, dass ein Priester so was tut, dass ein Bischof so was tut. Heute weiß jeder, das ist alles denkbar, das ist alles möglich, weil es das alles ja schon gegeben hat. Das sind nur weitere Beispiele eines Phänomens, das mittlerweile weithin bekannt ist, wenn auch die Dunkelziffer natürlich weiterhin hoch ist. Insofern musste einige Zeit, mussten einige Jahre vergehen, bis auch das gesellschaftliche Umfeld sich so verändert hat, dass man mir Glauben schenken konnte. Und das ist Gott sei Dank mittlerweile der Fall. Dafür bin ich auch sehr dankbar.

Nadia Kailouli [00:13:36] Wir haben ja zum Anfang unseres Gesprächs darüber angefangen, dass es eben diese Aktion gab, #OutInChurch. Du bist dafür bekannt, dass du dich für eine queere Kirche oder überhaupt queer sein in der katholischen Kirche einsetzt. Warum ist dir das so wichtig?

Wolfgang Rothe [00:13:51] Das hat auch mit meiner Missbrauchserfahrungen zu tun, weil nämlich der Bischof, der bei mir übergriffig geworden ist, ein halbes Jahr nachdem er übergriffig geworden ist, versucht hat, mich auf eine äußerst perfide Weise gefügig zu machen. Er hat mich verpflichtet zu einem psychiatrisch-psychologischen Schwulen-Test. Das wurde damals nicht Schwulen-Test genannt,  der Begriff stammt von mir, aber de facto war es das. Ich musste in das Institut für forensische Psychiatrie, also für Gerichtspsychiatrie in Essen, ein Universitäts-Institut einer deutschen Universität. Dort musste ich vorsprechen bei zwei Psychiatern und die haben mich über zwei Tage hinweg mit hunderten von Fragen traktiert. Zum Beispiel, ob ich meine Eltern jemals beim Sex beobachtet hätte, ob ich jemals ein Tier größer als eine Maus getötet hätte, ob ich jemals ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hätte. Dass man davon schwul werden könnte, habe ich bis dahin nicht gewusst. Aber anscheinend waren diese Herrschaften der Meinung und das Gutachten, das sie dann erstellt haben, hatte den Zweck zu überprüfen: Erstens, ob ich schwul bin und zweitens, falls ich schwul bin, ob aufgrund dessen meine seelsorgliche Tätigkeit an Kindern und Jugendlichen eingeschränkt werden müsse. Das heißt im Hintergrund dieses Gutachtens, im gutachterlichen Auftrag stand zumindestens die Möglichkeit der Annahme, dass allein eine homosexuelle Orientierung eine Gefährdung für Kinder und Jugendliche darstellt. Die beiden Gutachter haben dann am Ende ihres Gutachtens gerade noch die Kurve bekommen und haben ihr Gutachten mit der Feststellung abgeschlossen, dass eine homosexuelle Orientierung psychologisch psychiatrisch überhaupt nicht feststellbar ist. Aber allein die Tatsache, dass sie das Gutachten, den gutachterlichen Auftrag angenommen haben, ist in meinen Augen einfach skandalös. Denn das Ganze hat sich ja nicht vor 50 Jahren oder vor 100 Jahren abgespielt, sondern im Jahr 2005. Nochmals, an einem Universitäts-Institut in Deutschland. Das muss man sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Und insofern bin ich seitdem wirklich der Meinung, dass das Thema Queer-sein gerade in der katholischen Kirche einer dringenden Bearbeitung, einer dringenden Revision bedarf, weil offenbar derart krude Vorstellungen über sexuelle Orientierung bzw. auch über geschlechtliche Identität vorherrschen, die natürlich von der katholischen Sexualmoral, vom katholischen Katechismus getragen sind, aber zu solch, ich kann es nicht anders sagen, brutalen Missbrauchsfällen führen. Denn ich betrachte auch die Verpflichtung zu diesem Gutachten als einen missbräuchlichen Akt, der für mich wirklich auch traumatisierend war.

Nadia Kailouli [00:17:01] Allein wie du es gerade geschildert hat, welche Fragen dir gestellt worden sind, kann ich dieses Empfinden absolut nachfühlen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Zuhörer:innern sich jetzt fragen: Nun, ist er denn jetzt homosexuell? Ich werde dir diese Frage nicht stellen, weil ich finde, es ist total egal. Das möchte ich einfach von meiner Seite einmal sagen. Ich würde, glaube ich niemanden einfach fragen, welcher sexuellen Orientierung gehörst du denn an? Weil ich in einer Gesellschaft leben möchte, in der es egal ist. Aber noch mal zurück zu der anderen Frage. Warum hat denn die katholische Kirche überhaupt ein Problem, heute immer noch, mit Homosexualität, mit queeren Menschen?

Wolfgang Rothe [00:17:38] Das lässt sich meines Erachtens relativ leicht erklären. Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war als gesellschaftlicher Mainstream, dass Homosexualität bzw. Queer-sein insgesamt keinen Platz in der Gesellschaft haben durfte. Da waren sich Staat, Gesellschaft und Kirche vollkommen einig. Homosexualität ist unnatürlich, ist pervers, ist gottwidrig. Als dann Staat und Gesellschaft im Zuge der achtundsechziger Bewegung gemerkt haben, dass sie lange Zeit Unrecht begangen haben, dass sie falsch gedacht haben, dass es keinen Grund gibt, queeres Dasein in irgendeiner Weise zu diskriminieren oder queere Menschen in irgendeiner Weise anders zu behandeln als andere Menschen, hat die Kirche diesen Wandel, diesen Wechsel nicht mitvollzogen. Denn dann hätte sie ja zugeben müssen, sich wie Staat und Gesellschaft geirrt zu haben. Und das gibt die Kirche ungern, um nicht zu sagen überhaupt niemals zu, weil damit ihre Autorität in Frage gestellt würde. Die Kirche behauptet ja oder geht davon aus, dass das, was sie lehrt, dass das, was sie praktiziert, im Wesentlichen unfehlbar ist. Und wenn nun plötzlich, in einer ganz entscheidenden Frage des menschlichen Daseins die Kirche zugeben müsste, sich jahrhundertelang geirrt zu haben, dann, so denken zumindest viele kirchliche Autoritäten, wäre ihre Autorität dahin. Und darum hat die Kirche erst im Zuge der achtundsechziger Bewegung begonnen, ihre Ablehnung queerer Lebensweisen zu begründen. Das war vorher niemals notwendig, weil einfach ein gesellschaftlicher Mainstream da war. Das älteste kirchliche Dokument, in dem Homosexualität thematisiert und Homosexualität als etwas Gottwidriges oder als etwas Unnatürliches dargestellt wird, stammt, man staune, aus dem Jahr 1975. Das Ganze hat also keine lange Tradition, sondern ist erst sehr spät in die kirchliche Lehre eingedrungen. Und seitdem, insbesondere unter dem Pontifikat von Papst Johannes Paul dem Zweiten, wurde die katholische Sexualmoral, die vermeintlich katholische Sexualmoral gleichsam zum Maßstab des Katholischen schlechthin hochstilisiert. Und damit hat sich die Kirche in eine argumentative Sackgasse hineinmanövriert, aus der sie jetzt nur schwer wieder hinauskommt.

Nadia Kailouli [00:20:14] Wann ist der richtige Zeitpunkt, dass sich die Kirche wirklich revolutioniert? Sind wir nicht eigentlich schon längst darüber hinaus?

Wolfgang Rothe [00:20:19] Ja, der richtige Zeitpunkt ist immer jetzt. Jede Sekunde, die man wartet, ist eine weitere Sekunde, in der man zu spät dran ist. Man hätte längst, nämlich vor Jahrzehnten, als Staat und Gesellschaft diesen Wechsel vollzogen haben oder angetreten haben, hätte man diesen Weg mit beschreiten müssen. Und mit jedem Tag, mit jeder Sekunde, die man noch wartet, fällt man weiter hinter die Realität zurück. Insofern bin ich sehr froh, dass es ja durchaus zumindest Ansätze gibt in eine Richtung, die der Realität näher kommt. Papst Franziskus hat so einzelne Aussagen schon getätigt, die queeren Menschen in der Kirche Hoffnung gegeben haben. Wobei, das muss man auch ganz deutlich sagen, Papst Franziskus diese Hoffnungen zwar geweckt, aber bisher noch nicht eingelöst hat. Also die wirklich unsäglichen Sätze der Verurteilung queerer Menschen stehen nach wie vor im Katechismus der katholischen Kirche und da ist noch sehr viel Luft nach oben. In Deutschland haben wir den sogenannten Synodalen Weg, der sich ganz bewusst auch als eines der Hauptthemen die kirchliche Sexualmoral vorgenommen hat und wirklich ernsthaft versucht, hier Modelle gläubigen Daseins zu schaffen, die mit der Lebensrealität queerer Menschen übereinstimmen. Was am Ende aus dem neutralen Weg wird, ist sehr fraglich. Ich betrachte das Ganze schon sehr kritisch, weil nämlich der synodale Weg sich im luftleeren Raum der Kirche gleichsam befindet. Denn das, was der synodale Weg beschließt, hat nicht automatisch dadurch eine Verbindlichkeit, dass es ausgesprochen wird, weil ja die Kirche keine wirklich demokratischen Strukturen hat. Das heißt, das, was der Synodale Weg am Ende beschließen wird, das kann durchaus in Rom wieder einkassiert werden und dann stehen wir wieder ganz am Anfang. Die Tatsache aber, dass überhaupt über solche Themen gesprochen wird, ist schon mal ein Fortschritt.

Nadia Kailouli [00:22:30] Ja. Wir kommen zu einem anderen Fortschritt. Und der betrifft dich ganz persönlich. Du segnest homosexuelle Paare.

Wolfgang Rothe [00:22:37] Natürlich.

Nadia Kailouli [00:22:39] Obwohl das die katholische Kirche eigentlich nicht erlaubt.

Wolfgang Rothe [00:22:42] Das ist richtig. Aber ich betrachte mich, ich betrachte es als meine Pflicht, homosexuelle Paare, wenn sie es wünschen, es sind nicht viele, die diesen Wunsch überhaupt noch haben, wenn sie es wünschen, Gottes Segen zuzusprechen. Und der Auslöser war im letzten Jahr die Initiative "Liebe gewinnt". Das war eine Initiative, die Anfang Mai deutschlandweit stattgefunden hat. Damals wurden in über 100 Gottesdiensten von katholischen Seelsorger:innen homosexuelle Paare öffentlich gesegnet. Und der Sinn dieser Initiative war, eine so große Zahl von Seelsorger:innen mit dieser Aufgabe zu befassen, dass es gar nicht mehr möglich war, dass Bischöfe, dass kirchliche Autoritäten alle abstrafen. Und das ist in der Tat gelungen. Es ist mittlerweile so, dass die Segnung homosexueller Paare zum selbstverständlichen seelsorglichen Tun der Kirche gehört. Natürlich machen das nicht alle Seelsorger:innen, aber immerhin eine große Anzahl. Und wenn ein homosexuelles Paar den Segen wünscht, dann hat sie die Möglichkeit, einen Seelsorger, eine Seelsorgerin zu finden, die das auch für sie tut.

Nadia Kailouli [00:24:03] Wie hast du das erlebt? Oder was hast du erlebt, nachdem du das erste Mal damit öffentlich gegangen bist, dass du das tust, dass du homosexuelle Paare traust? Ich kann mir vorstellen, dass aus den eigenen Reihen, eben aus der katholischen Kirche, da nicht unbedingt Applaus kam. Aber wie reagiert der Rest der Bevölkerung? Gerade streng gläubige Katholiken? Wie reagieren die darauf?

Wolfgang Rothe [00:24:24] Ja, dieser Gottesdienst im Rahmen der Initiative "Liebe gewinnt" war schon eine sehr interessante Erfahrung. Ich habe mich sehr spontan entschlossen, mich daran zu beteiligen, habe mir danach aber das Ganze noch sehr, sehr gründlich, sehr, sehr gut überlegt, auch im Hinblick auf mögliche Konsequenzen. Und ich bin dann einfach zu der Entscheidung gelangt, dass ich es tun muss. Und zwar ganz egal, welche Konsequenzen es nach sich zieht. Welche Konsequenzen es haben könnte, haben wir wenige Tage vor diesem Gottesdienst erlebt. Ich war ja nicht alleine, sondern wir haben das zusammen mit kirchlichen Reformgruppierungen organisiert und es gab durchaus ernst zu nehmende Drohungen. Es gab droh mails von Gruppierungen, vermeintlichen Gruppierungen. Vielleicht sind es auch nur Einzelpersonen gewesen. Das wissen wir nicht, die uns signalisiert haben, das was ihr macht, ist nicht im Sinne Gottes. Und wenn ihr das macht, müsst ihr mit dem Zorn Gottes rechnen. Wir hatten also tatsächlich auch die Polizei informiert. Die Polizei war auch vor Ort, sodass wir diesen Gottesdienst in einer halbwegs sicheren Atmosphäre feiern konnten. Aber die Bedrückung, die Bedrängnis war schon spürbar, weil eben vor der Tür die Polizei stand. Auf der anderen Seite war dieser Gottesdienst eine unglaublich befreiende, heilsame Erfahrung. Ich habe in meinem Leben wahrlich schon so manchen Gottesdienst gefeiert, aber kaum einen Gottesdienst, den ich als so bewegend, so berührend, so heilsam erlebt habe. Ich habe an diesem Tag wirklich das Gefühl, der Himmel steht offen. An diesem Tag sind sehr viele Tränen geflossen, da ist sehr viel Leid aufgebrochen. Aber es waren am Ende auch sehr viele Tränen der Erleichterung, Tränen der Freude. Und es hat mich, es berührt mich bis heute, wenn ich an diesem Gottesdienst denke. Was da an Segen vom Himmel herabgekommen ist, und zwar nicht nur auf die Personen, denen ich Gottes Segen vermittelt habe, sondern auch auf mich selbst. Ich habe mich weit mehr als Gesegneter denn als Segnender gefühlt.

Nadia Kailouli [00:26:44] Ich wollte nämlich gerade fragen, ich habe gerade so, ich hatte das gerade so vor Augen wie du, wie du eben Paare traust und dann auch homosexuelle Paare oder segnest. Ich dachte gerade so, gab es eigentlich die Momente in deinem Leben als Priester, als als Mensch, der Gott um Vergebung gebeten hat, weil er sich selber nicht mehr sicher war, ob ich den richtigen Weg gehe?

Wolfgang Rothe [00:27:07] Ich bitte Gott sehr oft um Vergebung, denn ich habe ja früher auch andere Positionen vertreten. Hinter mir liegt ein langer Weg. Ein Weg, auf den ich auch und in hohem Maß mit Scham zurückblicke. Denn ich habe früher sehr unkritisch all diese Positionen der Kirche mitgetragen, die ich heute kritisiere, die ich heute bekämpfe. Für mich war früher einfach klar, so habe ich es gelernt, das, was die Kirche lehrt, ist wahr. Das, was die Kirche tut, ist richtig. Und ich habe meine Augen verschlossen vor der Realität. Ich habe nicht wahrgenommen, weil ich nicht habe wahrnehmen wollen, dass die Realität von der kirchlichen Lehre abweicht. Und ich habe mich selbst getäuscht. Und es war ein langer Weg, den ich gehen musste. Ein langer Weg mit vielen, auch schmerzlichen Erfahrungen. Auch meine eigenen Missbrauchserfahrungen sind ein ganz wichtiger Teil auf diesem Weg, der mich dorthin geführt hat, wo ich jetzt bin. Aber ich schaue auf diesen Weg sehr dankbar zurück, aber eben auch mit Scham und mit Schrecken. Und ich bitte Gott und alle Menschen um Vergebung dafür, dass ich damals diese Lehren, diese Praktiken unkritisch mitgetragen habe. Und ich hoffe auf die Vergebung Gottes und ich hoffe auf die Vergebung der Menschen, dass ich ihnen damals dieses Unrecht zugefügt habe. Ich habe zwar nie diese kirchliche Lehre aktiv vertreten, ich habe nie über Sexualmoral gepredigt oder ich habe auch nie homosexuelle Paare oder Menschen diskriminiert. Aber ich habe geschwiegen. Und wer schweigt, stimmt zu. Wer schweigt, wird zum Komplizen. Wer schweigt, macht sich mitschuldig. Dessen bin ich mir heute sehr schmerzlich bewusst. Und darum bitte ich immer wieder und aus ganzem Herzen um Vergebung.

Nadia Kailouli [00:29:11] Wolfgang, ich möchte dir in dem Zusammenhang eine sehr intensive Frage stellen. Viele Täter, gerade aus der katholischen Kirche, haben Gott auch um Vergebung gebeten für ihren Missbrauch, den sie an Kindern ausgeübt haben. Wie stehst du dazu?

Wolfgang Rothe [00:29:32] Man muss unterscheiden zwischen Vergebung und Verantwortung. Auf der einen Seite, die Vergebung ist eine sehr persönliche Angelegenheit, und es gibt nichts, wofür man Gott nicht um Vergebung bitten dürfte. Und es gibt nichts, was Gott, wenn man es ehrlich bereut, nicht auch vergeben würde. Auf der anderen Seite ist eine Bitte um Vergebung nur dann glaubwürdig, wenn man auch bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn man bereit ist, die Konsequenzen seines Tuns zu tragen, wenn man bereit ist, die Schuld, die man auf sich geladen hat, einzugestehen und den Menschen, denen man Unrecht getan hat, auch tatsächlich, soweit das überhaupt möglich ist, Wiedergutmachung, Rechtfertigung zu ermöglichen. Das fehlt mir bei vielen kirchlichen Verantwortungsträgern. Einfach in einen Beichtstuhl zu gehen, um Vergebung zu bitten und dann mit der Absolution wieder rauszukommen, ist zu wenig. Wer eine solche Schuld auf sich geladen hat, der muss diese Schuld auch öffentlich tragen. Der muss diese Schuld auch öffentlich bekennen. Der muss auch bereit sein, das, was zumindest ein Risikofaktor für diese Taten darstellt, lauthals zu kritisieren. Nämlich diese kirchliche Sexualmoral, die toxisch ist, die in sich die Gefahr des Missbrauchs trägt, die einen Risiko für sexuellen Missbrauch darstellt. Wenn jemand diese kirchliche Sexualmoral weiterhin verteidigt, wer weiterhin an dieser kirchlichen Sexualmoral festhält, der kann in meinen Augen nicht glaubwürdig um Vergebung für die Taten bitten, ob er sie nun selbst begangen hat oder ob er für die Taten anderer Menschen als Teil des kirchlichen Systems um Vergebung bittet.

Nadia Kailouli [00:31:23] Wolfgang, du hast ein Buch geschrieben, das heißt "Missbrauchte Kirche – eine Abrechnung mit der katholischen Sexualmoral und ihren Verfechtern". Wieso bist du dann auch noch den Schritt gegangen zu sagen, okay, ich schreibe das nieder. Du hast ein zweites Buch auch noch geschrieben, das heißt, das möchte ich auch kurz erwähnen, "Gewollt, geliebt, gesegnet – queer sein in der katholischen Kirche". Wie kommen diese Bücher an?

Wolfgang Rothe [00:31:49] Die Bücher kommen sehr gut an, sie verkaufen sich Gott sei Dank auch sehr gut. Und mir war es einfach wichtig, diese Botschaften als jemand in die Öffentlichkeit zu tragen, der aus eigener Erfahrung berichten kann, der aus eigener Erfahrung mitreden kann. Das sind also keine Bücher, die theoretisch über Missbrauch bzw queer sein in der katholischen Kirche berichten, sondern Bücher, in denen meine eigenen Erfahrungen mit einfließen. Dass ich diese Bücher geschrieben habe, insbesondere das erste Buch Missbrauchte Kirche, in dem ich eben auch meine eigenen Missbrauchserfahrungen schildere, hat aber auch damit zu tun, dass ich mit dem Öffentlichmachen meiner Missbrauchserfahrungen auf eine Mauer der Ablehnung und des Schweigens in der Kirche gestoßen bin. Als ich meine Missbrauchserfahrungen das erste Mal öffentlich gemacht habe, das war Anfang 2021, in der Süddeutschen Zeitung, war die Reaktion von der Kirche praktisch nicht wahrnehmbar. Es gab keine Reaktion, niemand ist auf mich zugekommen, niemand hat gesagt, es tut uns leid, was da geschehen ist, niemand hat gesagt, wir glauben dir. Obwohl ich mir genau das erhofft hatte, obwohl genau das der tiefe Wunsch war, warum ich überhaupt in die Öffentlichkeit gegangen bin. Und dann, als ich gemerkt habe, das interessiert überhaupt keinen innerhalb der kirchlichen Hierarchie, die nehmen das überhaupt nicht wahr, die wollen das nicht wahrnehmen. Dann ist für mich klar geworden, dann muss ich eben noch lauter werden, dann muss ich diese Themen, muss ich meine Erfahrungen noch stärker in die Öffentlichkeit bringen, damit sie einfach nicht mehr totgeschwiegen werden können. Denn auch vorher schon, bevor meine Geschichte öffentlich wurde, habe ich sie versucht, innerkirchlich zur Sprache zu bringen, was aber vollkommen gescheitert ist, weil man weder die Dokumente, die ich vorgelegt habe, um meine Missbrauchserfahrungen zu belegen, in irgendeiner Form zur Kenntnis genommen hat, weil man keine einzige Zeug:in befragt hat, die ich benannt habe, obwohl man nicht einmal sich die Mühe gemacht hat, mit mir zu sprechen und dennoch am Ende des Prozesses in einem gerade mal zehnzeiligen Brief festgestellt hat,  das was Sie dem Missbrauchstäter vorwerfen, hat sich als haltlos erwiesen, der Fall kann zu den Akten gelegt werden. Das war für mich einfach ein Punkt, wo ich sagen musste, nein, so geht es nicht, so werdet ihr mich nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil, das ist für mich der Punkt zu sagen, jetzt erst recht und umso lauter.

Nadia Kailouli [00:34:33] Ich glaube, das ist mir gelungen und ich finde es super, dass du das so offen auch hier bei uns bei einbiszwei sagst. Ich würde gerne noch mit dir über das Thema Zölibat sprechen. Ist Zölibat, oder viele sagen ja, der Zölibat ist der Nährboden für Missbrauch in der katholischen Kirche. Wie siehst du das?

Wolfgang Rothe [00:34:53] Da muss man ein wenig differenzieren. Der Zölibat ist sicherlich eine Lebensform, die einen Risikofaktor für sexuellen Missbrauch darstellt. Denn tatsächlich gibt es ja durchaus Menschen, die freiwillig zölibatär leben, weil es einfach die für sie passende Lebensweise ist und die deswegen nicht automatisch zum Missbrauchstäter werden. Insofern ist gegen einen freiwilligen Zölibat überhaupt nichts einzuwenden. Der Zölibat, den hat es immer gegeben in der Kirche, den hat es auch in außerchristlichen Religionen gegeben. Insofern ist das für sich genommen in Ordnung. Das Problem beginnt da, wo der Zölibat zum Pflichtzölibat wird, wo Menschen, nur weil sie Priester werden bzw. sein wollen, verpflichtet werden, zölibatär zu leben. Denn mit der Priesterweihe gibt man seine Sexualität ja nicht einfach an der Kirchentür ab. Jeder Mensch bleibt das, was er ist. Und die Sexualität gehört zum Menschsein einfach mit dazu. Und wenn man nun den Zölibat unfreiwillig übernommen hat, einfach als Konsequenz des Wunsches Priester zu sein, dann kann es sehr leicht passieren, dass die sexuellen Bedürfnisse sich an irgendeinem Punkt unkontrolliert entladen. Denn auf der einen Seite wird ja in der Kirche Sexualität unglaublich hochstilisiert als etwas ganz Wichtiges, als der Maßstab des Katholischen schlechthin. Und gerade im Kontext des Zölibats zugleich tabuisiert. Und damit entsteht eine Spannung, die sich nur allzu leicht entlädt. Es ist zum Beispiel eine statistisch erwiesene Erfahrung, dass viele Priester gerade in einem Alter übergriffig werden, zu Missbrauchstätern werden, wenn so die erste große Leidenschaft des Priesterdienstes nachlässt, so Mitte Ende 30, wenn man auf einmal wirklich im Alltag, im kirchlichen Kleinklein angekommen ist. Und dann entlädt sich diese Spannung unkontrolliert und führt zu Missbrauch. Es ist also nichts dagegen zu sagen, dass Menschen freiwillig zölibatär leben möchten. Der Zölibat als solcher führt nicht zwingend zu Missbrauch. Aber der Pflichtzölibat ist ein Risiko für sexuellen Missbrauch, weil er eben den Nährboden bildet für eine sich unkontrolliert entladende  Sexualität. Und was sich unkontrolliert entlädt, das entlädt sich eben sehr leicht im Hinblick auf Kinder und Jugendliche, weil die eben am wenigsten diesen Übergriffen, dieser Gewalt, die sich da entfesselt, entgegenzusetzen haben. Insofern plädiere ich ganz deutlich und ganz stark für die Abschaffung des Pflichtzölibat.

Nadia Kailouli [00:37:56] Wolfgang, ich finde es super, wie offen wir hier miteinander sprechen können. Und bei allem, was ich gerade eigentlich so positiv mitnehme, was an Kraft so von hier rüberkommt, kann ich mir vorstellen, dass du auch viele Niederschläge erlebt hast. Jeder kennt das, jeder Priester hat ja, ich sage jetzt mal seine festen Follower, die gerne mal eben zu dir als Priester kommen und sich deine Messe anhören und sich deinen Gottesdienst anhören. Haben sich viele von dir distanziert oder hast du viele dazugewonnen, die genau deswegen zu dir kommen, weil sie wissen, an seine Worte will ich weiter glauben als Katholik?

Wolfgang Rothe [00:38:37] Das gibt es beides. Also in den Kreisen, in denen ich früher verkehrt habe, als ich noch ganz strikt die kirchliche Lehre und Praxis vertreten habe, in diesen Kreisen haben sich sehr viele Menschen von mir abgewandt, betrachten mich als Verräter, als Kollaborateur, als Überläufer. Damit muss ich leben. Auf der anderen Seite habe ich Kontakt und freundschaftlichen Kontakt zu vielen Menschen gefunden, die ich früher misstrauisch bis ablehnend betrachtet habe, nämlich Menschen, die sich eine andere, eine erneuerte, eine offene, eine menschenfreundliche, lebensnahe Kirche wünschen. Und ich habe festgestellt, diese Menschen sind gar nicht glaubenswidrig oder gottwidrig, wie ich früher einmal gemeint habe, wie mir früher eingeredet wurde, sondern das sind zutiefst gläubige Menschen. Und dann gibt es noch meine Gemeinde, die Gemeinde, in der ich seit mittlerweile 13 Jahren tätig bin, die diese ganze Entwicklung, die ich vollzogen habe, mitgetragen hat. Eine Gemeinde, die viel dazugelernt hat, die sehr offen ist und mich in all dem, was ich so tue und sage, voll und ganz unterstützt. Ich bin sehr, sehr dankbar für meine Gemeinde. Das ist meine Homebase. Da fühle ich mich geborgen und getragen. Und da bin ich sehr gerne als Priester tätig, weil ich merke, man kann Menschen bewegen, mit Leidenschaft für etwas zu arbeiten und zu kämpfen, was das Leben lebenswerter macht. Man kann Menschen begeistern für Gott und für den Glauben, ohne all diesen toxischen Beifang mitvermitteln und mittragen zu müssen, den die Kirche im Laufe ihrer Geschichte und insbesondere der letzten Jahrzehnte angehäuft hat.

Nadia Kailouli [00:40:32] Wir hatten vor einiger Zeit die Journalistin Christiane Florin bei uns zu Gast. Das ist so die Journalistin, wenn es um die Aufklärungsarbeit geht des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Und ich hatte ihr die Frage gestellt, kann man sein Kind überhaupt noch mit einem guten Gewissen in die katholische Kirche schicken? Ich würde dir diese Frage auch gerne stellen.

Wolfgang Rothe [00:40:53] Das kommt natürlich ganz darauf an, wo man sein Kind hinschickt. Es gibt sicherlich viele Bereiche in der katholischen Kirche, wo man das bedenkenlos tun kann. Aber, und das ist ein Thema, was mir sehr wichtig ist, es gibt Kreise, Gruppierungen, Organisationen innerhalb der katholischen Kirche, die ich für hochgradig gefährlich halte, nämlich Kreise, Gruppierungen, Organisationen, die im ganz strikten Sinne die kirchliche Sexualmoral vertreten, die sie sogar ganz bewusst vertreten, weil sie nämlich ein Machtinstrument darstellen. Niemand ist so manipulierbar wie im Bereich der Sexualität. Das Wissen über die Sexualität eines Menschen ist Macht über diesen Menschen. Und das wird in solchen Organisationen sehr bewusst eingesetzt, um Macht über Menschen zu gewinnen. Diese Organisationen, ich nenne sie immer die moralistischen Organisationen, weil sie eben die Moral für den Maßstab des Katholischen schlechthin ansehen, weil sie die katholische Sexualmoral in einem sehr strikten Sinn vertreten und umsetzen, diese Organisation halte ich für sehr gefährlich, und ich bin immer wieder entsetzt, wie unkritisch die kirchliche Hierarchie, die kirchlichen Autoritäten diese Gruppierungen gewähren lassen. Im Erzbistum München, in dem ich ja tätig bin, gab es vor kurzem den Fall der integrierten Gemeinde, einer Gruppierung, in der spiritueller und wohl auch sexueller Missbrauch, üblich, fast zur Tagesordnung gehört hat, ein Teil des Systems war und man hat dann mit großem Entsetzen und großem Bedauern festgestellt, was in dieser Gruppierung alles hinter dem Deckmantel der Frömmigkeit und der aufgeschlossenen Katholizität verborgen war. Man hat dann diese Gruppierung aufgelöst, aber man läßt andere Gruppierungen, die im Grunde genau dasselbe tun, weiterhin agieren. Und das halte ich für fatal. Das halte ich für gefährlich und für unverantwortbar. Und ich bin fest davon überzeugt, solange die Kirche hier nicht wirklich durchgreift und diese Gruppierungen auflöst, solange muss sich die Kirche den Vorwurf gefallen lassen, ein Ort zu sein, in dem Missbrauch mehr oder weniger geduldet und toleriert wird, wenn nicht sogar gefördert wird. Da ist also ganz, ganz viel Arbeit noch vor uns und ich hoffe, dass ein Podcast wie dieser, dass eure Arbeit mit dazu beiträgt, dass die Kirche sich hier verändern kann.

Nadia Kailouli [00:43:31] Wolfgang Rothe, vielen Dank, dass du heute bei uns bist.

Wolfgang Rothe [00:43:33] Danke, Nadia. Danke allen, die an diesem Podcast beteiligt sind.

Nadia Kailouli [00:43:43] Man muss bei Wolfgang jetzt aber wirklich, finde ich, hintenraus noch mal ganz explizit sagen Wolfgang Rothe war ja selber Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche und das als erwachsener Mann. Das sieht man eben, auch erwachsene Menschen sind nicht davor geschützt, sexuell und eben dann auch noch psychisch on top missbraucht zu werden. Nichtsdestotrotz hat ja Wolfgang eben dann sich dafür entschieden, das Ganze öffentlich zu machen und kämpft ja bis heute daran, dass sich etwas in der katholischen Kirche ändert. Und ein Satz, den er gesagt hat, oder ein Thema, worüber wir gesprochen haben, war ja das Zölibat. Und ich finde es eigentlich ganz wichtig, dass er die Haltung hat, das Zölibat etwas Freiwilliges sein muss und eben nicht, dass man davon ausgehen sollte, Zölibat gehört verboten. Sondern ja, es gibt ja auch Menschen, die sagen, ich möchte das gerne so leben. Und auch denen muss man die Freiheit gewähren zu sagen, mach das, aber freiwillig, ohne Zwang. Und das sind so zwei Punkte, die ich eigentlich sehr, sehr wichtig fand aus diesem Gespräch. Ich hatte ja mit Wolfgang auch eine Frage besprochen, die ich ja auch Christiane Florin, der Journalistin, gestellt habe. Und wenn ihr euch jetzt fragt Christiane Florin, wer ist das? Dann klickt gerne mal durch unseren Podcast einbiszwei. Da findet ihr nämlich ganz viele interessante Gesprächspartner:innen, die wir schon zu Gast hatten und abonniert auch gerne unseren Kanal und teilt ihn. Denn ich bin mir sicher, ihr kennt ganz viele Leute, die auch wissen wollen, worüber wir hier bei einbiszwei so reden.

Mehr Infos zur Folge

Über katholische Priester, die Kinder sexuell missbrauchen, haben wir hier bei einbiszwei schon ein paar Mal gesprochen. Diesmal war jemand bei uns zu Gast, der eine wirklich krasse Geschichte erzählt hat: Wolfgang Rothe ist selbst Priester – und wurde von einem Bischof unter Drogen gesetzt und anschließend missbraucht. Der wollte ihn dann auch noch dazu bringen, sein Amt niederzulegen. Als das nicht geklappt hat, wurde er von dem Bischof zu einem Psychiater geschickt, der mit einem Gutachten beweisen sollte, dass Wolfgang schwul ist. Und danach sollte ihm dann verboten werden, weiter mit Kindern zu arbeiten. Das hat - Gott sei Dank - nicht geklappt. Aber das muss man sich mal vorstellen: Weil jemand schwul ist, soll er nicht mit Kindern arbeiten! Und wir sprechen hier nicht über die 60er Jahre – das war 2005!

Wolfgang Rothe hat sich nicht kleinkriegen lassen, sondern genau das Gegenteil gemacht: Er ist mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen, hat sich nicht aus der Kirche drängen lassen. „Ich bin gerne Priester“, sagt er. Er will in der Kirche bleiben, um dort dafür zu kämpfen, dass queere Menschen auch in der katholischen Kirche einen Platz finden. Und nicht „den Zorn Gottes auf sich ziehen“ - denn das ist immer noch weit verbreitete katholische Sexualmoral. Bevor Wolfgang diesen Schritt gemacht hat, hat er jahrelang gedacht: Das glaubt mir doch keiner. Heute sagt er: Das hat sich ein bisschen geändert - es gibt in der katholischen Kirche erste Schritte in die richtige Richtung.

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Die Aktion #OutinChurch setzt sich für die queere Community in der Kirche ein: https://outinchurch.de/ 

In “Missbrauchte Kirche” rechnet Wolfgang Rothe mit der katholischen Sexualmoral ab: https://www.droemer-knaur.de/buch/dr-dr-wolfgang-f-rothe-missbrauchte-kirche-9783426278697 

In seinem neuen Buch “Gewollt. Geliebt. Gesegnet” lässt Wolfgang Rothe Menschen über das Queer-Sein in der katholischen Kirche zu Wort kommen: https://www.herder.de/religion-spiritualitaet-shop/gewollt.-geliebt.-gesegnet.-gebundene-ausgabe/c-38/p-22890/ 

Eine Chronologie der sexuellen Gewalt in der Katholischen Kirche (1994-2014):

https://www.spiegel.de/panorama/chronik-der-missbrauchsskandal-in-der-katholischen-kirche-a-1012711.html

Die Initiative “Eckiger Tisch” setzt sich für Betroffene von Missbrauch in der Kirche ein:

https://www.eckiger-tisch.de/

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

presse@ubskm.bund.de

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