Schwerpunkt Tatort Familie im Fokus: Der Betroffenenrat stellt seine Arbeit vor

In der Familie erleben Kinder und Jugendliche am häufigsten sexualisierte Gewalt und der Betroffenenrat nimmt diesen Tatort in den Blick. Dabei setzt er sich im Rahmen einer eigenen AG „Familie“ in verschiedenen Formaten mit Präventions- und Hilfeangeboten als auch der Aufarbeitung im Kontext auseinander. Durch die Vernetzung mit anderen Fachexpert:innen soll die verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens überwunden und ein Ethos der Einmischung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe entwickelt werden. Auf dieser Themenseite findet sich eine Sammlung der Aktivitäten des Betroffenenrates zum Tatort Familie.

Digitaler Fachtag Familie 25.01.2022

Auf dem Fachtag „Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie" diskutierte die unabhängige Aufarbeitungskommission mit Betroffenen und anderen Expert:innen aus Wissenschaft, Praxis und Politik über Herausforderungen im Tatkontext Familie.

Mehr zum Fachtag Familie

finden Sie hier

Diskurswerkstatt Tatort Familie 28.10.2021

Im Rahmen der Diskurswerkstatt vernetzten sich Mitglieder des Betroffenenrates mit weiteren Expert:innen, um über eine Kultur des Einmischens sowie Fragen der gesellschaftlichen Verankerung von Aufarbeitung zum Tatort Familie zu diskutieren.

Stimmen des Betroffenenrates im Rahmen der Diskurswerkstatt

„Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens bei sexualisierter Gewalt zu überwinden und einen Ethos der Einmischung zu entwickeln. Der Tatort Familie muss dabei endlich mit in den Blick genommen werden.

Wir brauchen eine verstärkte kritische Reflexion von Machtstrukturen in Familien, von Geschlechterrollen, (traditionellen) Familienbildern, und intergenerational weitergegebenen, einengenden Wertesystemen, die psychische, physische und sexualisierte Gewalt in der Familie begünstigen.

Kinder und Jugendliche haben das Recht, gewaltfrei aufzuwachsen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Kinder überall vor sexualisierten Gewalterfahrungen zu schützen, Anzeichen frühzeitig zu erkennen und entsprechende Gegen- und Schutzmaßnahmen zu ergreifen.“

„Jede erwachsene Person ist verantwortlich, für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familien zu sorgen. Dazu gehört, sexualisierte Gewalt und Kinderrechte zu thematisieren mit der Annahme, dass wahrscheinlich in jeder Familie Betroffene von sexualisierter Gewalt und Täter_innen vorzufinden sind.

In Familien bleiben trotz Offenlegung zumeist die Täter_innen integriert, während die Betroffenen alleingelassen werden und die Last der Aufarbeitung allein tragen. Dabei wird die aktive Vertuschung von existentiell wichtigen Bezugspersonen in der Familie aufrechterhalten. Für Betroffene ist dies zusätzlich belastend und verletzend. Oft bleibt so Betroffenen nur der Bruch mit der Herkunftsfamilie.“

„Es geht nicht nur um Missbrauch in der Familie – als sei es ein singuläres Phänomen, sondern auch um missbräuchliche Familien, in denen schon vor dem ersten sexuellen Übergriff kaum etwas wirklich in Ordnung war!“

„Seit dem ersten Übergriff durch den Täter war ‚zu Hause‘ kein sicherer Ort mehr und ist es nie wieder geworden.“

Ausgewählte Bilder der Diskurswerkstatt

Der Betroffenenrat in Aktion mit weiteren geladenen Expert:innen

Stimmen weiterer Fachexpert:innen im Rahmen der Diskurswerkstatt

Im Rahmen der Diskurswerkstatt eröffneten die eingeladenen Gäste die Diskussionsrunden mit Eingangsstatements.

Hier können Sie die Statements der Expert:innen u.a. zu einer Kultur des Einmischens, Schutzkonzepten in Familien sowie Aufarbeitung in Familien und Unterstützung für Betroffene und Angehörige nachlesen.

Kultur des Einmischens - Schutzkonzepte in Familien als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Zunächst bedanke ich mich bei den Verfasserinnen für die sehr hilfreiche Studie „Sexuelle Gewalt in der Familie“ sowie beim Betroffenenrat für das Impulspapier „Tatort Familie“ und die Organisation und Umsetzung der Diskuswerkstatt zum Thema.

Die Fallstudie

  • bestätigt das, was wir seit über 30 Jahren wissen und öffentlich sagen, bei Informationsveranstaltungen, in unserer Öffentlichkeitsarbeit, in unseren Fortbildungen
  • bestätigt, was wir seit vielen Jahren in der Statistik über die Inanspruchnahme der Fachberatungsstelle Violetta- für sexuell missbrauchte Mädchen und junge Frauen sehen: gut die Hälfte der Mädchen, die zu uns in die Beratung kommen, haben im nahen oder weiterem familiären Umfeld sexualisierte Gewalt erfahren
  • rund die Hälfte der Betroffenen sind im Kindesalter, ein großer Teil sogar im Vorschulalter missbraucht worden
  • und: die meisten Betroffenen melden sich erst im Jugendalter oder als junge Erwachsene bei uns

Also müsste eigentlich der „Tatort Familie“ in aller Bewusstsein verankert sein – das ist- wie auch die Studie bestätigt, nicht der Fall.

Was sind die Gründe hierfür?

Familie wird allzu häufig als Privatangelegenheit betrachtet. Das Bild von Familie anzutasten – es in Frage zu stellen – fällt offenbar schwer.

Sogar in der Studie scheint der Hinweis wichtig zu sein, „dass die Mehrheit der Neugeborenen in wie auch immer gestalteten Familienkonstellationen gut aufgenommen wird und die Mehrheit der Kinder sich als geschützt und geliebt erleben“ (vgl. Ausgabe August 2021, Seiten 20 und 21) – so als ob wir uns immer wieder entschuldigen müssten, wenn wir den Tatbestand des Tatortes Familie benennen.

Ich frage mich, warum dies immer noch so ist und finde es absurd:  man stelle sich einmal vor, bei Institutionen wie beispielsweise der Kirche würde immer wieder erwähnt, dass im kirchlichen Kontext sehr häufig sexualisierte Gewalt an Kindern ausgeübt wurde und wird, die Institution Kirche aber doch eigentlich im Großen und Ganzen ganz gute Arbeit leiste.

Deshalb meine erste Forderung: Die Öffentlichkeitsarbeit der Fachberatungsstellen alleine reicht nicht aus – es benötigt darüber hinaus professionell gut gestaltete und finanzierte bundesweite Kampagnen – mit dem Ziel, das gesellschaftliche Bewusstsein auch für diesen Tatkontext zu schärfen

Zur Frage: Was braucht es für Schutzkonzepte in Familien?

Meines Erachtens kann es ein Schutzkonzept in der Familie ähnlich wie in Institutionen nicht geben, sondern es bedarf anderer Maßnahmen, um den Schutz von Kindern in Familien zu verbessern:

  • So braucht es zunächst eine Abkehr von der gesellschaftlich idealisierten Vorstellung oder dem Wunschdenken, dass Familie – und nicht nur die traditionelle Familie - ein Hort und Garant des behüteten Aufwachsens von Kindern sei und des Dogmas der Familie als Privatangelegenheit. Die Ursachen sexualisierter Gewalt in der Kindheit liegen- wie wir alle wissen – in der Gewalt im Geschlechterverhältnis und der Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern- sowie deren Abhängigkeit. Diese sind in Familien besonders groß.

Wichtig ist es auch, ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, dass sexualisierte Gewalt in allen Milieus stattfindet-  also auch in bürgerlichen, alternativen oder linken Milieus – dass scheint umso schwererer zu sein, je höher der gesellschaftliche Status des Täters oder der Täterin in dem jeweiligen Milieu / in der Gesellschaft ist.

Damit unterstützende Familienangehörige hinschauen und für Schutz sorgen können – und dies sind in den meisten Fällen die Mütter -  bedarf es

  • Dass diese entsprechend finanziell abgesichert sind, wenn sie sich trennen – dies gilt sowohl für Frauen, die sich in einer prekären finanziellen Situation befinden wie auch für Frauen, die in gut bürgerlichen oder wohlsituierten Ehen leben.
  • Das heißt, es bedarf gesellschaftlich politischer Anstrengungen einer eigenständigen finanziellen Sicherung von Frauen/Müttern sowohl generell als auch bei Trennung.

Darüber hinaus dürfen Mütter, die sich aufgrund des Missbrauchs trennen, nicht den Vorwurf vom Jugendamt oder vom Familiengericht befürchten müssen, dass sie Falsch-beschuldigungen gegen den Partner aussprechen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.

Bei der Regelung des Sorgerechts wie auch beim Umgangsrecht muss der Tatbestand des Missbrauchs berücksichtigt werden – ein Vater, der seine Tochter oder seinen Sohn missbraucht hat, hat zunächst keinen Anspruch auf den Umgang oder das Sorgerecht.

Es bedarf verpflichtender Schulungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Jugendämtern und Gerichten über Ausmaß, Dynamik und Folgen der sexualisierten Gewalt.

Es bedarf einer Korrektur es „Opferbildes“ – also der eigenen Vorstellung, wie Betroffene sich verhalten und äußern müssten.

Was braucht es noch?

Aufgrund

  • der Isolation innerhalb der Familie,
  • der Dynamik in Bezug auf Schweigegebot und der Vermittlung des Täters, dass sexualisierte Gewalt „normal“ sei,
  • der Ambivalenz, der Loyalität und der Übernahme von Verantwortung für den Zusammenhalt der Familie oder für den Schutz der Geschwister

bedarf es für Kinder außerhalb der Familie Informationen zu sexualisierter Gewalt, zu Rechten von Kindern und zu Hilfsangeboten.

Dafür bedarf es gut ausgebildeter und reflektierter Pädagog*innen, die sich auch wagen, das Thema kind- und jugendgerecht anzusprechen und die auch den Tatbestand „sexualisierte Gewalt innerhalb von Familien“ benennen sowie pädagogisches Material für diese Arbeit.

Es bedarf einer Verpflichtung in Kitas und in Schulen, regelmäßig Präventionsprojekte durchzuführen. Diese dienen nicht nur der Information und der Bestätigung für betroffene Kindern, wenn ihr Recht auf Unversehrtheit nicht eingehalten wird, sondern auch der Information auf ihr Recht auf Beratung und über Hilfsangebote (die natürlich auch gut ausgestattet für allen Betroffenengruppen gut erreichbar vorgehalten werden müssten).

Der neue gestaltete Paragraf 8, Abs. 3 im SGB VIII -  „Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde“ muss umgesetzt werden.

Prävention darf keine Alibi Funktion haben, die die Verantwortung für das Aussprechen bei den Kindern belässt. Das Handeln der Verantwortlichen muss sich an den Rechten von Kindern orientieren. Sie haben das Recht, dass Schutzmaßnahmen an ihren Bedürfnissen ausgerichtet werden und dass nach einer Offenlegung nicht zwangsläufig sofort die Eltern einbezogen werden, sondern der Schutz und das Einleiten entsprechender Maßnahmen im Vordergrund stehen.

Es muss rechtlich verankert werden, dass das Recht von Mädchen und Jungen auf Unversehrtheit über dem Elternrecht steht – zum Beispiel, dass Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden und bei allen Maßnahmen beachtet werden müssen.

Was braucht es um Aufarbeitung zum Tatkontext Familie gesamtgesellschaftlich zu verankern? – aber auch was brauchen Betroffene an Unterstützung, damit Familien sich diesem Prozess stellen?

Das allerwichtigste für mich: Die Anerkennung, dass das Thema sexualisierte Gewalt nicht erst seit der Odenwaldschule oder dem Canisius Kolleg in die Öffentlichkeit gebracht worden ist, sondern dass Betroffene seit den 1980 er Jahren gesprochen haben

Und dies waren vielfach Betroffene aus dem Kontext familiärer Missbrauch

Es gab Anfang der 1980er Jahre das Buch „Väter als Täter“ –

Es gab erste Selbsthilfegruppen und –-kongresse

Wir schon mal weiter in dieser Diskussion!

Mutmaßungen, warum das so ist, gibt es viele

  • Beides waren Eliteschulen
  • Männer als Betroffene haben sich zu Wort gemeldet
  • Institutioneller Missbrauch ist leichter anzuschauen als innerfamiliärer, es besteht die Möglichkeit, sich zu distanzieren.

Es bedarf einer großen öffentlichen Kampagne, um auf innerfamiliäre sexualisierte Gewalt aufmerksam zu machen – auf die Abhängigkeiten, die Ambivalenzen, die Loyalitäten auch der nicht betroffenen Familienmitglieder, auf die wissenden und nicht wissenden Mitglieder der Familie, die Dynamik und die Folgen

Betroffene sexualisierter Gewalt – gerade, wenn sie im familiären Umfeld passiert ist – haben ein enormes Schuld- und Schamgefühl, was ein Sprechen verhindert. Dies muss öffentlich thematisiert werden, um Entlastung zu schaffen und Anerkennung zu fördern.

Darüber hinaus ist mir wichtig, anknüpfend daran, dass Betroffene seit über vierzig Jahren sprechen, den Blick auf Betroffene zu weiten und anzuerkennen, dass wir diejenigen sind, die Beratungsstellen gegründet haben, dass wir uns politisch engagieren, dass wir kreative Formen der Öffentlichkeitsarbeit wie beispielsweise Kunstprojekte gefunden haben und somit unglaublich stark sind

Was braucht es darüber hinaus?

  • Eine Analyse über transgenerationale Weitergabe von Gewalt und Konzepte – dies ist letztendlich auch wichtig für den Schutz von Kindern
  • Die rechtliche Möglichkeit der Scheidung von den Eltern und somit der Entbindung von sämtlichen auch finanziellen Pflichten gegenüber den Eltern
  • Der eigenständigen finanziellen Sicherung, wie der Möglichkeit unabhängig von den Eltern Bafög oder Ausbildungsförderung zu beantragen sowie Grundsicherung oder andere Transferleistungen

Und es Bedarf eines eigenen Gremiums für einen Austausch und zur Erarbeitung von Forderungen sowie der Einbeziehung der Betroffenen und ihres Expert*innenwissens – die Diskurswerkstatt zum „Tatort Familie“ ist ein guter Anfang.

Kultur des Einmischens - Schutzkonzepte in Familien als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Ich habe mir in der Vorbereitung auf heute noch mal die ganz grundlegenden Bausteine/Grundprinzipien eines Schutzkonzepts angesehen und versucht sie auf den Kontext Familie anzuwenden. Die Entwicklung eines Schutzkonzepts bewegt sich entlang der Prinzipien

  1. Risikoanalyse
  2. „Kultur“ einer Einrichtung, Regeln des Umgangs miteinander
  3. Verfahrenswege wenn ein Eingreifen nötig ist

Zum ersten Punkt Risikoanalyse:

Letztendlich liegen grundlegende Hinweise und Analysen zum Risiko für Kinder und Jugendliche spätestens seit den 1980 Jahren aus dem Umfeld der Frauenbewegung vor. Vor allem Frauen, die selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben, haben hier den Prozess der Wissensgenerierung vorangetrieben. In diesem Sinne war Partizipation, was ja auch ein ganz wichtiger Punkt in der Schutzkonzeptentwicklung ist, von Anfang an mehr als gegeben. Allerdings muss dieses wichtige Prinzip immer wieder aktiv in die Erinnerung geholt werden.
Auch die Studie der Aufarbeitungskommission liefert einen weiteren großen Baustein. Wir haben hier also eine gute Basis, auch wenn bestimmte Aspekte unbedingt weiter wissenschaftlich erforscht werden sollten.

Zum zweiten Punkt Umgangskultur:

Angewandt auf den Kontext Familie als Tatort bedeutet eine Veränderung der „Kultur“ und des Umgangs, ein anderes gesellschaftliches Bild von dem, was Familie ist zu entwickeln und die Rechte von Kindern und Jugendlichen deutlich zu stärken:

  • Für eine gesunde Entwicklung braucht ein Kind mehr als zwei Bezugspersonen. Das Bild von Vater, Mutter, Kind ist faktisch längst überholt, wird aber rechtlich weiter so konstruiert. Es gibt Familien wo drei, vier, fünf Menschen verschiedenster Gender Verantwortung für ein Kind übernehmen. Es muss möglich sein, dass mehrere Personen als Verantwortliche in die Geburtsurkunde eingetragen werden mit den entsprechenden Rechten und Pflichten, zwei Mütter, zwei Väter und meinetwegen auch festgeschriebene „Pat*innen“.
  • Kinderrechte müssen über Elternrechten stehen! Kinderrechte müssen ins Grundgesetz. Es kann nicht sein, dass verurteilte Täter*innen das Sorgerecht wieder erhalten und es darf kein (unbegleitetes) Umgangsrecht geben. Es braucht ein „Scheidungsrecht“ für Kinder von ihren gewalttätigen Eltern.
  • Partizipative Entwicklung von Beschwerde & Hilfsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.
  • Es braucht Elternschulungen, die alle Eltern erreichen. Hierbei ist es wichtig im Blick zu behalten, dass über Elternschulungen die sexualisierte Gewalt nicht verhindert werden kann, denn den Täter*innen mangelt es nicht an Wissen über die Schädlichkeit ihres Handelns. Elternschulungen sind wichtig für die potentiell unterstützenden Elternteile.
  • Schulungen des weiteren Umfelds wie medizinisches, pädagogisches und juristisches Personal, aber auch alle anderen.

Zum dritten Punkt Verfahrenswege:

  • Es braucht Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen (beispielsweise niedrigere Schwellen für die Eingriffsmöglichkeiten des Jugendamts)
  • Die Eingriffsmöglichkeiten des Umfelds müssen verbessert werden, es braucht gerade auch für das unterstützende Umfeld niedrigschwellige, anonyme Beratungsmöglichkeiten. Sie müssen flächendeckend in Deutschland eingerichtet werden, also auch auf dem Land.
  • Kinder und Jugendliche müssen elternunabhängige Zugänge zu Hilfsangeboten und auch Unterbringungsmöglichkeiten haben.
  • Unbedingt erforderlich ist eine klare Positionierung des direkten und des weiteren Umfelds in Bezug auf den Täter! Eigentlich braucht es eine gesellschaftliche Ächtung des Täters, der Täterin. Die Kosten seiner Tat müssen für den Täter, die Täterin höher sein, als der Nutzen.
  • In diesem Kontext hätte ich den Wunsch nach einer unabhängigen Evaluation bisheriger Täterarbeitsansätze.

Aufarbeitung /Erwachsene Betroffene

Eine gelingende gesellschaftliche Aufarbeitung kann nur unter strukturierter und gesicherter Einbeziehung der Betroffenen stattfinden. Wie ja auch schon in der Studie benannt, braucht es partizipative Ansätze auf allen Ebenen, in allen Feldern des Themas. Eigentlich sind darüber hinaus sogar betroffenenkontrollierte Projekte in Forschung, in der Prävention & auf der Ebene der Unterstützungsangebote zwingend, um die gesellschaftliche Aufarbeitung wirklich voran zu bringen.

Da im Kontext von Aufarbeitung der Fokus sich oft ganz schnell in Richtung Prävention verschiebt, die Betroffenen aus dem Blick geraten, möchte ich hier ein paar Aspekte insbesondere junger Erwachsener näher beleuchten.

Die Situation von Menschen, denen im familiären Kontext sexualisierte Gewalt angetan wird oder wurde, bleibt meist auch über das 18.Lebensjahr hinaus in viele Richtungen prekär. Zum einen endet die Gewalt häufig nicht mit der Volljährigkeit, insbesondere dann, wenn es weiter finanzielle und andere Abhängigkeiten gibt. Bei Menschen mit beispielsweise geistigen Beeinträchtigungen haben zum Teil die Täter-Eltern die gesetzliche Betreuung, d.h. für diese Menschen gibt es kein Entkommen aus der sexualisierten Gewalt. Diese Abhängigkeiten werden durch verschiedene gesetzliche Grundlagen fortgeschrieben (z.B. Hartz IV Bezug, elternabhängiges Bafög oder eben auch das aktuelle System der gesetzlichen Betreuung). Zum anderen bleibt selbst nach Beendigung der Gewalt und eventuellem Auszug aus dem Elternhaus die Situation für die Betroffenen für lange Zeit emotional, finanziell aber auch in Dingen des alltäglichen Lebens mehr als schwierig.

In diesem Kontext müssen dringend gesetzliche Grundlagen neu geschaffen werden und schon vorhandenen der Situation junger Menschen, denen im familiären Umfeld sexualisierte Gewalt angetan wurde, angepasst werden.
Es muss möglich werden, dass sich Betroffene rechtlich vollkommen von ihren Eltern lösen können, es darf hier keine Abhängigkeiten mehr geben.

Um darüber hinaus eine individuelle Aufarbeitung überhaupt zu ermöglichen braucht es:

  • familienunabhängige Zugänge zu finanzieller Unterstützung während der Ausbildung/ Schule/ Studium (elternunabhängiges BAFÖG oder besser ein bedingungsloses Grundeinkommen).
  • Emotionale Unterstützung und Begleitung während der Ausbildung, denn es ist doppelt und dreifach schwer ohne den familiären Rückhalt. Hier denke ich nicht an angestellte Sozialarbeiter*innen, sondern an lebenserfahrenere andere Betroffene. Die Unterstützung könnte in Form von gegenseitigem Austausch erfolgen. Möglich und sicher sinnvoll wären aber auch ein konkretes Coaching und eine Begleitung (zum Beispiel bei Ämtergängen). All dies müsste selbstverständlich adäquat bezahlt werden und auch in diesen Kontexten bräuchte es natürlich ein lebendiges Schutzkonzept.
  • bezahlbaren Wohnraum, um ggf. alleine wohnen zu können aber auch als WG, mit Betreuung oder ohne, je nach Bedarf.
  • Eine Überarbeitung des Systems der gesetzlichen Betreuung unter Einbeziehung der Tatsache, dass auch Eltern sexualisierte Gewalt ausüben können.

Kultur des Einmischens

Ich finde die Diskussion über ein neues Familienleitbild wichtig, besonders den Diskurs über die Familie als privaten Raum vs. Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt.

Ich wünsche mir als Standard, dass Eltern sich fortbilden. Es gibt heute verschiedenste Formen Familie zu Leben und Kinder zu erziehen. Nichts ist vorgegeben. Eltern können und müssen viele Entscheidungen allein treffen. Einige Beispiele: Wie sollen die Kinder erzogen werden? Was sind unsere Werte und Ziele?  Wie regeln wir dem Umgang?

Elternkurse oder Elternführerscheine, können unterstützen und präventiv zum Thema Gewaltschutz wirken. Diese Qualifizierung muss niedrigschwellig und kostenlos für alle Eltern zur Verfügung stehen. Es gibt viele gute Konzepte, zum Beispiel den Elternkurs des DKSB, den es für unterschiedliche Zielgruppen gibt. (Achtung: Es gibt auch fragwürdige Konzepte, die nichts mit Gewaltschutz und Kinderrechten zu tun haben – diese sind natürlich nicht gemeint)

Dazu gehört auch der Bedeutungswandel: Wer sich Unterstützung sucht, die Familie nach außen vernetzt und Einblicke in unperfekte Zustände gewährt ist kompetent und nicht überfordert.

Ich plädiere dafür, dass Kinder eine verlässliche Bezugspersonen auch außerhalb der Familie haben sollten. Von Geburt an, die eine Person, die sich als Pat:in zuständig und verantwortlich fühlt und eine gute Beziehung zu dem Kind aufbaut. Das können Profis, Nachbar:innen, Leihomis oder Ehrenamtliche sein. Diese Pat:innen haben eine Anspruch auf Schulungen in Bezug auf gesundes Aufwachsen und Gewaltprävention.

Daneben müssen Einrichtungen in denen Kinder sich aufhalten besser ausgestattet werden. Kinder verbringen heute mehr Zeit in Einrichtungen als noch vor 20 Jahren. Das ist eine Chance, die genutzt werden kann um. Wir brauchen ausreichend kompetentes Personal für eine gute Betreuung und für konstruktive Elternarbeit.

Auf der anderen Seite trägt jede:r einzelne Verantwortung.

Dazu ist es wichtig zu sensibilisieren, wann Gewalt und Machtmissbrauch anfängt.

Und: Wie geht Einmischen, wenn ich den Verdacht habe, etwas stimmt nicht.

Dafür braucht es Orientierungshilfen. Was kann ich ganz konkret tun, bei Verdacht auf Gewalt in der Nachbarschaft, im Bekanntenkreis, oder wenn ich in der Öffentlichkeit erlebe, dass Kinder schlecht behandelt werden.

Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass Gewalt überall und häufig passiert.

Aufarbeitung Betroffene Erwachsene:

Was braucht es um Aufarbeitung im Tatkontext Familie gesamtgesellschaftlich zu verankern?

Im Folgenden nenne ich einige konkrete Ideen. Die Liste ist aufgrund der Zeitvorgabe von 3 min nicht vollständig und müsste in einigen Punkten weiter ausgeführt werden.

Altbekannt, aber trotzdem zentral: Es werden ausreichend Hilfsangebote gebraucht um überhaupt vom Bewältigen der Folgen zur Aufarbeitung zu kommen.

Eine Institution auf Bundes- oder Länderebene muss dauerhaft zuständig und Beauftragt sein um Aufarbeitung sicher zu stellen und zu gestalten.

Dies könnte eine Aufarbeitungskommission für den Tatkontext Familie sein. Analog zu Institutionen ist beim Tatkontext Familie der Staat das institutionelle gegenüber. Er  trägt eine Mitverantwortung für Strukturen, die den Missbrauch in Familien in so großer Zahl ermöglichen.

Viele Betroffene haben zum Beispiel bei der Kommission im Rahmen der Anhörungen ihre Geschichten erzählt, viele haben diese in Therapien bearbeitet oder anderweitig deutlich gemacht, dass sie Opfer von sexuellem Missbrauch waren ohne ein Straf- oder OEG verfahren zu führen, das bestenfalls durch ein Urteil in gesellschaftlicher Anerkennung mündet. Um Zugang zu Entschädigungen oder Hilfen zu erhalten müssen Betroffene immer wieder schlüssig ausführen, was ihnen angetan wurde. Das ist eine zusätzliche Belastung. Eine Idee ist einen Ausweis zu schaffen, den Betroffene zum Beispiel nach einer Anhörung bekommen können, der Belegt, dass sie Opfer waren. Dieser Ausweis könnte Zugang zu Entschädigung, Unterstützung und ähnlichem ermöglichen, ohne jedes mal die Geschichte erzählen zu müssen. Ähnlich wie der Schwerbehindertenausweis.

Betroffene in Familien müssen ihre Geschichte erzählen können. Dafür braucht es neben dem Angebot der Kommission weitere dezentrale aber offizielle Angebote für Menschen, die sich nicht an die Kommission wenden, damit die Geschichten von Vertreterinnen der Gesellschaft gehört werden. Weitere Forschung mit Hilfe der Berichte ist notwendig und sie können eine Möglichkeit sein in der Gesellschaft ein Bewusstsein für das Ausmaß und die Folgen von sexualisierter Gewalt in der Kindheit zu schaffen. In welcher Form dies möglich ist muss geprüft werden.

Wir brauchen einen Ort für die Geschichten, z.B. ein Forschungs- und Erinnerungszentrum.

Voraussetzung für Betroffene für Aufarbeitung ist die Möglichkeit, sich vernetzen und fortbilden zu können. Der Staat muss Ressourcen dafür zur Verfügung stellen und Betroffenen einen leichten Zugang ermöglichen.

Aufarbeitung kann auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch in den einzelnen Familien stattfinden. Hilfreich wäre ein Leitfaden für Betroffene und Familien, wie Aufarbeitung passieren kann. Analog zu dem Leitfaden für Institutionen.

Sinnvoll ist ein Anspruch auf eine kostenlose externe Begleitung / Unterstützung / Moderation / Mediation.

Auch hier sollte es am Ende einen Bericht geben, in dem Ergebnisse, Vereinbarungen oder auch ein Scheitern festgehalten werden. Dies kann ein Dokument für die Beteiligten sein und sollte auch für Forschungszwecke zur Verfügung stehen.

Notwendig sind Beauftragte für Sexuellen Missbrauch in den Ländern, die für den Rahmen für Aufarbeitung und für die Förderung von Betroffenennetzwerken regional und lokal verantwortlich sind.

Ich plädiere weiter für einen zentralen Fonds für Entschädigungsleistungen für alle Opfer, egal aus welchem Kontext. Es muss ein gemeinsames Verständnis über Entschädigungsansprüche geben, unabhängig vom Tatkontext und der Bereitschaft der jeweiligen Täter(-organisationen) zu entschädigen.

Es gibt noch viele ungeklärte Fragen zum Thema Aufarbeitung im Tatkontext Familie. Daher müssen weiter Forschungsprojekte und Diskurswerkstätten finanziert werden.

Kultur des Einmischens – Schutzkonzepte in Familien als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Das Themenspektrum, #TatortFamilie ist komplex und umfangreich. Ich begrüße, dass mit dieser Diskurswerkstatt der öffentliche Fokus wieder auf das nach wie vor stark tabuisiertes Thema Missbrauch/sexualisierte Gewalt in der Familie und im familiären Nahraum gelegt wird. Spätestens seit den 8oer Jahren haben viele Betroffene und engagierte, meist feministische, Fachberatungsstellen immer wieder öffentlich auf das immense Ausmaß und die Folgen der Gewalt aufmerksam gemacht. Sie wurden aber nur sporadisch gehört oder meist, ganz in „patriarchaler Tradition“, als hysterisch diskreditiert oder gar der Täter-Opfer-Umkehr beschuldigt.

Sexualisierte Gewalt in der Familie ist ein Thema, das uns dort trifft, wo wir, wo Kinder vermeintlich am sichersten sind und wo wir, wo sie eigentlich geschützt sein sollten. Es ist ein Thema, dem wir Betroffene uns zwangsläufig stellen mussten. Wir haben es uns nicht ausgesucht und lange hat uns jenseits von der beratenden und therapeutischen Fachwelt auch niemand zugehört. Das mittlerweile endlich vermehrt hingehört, hingeschaut, geforscht und – was viel wichtiger ist und sich aus allem Zuhören ergeben muss, wenn wir es mit dem Schutz von Kindern wirklich ernst nehmen – nach Lösungen gesucht und nach gesellschaftlichen Veränderungen gefragt wird, hat sich in den letzten zehn Jahren, seit der Offenlegung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule und in der katholischen Kirche und zuletzt durch die aus dem familiären Bereich bekannt gewordenen Fälle Staufen, Münster, Bergisch Gladbach zumindest geändert. Aber nach wie vor wird sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen als außerhalb von uns als Familie und Gesellschaft verortet, als etwas das „da draußen“ bei zölibatären Geistlichen, in Vereinen, in Schulen oder durch desozialisierte, „monströse“ Fremde stattfindet. Auch wenn, oder gerade weil, es schmerzt, müssen wir aber endlich vollumfänglich zur Kenntnis nehmen, das das nicht zutrifft und das das Ausgrenzen der Gewalt und ihrer Folgen aus unserem privaten und gesamtgesellschaftlichem Lebensraum trügerisch ist. Denn Täter:innen und wir Betroffene, egal aus welchem Tatkontext, sind Teil dieser Gesellschaft. Wie alle, werden in, mit, durch Gesellschaft sozialisiert.

Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen trifft den Kern unserer Gesellschaft. Ebenso, wie es für uns Betroffene meist nicht möglich war und ist, sich den Folgen und Auswirkungen nicht zu stellen, sollte es für uns als Gesellschaft, nicht weiter möglich sein, sich dem zu entziehen. Es ist nicht damit getan, dass sich Betroffene in Therapie begeben und wieder „funktionieren“. Und es ist nicht allein die Aufgabe der Betroffenen, den Missbrauch aufzuarbeiten und vor allem auch nachhaltig strukturelle gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, um heute und in Zukunft Kinder zu schützen.

Für die Diskurswerkstatt Tatort Familie habe ich mich stichpunktartig auf ein paar Aspekte fokussiert, die diese grundlegende gesellschaftliche Dimension adressieren:

  • Für eine Kultur des Einmischens braucht es einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, eine Änderung des Blickwinkels. Weg vom „ich will niemanden zu Unrecht beschuldigen, es geht mich auch nichts an, es ist deren Privatangelegenheit“ hin zu „besser sich einmal mehr „unverbindlich“ informieren (beispielsweise beim bundesweiten Hilfe-Telefon sexueller Missbrauch des UBSKM, kostenfreie und anonym), als ein Kind weiter seinem Schicksal zu überlassen und es fortgesetzter sexualisierter Gewalt auszusetzen“. Dabei gilt es vor allem auch die Vorstellung von Familie als privaten Raum zu überprüfen, breit zu diskutieren und neu zu bewerten. Denn was bedeutet es für Kinder – deren Privatheit und Intimsphäre aufs furchtbarste genau dort verletzt wird, wo sie Schutz und Unterstützung erfahren sollen – mit und in ihren Familien allein gelassen zu werden? Wie schützenswert ist der familiäre Wert „Privatsphäre“, wenn er als Schutzschild des „Schweigens“, für (fortgesetzte) Missbrauchs-Taten genutzt wird?  Es muss deutlich werden, dass, wenn ich als Nachbar, als Lehrer:in, als Ärzt:in mir nicht wenigstens die Mühe mache einen Anruf zu tätigen, schlimmstenfalls riskiere, das Kind weiter den Täter:innen auszusetzen. Gewalt ist niemals Privatsache, kein Kind kann sich alleine schützen.
  • Außerdem braucht es nach wie ein grundsätzliches breites gesellschaftliches Wissen über das immense Ausmaß sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Tatkontext Familie und ein Bewusstsein über die gesamtgesellschaftlichen Folgen. Denn sexualisierte Gewalt ist kein Einzelschicksal, kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und wird meist eben nicht von Fremden verübt. Sie entsteht nicht im luftleeren Raum, sie hat ihre Ursachen in gesellschaftlichen, familiären, kulturellen und politischen Verhältnissen. Und ebenso hat sie nicht nur Folgen für die direkt Betroffenen der Gewalt. Sie wirkt sich – spätestens nach der Offenlegung - auch unmittelbar auf das Leben von Eltern Geschwistern, und anderen familiennahen Bezugspersonen aus. Sie prägt und beeinflusst alle familiären und sozialen Beziehungen. Wird sie nicht verarbeitet und/oder gemeinsam aufgearbeitet, wirkt sie fort und wird womöglich auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Wenn wir den „Circle of violence“ unterbrechen, ändert sich die gesamte Familiendynamik, schützen wir Kinder zukünftig und dann haben vielleicht sogar Angehörige, die sich bisher noch nicht getraut haben, ihre eigenen traumatischen Erlebnisse anzuschauen, die Chance dazu. Das Bewusstsein darüber und die Anerkennung, dass sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht nur ein individuelles Schicksal der Betroffenen, sondern die Taten auch weitreichende Folgen für die gesamte Gesellschaft hat, kann entscheidend zur Enttabuisierung der Gewalt beitragen. Und es öffnet vor allem auch den Raum, zu schauen, welche gesellschaftlichen Strukturen, diese Form der Gewalt und auch alle anderen Formen der Gewalt gegen Kinder begünstigen und seit Jahrzehnten mittragen. (Für die, die sich durch ökonomische Argumente überzeugen lassen - ebenso sollten in Berechnungen zu Trauma-Folgekosten die Kosten etwa für Therapie von Angehörigen etc. einfließen, https://beauftragter-missbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Literaturliste/Publikat_Deutsche_Traumafolgekostenstudie_final.pdf)
  • Bei allen Berufsgruppen und in allen Bereichen (z.B. Sport, Jugendgruppen, Vereine), die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sollte systematisch strukturiertes Wissen über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt, Täterstrategien, das Erkennen möglicher Symptome, Traumafolgen und Interventionsmöglichkeit (Hilfstelefon als kleinster gemeinsamer Nenner) etc. verankert werden. Entweder in Form verpflichtender Weiterbildungen und/oder durch Aufnahme dieses Wissens in Ausbildungscurricula.

Ebenso sollten junge Eltern von Beginn an Infos bekommen, wie sie ihre Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können. Etwa in Form einer Broschüre, in der nicht angstmachend, sondern niedrigschwellig und alltagsnah Fragen aufgegriffen werden, was möglich Anzeichen von sexualisierter Gewalt sind, das Grenzen schon bei Kindern zu respektieren sind, wo Grenzen beginnen, was grenzverletzendes Verhalten ist und was weiterhin erlaubt sein sollte/darf, wo sie sich bei einem Verdacht beraten lassen können etc.

  • Schauen, wo Diskussionsräume aufgemacht und angeboten werden können. In Schulen, Kindergärten, als VHS-Vortragsreihen?
  • Bücher/Broschüren zu „richtigem und falschem Verhalten“ in Familien, nicht nur in Bezug auf Sexualität, sondern schon beginnend bei respektieren von Grenzen, erfüllen von Bedürfnissen.

Ohne Öffentlichkeit keine Aufmerksamkeit:

  • Öffentlichkeitswirksame Kampagnen, (Im Tenor „Ich bin/Wir sind keine Dunkelziffer“, „Missbraucht trifft auch dich“ o.ä.)

Aufarbeitung/Erwachsene Betroffene

  • Um die Hemmschwelle zur Aufarbeitung für Familien zu senken, braucht es – vorausgesetzt, sie sind nicht unmittelbar am Missbrauch beteiligt gewesen oder haben ihn durch wegschauen und schweigen weiter ermöglicht! – auch einen „wohlwollenden Blick“ auf die Betroffenheit der Angehörigen und/oder Informationen über die Auswirkungen auf das gesamte Familiensystem, vor allem aber auch über Täter:inne-Strategien. Angehörige in Familien, in denen Täter:innen es geschafft haben, ihre Taten systematisch und gezielt zu verüben und diese Taten geheim zu halten, sind ebenso systematisch in ihrem Vertrauen vernebelt, getäuscht und hintergangen worden. Viele haben mit Schuldgefühlen zu kämpfen, das Opfer nicht geschützt und den Missbrauch nicht bemerkt und beendet zu haben. Auch sie brauchen Begleitung und sollten in ihrer Sekundär-Betroffenheit gesehen und gehört werden, damit ein gemeinsames Aufarbeiten gelingen kann.
  • Aufarbeitung innerhalb der Familie ist, wegen der durch die Taten belasteten, emotionalen Verwicklungen, nicht allein zu bewältigen. Denkbar wäre hier die Begleitung von Angehörigen und direkt Betroffenen von ausgebildeten Fachkräften, z.B. Mediatoren für außergerichtliche Konfliktbewältigung. Möglich ist dies auch für eine Aufarbeitung mit den Täter:innen nach dem Vorbild des „Täter-Opfer-Ausgleich“ (https://taeter-opfer-ausgleich.de/). Voraussetzung ist hierbei allerdings, dass Täter:innen ihre Taten bereuen und die volle Verantwortung für die Taten übernehmen und das Betroffene das überhaupt wollen.
  • Es gibt Familien, die sich einer Aufarbeitung nicht stellen wollen oder können. Aber auch in diesen Fällen haben Betroffene einen berechtigten Anspruch nach gesellschaftlicher Anerkennung und Aufarbeitung. Welche alternativen Formen/Formate können für Betroffene stattfinden, um das erfahrene Leid anzuerkennen und aber auch ihre bisherigen Bewältigungs- und Lebensleistungen zu würdigen?  Alternative Gerechtigkeitsforen/Tagungen mit symbolischen Tribunalen, wie es sie z.B. schon bei sexualisierter Kriegsgewalt gegeben hat?
  • Eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung kann auch die (politische) Öffentlichkeitsarbeit einnehmen. Etwa in Form eines offiziellen Erinnerungs- und Lernortes zum Thema „Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“. Neben der Vermittlung von Fakten zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, können hier auch die Geschichten Betroffener Raum finden. Diese Geschichten können das Ausmaß der sexualisierten Gewalt aufzeigen, anderen Betroffenen u.a. ermöglichen, sich mit ihrer eigenen Geschichte zu verbinden und zeigen, wie vielfältig die Erfahrungen und die Bewältigungswege sind.  Diese Geschichten sollten aber nicht dem „Betroffenheits-Entertainment“ dienen und bei der Zurschaustellung verharren. Betroffene haben schon zu oft ihre Geschichten erzählt, ohne das daraus „Lessons Learned“ folgten.

Auch bereits bestehende Gedenktage wie der 18.11. als Europäischer Tag gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen kann für breitere öffentlichkeitswirksame Aktionen, Vernetzung genutzt werden. Stellungnahmen von Personen des öffentlichen Lebens, wie etwa Politiker:innen sind dabei nicht nur ein wichtiges Signal an die Betroffenen, dass ihr Leid anerkannt und die Taten verurteilt werden, sondern tragen auch dazu bei, dass die Kultur der „Schweigsamkeit der Gewalt“ in den Fokus rückt und gesellschaftlich enttabuisiert wird.

  • Bisher sind Betroffene oft auf sich allein gestellt, im Willen das Erlebte zu verarbeiten und aufzuarbeiten. Informationen, Hilfen und Unterstützungen müssen einzeln und aus unterschiedlichen Systemen zusammengetragen werden. Das kostet meist sehr viel Zeit und Energie und verstärkt/bestätigt das bei Betroffenen oft vorhandene Gefühl, allein zu sein und sie werden faktisch auch oft allein gelassen. Hilfreich könnte die Einrichtung von bundesweiten, „alles unter einem Dach“-Anlaufstellen für erwachsene Betroffen sein, ähnlich der nun entstandenen Childhood-Häuser (https://www.childhood-haus.de/), wo sie zentral Informationen/Beratung/Unterstützung finden zur Aufarbeitung, aber auch bei der (Trauma-)Therapeut:innensuche, juristische Beratung bei der Entscheidung ihre Täter:innen anzuzeigen oder nicht etc.. Hier könnten ebenso die angesprochenen Mediationen stattfinden und Betroffenennetzwerke organisiert werden.

Diese Anlaufstellen müssen auch auf einer bundespolitischen Ebene gefördert und vor allem auch finanziell gesichert sein. Die bisherigen meist prekären Arbeitsbedingungen der Fachberatungsstellen haben gezeigt, dass der Schutz vor sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen und auch die Unterstützung heute erwachsener Betroffener eben nicht als gesamtgesellschaftliches Thema begriffen und angegangen wurde.

Kultur des Einmischens – Schutzkonzepte in Familien als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Das dicke Brett was es zu bohren gilt, ist das Verhältnis von Gesellschaft zu Familie. Die heterosexuelle Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kind gilt als Keimzelle der Gesellschaft. Und nur, wenn die Eltern versagen oder das Kind verwahrlost wird sich eingemischt.

Die Gesellschaft meldet kein Eigeninteresse an, sondern engagiert sich nur aus Kinderschutzgründen.

Dabei ist es so simpel: Sexualisierte Gewalt schädigt das gesellschaftliche Zusammenleben und jede Gesellschaft sollte aus Selbsterhaltungsgründen sich dagegen zur Wehr setzen. Ich glaube nur über ein selbstbewusstes Formulieren des gesellschaftlichen Interesses kommen wir gegen die Heiligkeit der Familie an.

Was lässt sich aber heute schon angehen, bevor wir das dicke Brett gebohrt haben und ohne deshalb weniger zu bohren?

Konkret sehe ich erst einmal drei Punkte:

    1. Analog zum Punkt der Einstellungskriterien im Schutzkonzept für Institutionen geht es um den Punkt, wer wird überhaupt Eltern. Nun können wir das nicht so regeln, wie die Erlaubnis zum Autofahren mit einem Führerschein, aber wir können
      1. Eltern besser qualifizieren, mehr Elternkurse anbieten usw.
      2. Und die Weigerung sich zu qualifizieren mit verstärkter Kontrolle beantworten (dafür brauchen wir eine Verstärkung des Jugendamtes)
      3. Verurteilten Tätern für den konkreten Fall, aber auch generell für die Zukunft, kein Umgangs- und erst recht kein Sorgerecht mehr zugestehen.
    2. Im Bereich Verhaltensvereinbarungen in Institutionen gibt es das Prinzip, Eingreifen nicht erst bei massiver sexualisierter Gewalt, sondern schon bei Grenzverletzungen
      1. Das bedeutet nicht weniger, als ein Herabsetzen der Eingreifensschwelle des Jugendamtes: Die Gefährdung des Kindeswohls beginnt wesentlich früher als erst bei massiver sexualisierter Gewalt.
      2. Und es braucht eine klare Aufforderung an das Umfeld: Misch Dich ein: Es ist keine Verleumdung, wenn Du den Kindernotdienst anrufst: Auch wenn Du vielleicht beschimpft wirst, es ist wichtig dass Du Dich einmischt, wenn Du mitbekommst, dass ein Kind herabgesetzt wird.
      3. Zur Klarstellung brauchen wir endlich die Kinderrechte im Grundgesetz.
      4. Darüber hinaus aber breit vermittelte Vorgaben, wie ein guter Umgang von Eltern mit Kindern auszusehen hat.
    3. Verhaltensvereinbarungen nützen nichts ohne Beschwerdeinstanzen und Verfahrenswege.
      1. Die Funktion einer Unabhängigen Beschwerdeinstanz, hat derzeit das Jugendamt. Wenn das so bleiben soll muss sich was ändern: Die Arbeit muss niedrigschwelliger und bekannter werden. Da geht es um mit Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten ausgestattete Kindernotdienste. Und diese Einrichtungen müssen endlich adäquat ausgestattet werden.
        (Sorgentelefone zum nur mal quatschen mit ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen, die real nichts können, sind keine Beschwerdeinstanz, sondern ein Kummerkasten, der nie geleert und gelesen wird.)
      2. Die Verfahrenswege müssen immer wieder überprüft und verbessert werden. Sprich, die Arbeit des Jugendamtes muss evaluiert werden.

Ich glaube die Richtung ist klar geworden:

  • Das Eigeninteresse der Gesellschaft entwickeln und gleichzeitig
  • Schutzkonzepte vorantreiben durch
    • Unterstützung von Eltern + Verbesserte Kontrolle von Eltern
    • Stärkung der Position der Kinder
    • Früherem Eingreifen des Umfeldes und der Behörden
    • Ausbau von Kindernotdiensten mit Befugnissen.

Aufarbeitung / Erwachsene Betroffene

Aufarbeitung hat ja immer zwei Dimensionen, die Aufarbeitung des Einzelfalls und die Aufarbeitung des Versagens der “Institution“.

Gesellschaftliche Aufarbeitung

Hier fängt die Auseinandersetzung gerade erst an: In der Studie der Frankfurter*innen ist eine Richtung vorgegeben. Das muss konkretisiert werden. Aber bitte nicht nur in Studien, sondern in einer gesellschaftlichen Diskussion: Veranstaltungen, gehören dazu genauso wie Bücher, Filme usw. und eben auch Studien. Vor allem solche, die mehr sind, als ein „Geschichten erzählen“. Bitte nicht missverstehen: Geschichten erzählen ist wichtig, das will ich nicht abwerten, aber Aufarbeitung bedeutet der Frage nach den Ursachen nachgehen und zwar nicht nur den individuellen, sondern den strukturellen, den geistigen oder ideologischen, den wirtschaftlichen, usw. Über sexualisierte Gewalt in Familien zu sprechen ohne über das Patriarchat zu sprechen ist dasselbe, wie über eine Krankheit zu sprechen und sich auf die individuelle äußerlichen Symptome zu beschränken. Hier gibt es also noch viel zu tun und hier brauchten wir dringend eine strategische Planung. Und in die gehört dann auch hinein, dass es eine starke Vertretung von Betroffenen braucht. Organisierung also.

Fallbezogene Aufarbeitung 1: Betroffene

Einfacher ist es den Aspekt individuelle Aufarbeitung zu betrachten. Ich will hier aber nicht auf die persönliche Arbeit in Selbsthilfe oder Therapie eingehen – das würde ich eher als Bearbeitung bezeichnen. Aufarbeitung meint wie gesagt, Hintergründe aufzuschlüsseln und nicht Folgen zu bewältigen. Das geht ineinander über, aber sind zwei verschiedene Dinge. Das kommt in meinen Augen bisher zu kurz, vor allem in der therapeutischen Arbeit. Für eine Aufarbeitung, also für ein Verstehen der hinter der Tat liegenden Ursachen und Handlungsgründe, müssen wir als Betroffenen viel stärker eigene Methoden entwickeln. Das hilft es nicht Mythen aus der Täterarbeit unreflektiert zu übernehmen und wir können das auch nicht auf die Fachberatungsstelle abschieben, nach dem Motto, die sollen das tun, was die Therapeut*innen nicht tun. Wir selber müssen – natürlich mit der Unterstützung, die wir brauchen können – Wege finden, wie so etwas aussehen kann. Und da gibt es in der Selbsthilfe ja durchaus schon Ansätze.

Fallbezogene Aufarbeitung 2: Familie

Es gibt zudem einen Aspekt von Aufarbeitung der bisher gar nicht betrachtet wird: Die Aufarbeitung in Familien. Wie arbeitet diejenigen Mitglieder einer Familie, die nicht unmittelbar an der Ausübung der Tat beteiligt gewesen sind sexualisierte Gewalt auf? Wie konnte es zur sexualisierten Gewalt kommen und was sind die eventuell vorhandenen eigenen Anteile? Wo sind die blinden Flecken gewesen und was waren die eigenen Fehler? Wo ist die eigene Verantwortung für das Versagen als Familie?

Und das alles ohne dass die Betroffenen die Arbeit machen müssen, wie es der Normalfall ist. Am besten wäre ja, wenn der Aufarbeitungsprozess so organisiert wäre, dass Betroffene selber frei entscheiden können, ob und wie sie daran teilnehmen wollen.

Hierfür brauchen Familien Unterstützung, wie auch Institutionen: Sie braucht familiäre Aufarbeitungsberatung. Bisher ist diese Herangehensweise absolut unterentwickelt, bei uns kommen maximal Anfragen von Einzelpersonen aus Familien, nie von den ganzen Familien. Und ich vermute in den Erziehungs- und Familienberatungen (EFB) gibt es solche Anfragen auch nicht. Es müssen dringend Methoden und Anforderungen entwickelt werden, es müssen Personen dementsprechend ausgebildet werden. Es geht um die Etablierung eines neuen Berufsfeldes, der familiären Aufarbeitungsberatung, an der Schnittstelle zwischen EFB und spezialisierten Fachberatungsstellen.

Und auch hier gilt, was ich zur Aufarbeitung von Betroffenen gesagt habe: Die Bearbeitung eigener Verletzungen und Enttäuschungen ist zu trennen von der Aufarbeitung und einer Übernahme von Verantwortung für das eigene Versagen.

Und ich will noch eins ergänzen: Die ökonomischen Verflechtungen zwischen Kindern und ihren Eltern müssen nach sexualisierter Gewalt gekappt werden können. Egal ob es sich um Hartz IV, um BaFöG oder Pflege handelt– wir brauchen ein Scheidungsrecht für Kinder von Eltern, die sexualisierte Gewalt ausüben. Das ist einfach überfällig, dazu haben wir schon konkrete Vorschläge der Umsetzung entwickelt.

Also zusammengefasst:

  • Eine gesellschaftliche Aufarbeitung, die sich mit dem Konstrukt Familie und wie es sexualisierte Gewalt begünstigt beschäftigt,
  • die persönliche Aufarbeitung der Betroffenen – in Angrenzung zur Bearbeitung der Folgen der sexualisierten Gewalt, die auf die konkrete Frage nach dem warum und wieso zielt,
  • und die Aufarbeitung der nicht tatausübenden Teile der Familie, die sich darauf richtet zu verstehen, warum es zur sexualisierten Gewalt gekommen ist und was eventuell die eigenen Anteile daran waren

Das sind drei Bausteine einer Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in Familien.

In meinem Dokumentarfilm „POSTCARD TO DADDY“ habe ich mit meiner Familie die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch meinen Vater transparent gemacht und über den eigenen Heilungsprozess hinaus anderen Betroffenen Mut gemacht, über das Unaussprechliche zu sprechen.

Was aber tun, wenn die Angehörigen verdrängen, verleugnen oder selbst betroffen sind? Was tun, um sexualisierte Gewalt im familiären Kontext zu verhindern? Um die Zeichen zu erkennen und Gewalt im Keim zu ersticken, braucht es eine Kultur des Zuhörens, der Einmischung und Durchsetzung von Kinderrechten. Dazu gehört auch der Mut und die Verantwortung von Eltern für pädagogische Schulung, ein professionelles und mit genügend Etat ausgestattetes Beratungsnetzwerk, die Unterstützung von Betroffenen, die stellvertretend von der Gesellschaft gehört werden sowie eine Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, ihre Ergebnisse zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Familien möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.

In dem Maße, wie unser eigenes Verhalten in Punkto Klimaschutz keine Privatsache mehr ist, sollten Kinderschutz, das Recht auf ein gewaltfreies Zuhause, Bildungsgleichheit, körperliche und seelische Gesundheit sowie auch Liebe die Zukunft unserer Kinder sein.

 

Familie ist die kleinste emotionale Institution mit eigenem Kosmos.

Rechtlich besonders geschützt, werden Familien weitgehend allgemein als sicherer Ort für Kinder gedeutet. Kinder werden im besten Fall in ihren Familien begleitet, zu lernen es selbst zu tun, sie dürfen eigene Gedanken entdecken und ihre individuelle Persönlichkeit entwickeln. 

Doch es gibt auch die Familien, die für Kinder eine Gefahr darstellen. Scheinbar im verborgen wird Familie für Kinder ein Tatort. Ein Tatort, in dem sexualisiertes Tatgeschehen, Kindern die Privatsphäre raubt, ihre intime Verletzlichkeit schädigt, sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung angreift und Identitätsentwicklung behindert. Signale, die Kinder aussenden, werden auch heute noch vielfach fehlgedeutet, übersehen oder zu wenig ernstgenommen. Selbst wenn Kinder ihr Verhalten verändern und altersunangemessene Auffälligkeiten zeigen. Es dauert in vielen Fällen noch viel zu lange bis die Umgebung, auch professionell, darauf reagiert. Trotz Prävention und der heute besseren Möglichkeit sich spezialisiert, anonymisiert und niedrigschwellig beraten zu lassen.

Obwohl bekannt ist, dass betroffene Kinder jeder Altersstufe es in der Regel nicht alleine schaffen, sich aus dem Tatgeschehen in Familie zu befreien.

Die Notwendigkeit des sich Einmischens muss gezielt durch Aufklärung an Erwachsene vermittelt werden. Damit Erwachsene in jeder Umgebung sich in der Pflicht sehen, Kinder, denen es in der Familie nicht gut geht, gezielt zu unterstützen. Kinderschutz muss auch die kulturelle, religiöse, strukturelle Gepflogenheit in Familien verstehen, genauso wie die individuellen gesetzten Haltungen. Denn strukturelle Gegebenheiten können Rechte von Kindern befördern oder behindern. Strömungen und Haltungen in der Gesellschaft bleiben dabei nicht außen vor, wenn es darum geht, Schutzkonzepte für und in Familien zu etablieren.

Dass wir derzeit über Schutzkonzepte in Familien sprechen ist längst überfällig. Die Fallstudie Familie verdeutlicht, das sexualisiertes Tatgeschehen in Familien keine Privatsache ist, uns alle angeht. Schon deshalb muss Politik und Gesellschaft sich endlich konsequenter verpflichten, geforderte Ressourcen zur Verfügung zu stellen.  

Dazu gehört Bildungs-Leitlinien überall national zu verankern. Damit sich Kinderrechte und Kinderschutz, als Wissenskultur weit in der Bevölkerung verbreiten und wirken. Gleichzeitig braucht es genügend und gut vorbereitete Fachpersonen in verschiedenen Bereichen. Ein wichtiger Punkt wird sein, Solidaritätsgefüge zu erschaffen, die auch von heilen Familien gerne getragen und angenommen werden.

Es wird Zeit, Schutzkonzepte in Familie zu etablieren, sodass sie als natürlicher Teil des Kinderschutzes verstanden werden und gewollt sind.  So werden sie zu einem Medium, das Erwachsene befähigt, Gefahren für Kinder zu erkennen und sich einzumischen. Damit zukünftig kein Kind mehr alleine bleibt.

Aufarbeitung im Tatkontext Familie ist unverzichtbar.

Vor allem weil die heute Erwachsenen wissen wie es war, welche strukturellen Bedingungen in den Familien, und auch in Gesellschaft, dazu geführt haben, dass viele keine Hilfe erhalten haben. Aufarbeitung im Tatkontext Familie ist untrennbar verbunden mit gelingendem Kinderschutz heute und für die Zukunft.

Gleichzeitig erlebe ich in meinem Engagement auch Konsequenzen aus dem eigenen Leben, im danach: Welche weitreichenden, oft langwierigen sekundären Folgen, aus sexualisiertem Tatgeschehen, in die Lebenswelten von Betroffenen Einzug finden. In ihren Berichten schildern Betroffene im Rahmen anonymisierter Selbsthilfe, und auch außerhalb, was sie noch oder wieder umtreibt.

So erzählen sie, wie wenig sich andere im Tatumfeld für ihren Schutz eingesetzt haben. Trotz des Wissens was in der Familie vorgeht. Es gibt Fälle, in denen eine große Umgebung wusste was dem Kind angetan wird. Andere wiederum versuchten sich auch zu befreien, gingen früh aus der Familie oder zeigten Tatpersonen an. Doch fehlender Schutz vor manipulierenden Angehörigen, oder dem Umfeld, führte in mehreren mir bekannten Fällen dazu, dass es nicht zum Strafverfahren kam.

Aufarbeitung stellt ganz klar einen Bezug zur gesellschaftlichen, politischen Verantwortung her. Denn durch die Erzählungen vieler wird nochmals deutlich, dass auch gesellschaftliche Strömungen und Haltungen im Zeitgeschehen, fehlender Kinderschutz und strukturelle Tabuisierung mit verantwortlich dafür sind, dass es für viele keine Hilfen gab. Angetanes Leid wurde über einen langen Zeitraum geduldet. Genau deshalb ist Politik und Gesellschaft in der Pflicht, geschehenes Unrecht anzuerkennen, zu lindern. Dafür braucht es Strukturen, die bedarfsgerecht, betroffenensensibel, teilhabsichernd und aufarbeitend gestaltet sind.

Außerdem besteht bei vielen ein großer Wunsch nach Aufarbeitung in die Herkunftsfamilie hinein. Das braucht spezialisierte Angebote, die auslösend und begleitend wirken. Strukturen, die hilfreich und kommunikativ das Geschehene erfassen, damit im besten Fall bestehende dysfunktionale Familienstrukturen von Angehörigen erkannt, verstanden und verändert werden. Denn in vielen Familiensystemen sind Tatpersonen meist weiter integriert. Während Betroffene in ihrem Wunsch nach erhellendem Sprechen oft keinen Rückhalt aus Familie bekommen.

Aufarbeitung in Familien beleuchtet ganzheitlich Zusammenhänge, die bisher immer wieder zurückgestellt wurden. So erleben etliche in der Familie Betroffene im Danach, dass sie trotz hoher Kompetenzen, in manchen Teilen ihres Lebens eingeschränkt sind. Viele sprechen darüber, dass ihnen enge vertrauliche Bindungen zu anderen schwerfallen. Manche bleiben bewusst kinderlos – aus Angst etwas weiter zu geben. Andere wiederum erleben sich in ihrer Elternschaft mitunter merkwürdig, auch dann, wenn sie ihren Kindern gute Eltern sein wollen.  Die Fähigkeit einer Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Fehlbarkeiten aus der Vergangenheit umgeht, im jetzt und für die Zukunft.

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Teilnehmer:innen der Diskurswerkstatt über den Tatort Familie
Dauer: 8:52

Schriftliche Dokumentation der Diskurswerkstatt

Die Dokumentation fasst wesentliche Gedanken und Diskussionsstränge, Ideen, Vorschläge und Forderungen zusammen. Auf dieser Grundlage werden die Mitglieder des Betroffenenrates ihre Auseinandersetzung und ihr Engagement zum Tatort Familie fortführen.

Positionspapier „Tatort Familie“ März 2021

In seinem Positionspapier hat der Betroffenenrat umfassend formuliert, dass eine Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt in der Familie eine zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.

„Der Tatort Familie muss endlich in den Blick genommen werden. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens zu überwinden und ein Ethos der Einmischung zu entwickeln.

Wir wissen, wie es war und ist, wenn niemand hinsieht, in welcher Not Kinder und Jugendliche in ihren eigenen Familien sind. Aktive Vertuschung, Wegsehen und Ignoranz werden in Familien aufrechterhalten und konfrontieren Betroffene oft ein Leben lang mit Ohnmachtssituationen und Verletzungen. Das Recht auf Schutz vor Gewalt ist ein Menschenrecht – kein Kind kann sich alleine schützen.

Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit muss dem Ausmaß der Kindeswohlgefährdung durch sexualisierte Gewalt in der Familie entsprechen. Wir werden uns dieser Diskussion stellen. Wir schweigen nicht. Wir sprechen auch noch, wenn die Gesellschaft schon wieder den Mantel des Schweigens ausbreiten will.“

Statements

Die Mitglieder des Betroffenenrates verstärken regelmäßig auf unseren Social-Media-Kanälen mit Nachdruck Forderungen zum gemeinsamen Handeln gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Eine Auswahl von Zitaten zum Thema Familie finden Sie hier.

Familie und sexuelle Gewalt an Feiertagen

Dezember 2020 bis Januar 2021

Für viele Familien ist Weihnachten das schönste Fest im Jahr. Für viele Kinder und Jugendliche ist es jedoch genau das Gegenteil. Ihre Familie ist für sie weder ein sicherer noch ein heiler Ort. Die Mitglieder des Betroffenenrates machen zum Weihnachtsfest auf familiären Missbrauch aufmerksam und weisen auf Hilfeangebote für Betroffene hin.

„Und dann wird es still und man hat endlich Zeit für einander ... Nutzen Sie die Zeit, um den Kindern in Ihrer Nähe zuzuhören, was bewegt sie, worüber sie nachdenken – und nehmen Sie sich vor, dass Sie offen sind für alles, was da ist. Auch wenn es schwierig sein könnte, Sie sind nicht allein. Holen Sie sich bei allen Fragen Hilfe und Unterstützung.“

„Nonstop im Überlebensmodus, ohne Chance auf Entspannung. Betroffene Kinder leisten Höchstarbeit während der Feiertage. Wer fängt sie im Januar auf, wenn sie psychisch völlig erschöpft wieder in Kita und Schule kommen?“

„‚Unsichtbare‘ Taten? Angehörige und Außenstehende haben oft eine Vermutung, wollen aber nicht überreagieren und Eltern der Kindeswohlgefährdung beschuldigen. Hole dir Hilfe und Unterstützung von Experten!“

„Ich habe als Kind und Jugendlicher Weihnachten mehr überlebt als erlebt – das wünsche ich keinem Kind. Für mich ist Weihnachten bis heute ein Fest der Missachtung meiner Person. Seht und hört eure Kinder wirklich!“

„Freund:innen: Denkt an euch! Telefoniert, schreibt euch! Familien: Hört zu und GLAUBT! Betroffene: Ihr seid niemals schuld! Gesellschaft: Sexualisierte Gewalt findet jederzeit und überall statt. Seid Schutzgebende und tragt Verantwortung.“

„Schon vor den Feiertagen kannst du überlegen, bei welchen Nachbarn du klingeln willst: Wenn Papa wieder ausrastet. Wenn der Onkel dich antatscht. Wenn die Mama schreit vor Angst. Wenn der Bruder von seinen Kumpels besucht wird ... Trau dich!“

„Stille Nacht, heilige Nacht ist für Kinder oft auch grauenvolle Nacht. Das darf nicht sein; schreiten Sie ein. Kein Raum für Missbrauch.“

„Oft ist an Weihnachten die Welt für Kinder alles andere als heil. Gewalt – in welcher Form auch immer – macht auch an diesen Tagen keine Pause. Seien Sie aufmerksam, bieten Sie Hilfe an, holen Sie welche: 0800 225 55 30.“

Im Rahmen einer Pressemitteilung möchte der Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) an die Kinder und Jugendlichen erinnern, für die die Weihnachtsferien gerade auch in Pandemiezeiten Isolation, Einsamkeit, Ohnmacht, Angst und Gewalt bedeuten. Der Betroffenenrat appelliert an die Gesellschaft, hinzusehen und sich einzumischen, wenn Kinder in Not sind. Die Pressemitteilung steht Ihnen unten zum Download zur Verfügung.

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Webanalyse / Datenerfassung

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