PODCAST | Folge 19 | Ilvi Kristin Koopmann

„Ich bin 1,2,3 - ganz viele.”

Ilvi Kristin Koopmann hat eine sogenannte „dissoziative Identitätsstörung“. Laut Wikipedia ist das “eine seltene chronische psychische Störung, bei der verschiedene Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen.“ Das klingt schön nüchtern, tatsächlich ist es sehr heftig und extrem kraftraubend, damit zu leben, sagt Ilvi. Sie fühle sich manchmal wie ein Zombie, der durch die Gegend läuft und nicht weiß, was er tut. In dieser Folge gibt es explizite Schilderungen sexueller Gewalt. Wenn es euch damit nicht gut geht, hört sie besser nicht. Weiter unten findet ihr Hilfsangebote, an die ihr euch wenden könnt.




Wenn Sie diesen bereitgestellten Inhalt aufrufen, kann es sein, dass der Anbieter Nutzungsdaten erfasst und in Serverprotokollen speichert. Auf Art und Umfang der übertragenen bzw. gespeicherten Daten hat die UBSKM keinen Einfluss. Weitere Informationen zu den von FeedPress erhobenen Daten, deren Speicherung und Nutzung finden Sie in der Datenschutzerklärung des Anbieters.

Folge hier anhören

Das Interview der Folge 19 als Transkript lesen

Ilvi Kristin Koopmann [00:00:00] Wenn die Erinnerungen hochkommen, ist das natürlich das Schlimmste, was dir passieren kann, weil du erlebst den Missbrauch noch mal. Es ist nicht so, dass ich mich daran erinnere, sondern ich erlebe das dann noch mal!. Dir tut wirklich alles genauso weh wie damals. Und es ist nicht so, dass ich sagen kann, ich weiß noch, wie das damals war, sondern ich fühle das dann.

Nadia Kailouli [00:00:19] Hallo, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über sexuelle Gewalt. Ich bin Nadia Kailouli und hier spreche ich mit Kinderschutz-Expertinnen und -Experten, mit Menschen, die sich gegen sexuelle Belästigung wehren und sexuell missbraucht wurden und jetzt anderen Mut machen. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte: Wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei, damit sich was ändert.

Nadia Kailouli [00:00:51] Ich habe mich heute mit Ilvi Kristin Koopmann unterhalten und das war wirklich erstaunlich. Denn bei Ilvi wurde vor ein paar Jahren eine sogenannte Dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert. Laut Wikipedia ist das, ich zitiere das mal, eine seltene chronische psychische Störung, bei der verschiedene Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen. Das klingt jetzt schön nüchtern. Tatsächlich ist es sehr heftig und extrem kraftraubend, wie mir Ilvi erzählt hat. Sie fühlt sich manchmal wie ein Zombie, sagt sie, der durch die Gegend läuft und nicht weiß, was er tut. Ilvi kauft sich da zum Beispiel Badeanzüge in Größe 34, obwohl sie die heute mit Mitte 50 gar nicht tragen kann, weil eine ihrer ungefähr 50 Persönlichkeiten ein junges Mädchen ist und diesen Badeanzug wollte. Ausgelöst wird eine sogenannte DIS durch extrem traumatische Erfahrungen. Bei Ilvi war das schwerer sexueller Missbrauch in ihrer Kindheit und Jugend. Ilvi Kristin Koopmann ist heute hier. Herzlich willkommen bei einbiszwei.

Ilvi Kristin Koopmann [00:01:48] Dankeschön!

Nadia Kailouli [00:01:49] Und ich mache das gleich mal ganz transparent, warum du heute hier bist. Du kanntest nämlich unseren Podcast, hast den gehört und hast uns dann geschrieben.

Ilvi Kristin Koopmann [00:01:57] Genau.

Nadia Kailouli [00:01:58] Und erst mal vielen Dank dafür. Wir freuen uns immer über Zusendungen. Aber wir haben ja dann als oder als meine Kolleginnen und Kollegen mit dir geschrieben haben, habt ihr festgestellt, okay, übrigens, das ist nicht nur einfach eine Zuschauerpost, sage ich mal, sondern da steckt noch viel mehr dahinter. Wir wollen mit dir heute über dich ganz persönlich sprechen, denn ich weiß gar nicht, ob ich das so sagen soll, bei dir wurde vor Jahren etwas diagnostiziert, was ja irgendwie auch Thema bei einbiszwei ist. Möchtest du es vielleicht einfach selber sagen, was das ist?

Ilvi Kristin Koopmann [00:02:31] Ja, das kann ich sagen. Ich habe vor knapp sechs Jahren die Diagnose Dissoziative Identitätsstörung bekommen. Das hieß früher multiple Persönlichkeit.

Nadia Kailouli [00:02:42] Okay, aber können wir das damit übersetzen, damit man besser versteht, was es ist? Weil ich hatte das auch tatsächlich so noch gar nicht gehört. In den letzten Jahren gab es immer mal wieder Berichterstattung darüber, aber eben wenig. Würdest du das Laien dann genauso erklären, das ist eine multiple Persönlichkeitsstörung?

Ilvi Kristin Koopmann [00:03:01] Das ist für die einfacher zu verstehen. Ja, obwohl, also es ist immer noch schwer zu verstehen, aber multiple Persönlichkeiten sind hin und wieder aus irgendwelchen Filmen ein Begriff. Also da kann man sich eher was vorstellen, als wenn man sagt, ja, ich habe eine Dissoziative Identitätsstörung, wird auch im Allgemeinen mit DIS abgekürzt und insofern wird sowieso grundsätzlich erst mal fragend geguckt: Was hast du? Wie sieht man das oder so?

Nadia Kailouli [00:03:33] Bevor wir darüber sprechen, wie andere damit besser umgehen können, würde ich lieber bei dir anfangen, weil wie war das denn für dich, als du diese Diagnose bekommen hast?

Ilvi Kristin Koopmann [00:03:46] Das war heftig. Einfach heftig. Ich habe mich zu dem Zeitpunkt auf einer Traumastation befunden und hatte den, also ich wusste immer, dass mir in meiner Kindheit ein Onkel etwas angetan hat, aber ich wusste nicht genau, was das war und habe das immer so mit mir geschleppt und war mir aber dessen auch nicht so ganz bewusst und bin dann irgendwann auf der Traumastation gelandet, habe da versucht, meine Vergangenheit zu bearbeiten und dann sind halt ganz viele Dinge so zusammengekommen und irgendwann hieß es ja, okay, es ist doch diese Diagnose. Und dann ist erst mal irgendwie ganz viel zusammengebrochen. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass es ganz viel erklärt hat. Dass ich endlich wusste, warum ich bin, wie ich bin. Und das hat es ein bisschen einfacher gemacht eigentlich.

Nadia Kailouli [00:04:51] Damit wir, weil das ist natürlich total, schwierig, will ich nicht sagen, sondern es ist natürlich ein bisschen komplexer, das zu verstehen. Sowohl für dich, das wollen wir erfahren, wie es war, aber natürlich auch für diejenigen, die uns jetzt zuhören, zu verstehen: Moment mal, wo wo sind wir gerade? Vielleicht fangen wir damit an, als auf dieser Traumastation warst. Wie alt warst du und wie bist du überhaupt dort hingekommen?

Ilvi Kristin Koopmann [00:05:14] Ich war genau 50 Jahre alt und ein paar Tage. Und an meinem 50. Geburtstag gab es ein Ereignis sozusagen. Ein Satz meines Vaters, der da hieß: Kannst du dich an deine Kindheit erinnern? Der was ganz anderes fragen wollte, aber dieser Satz ist bei mir hängengeblieben und hat im Grunde genommen so Tor und Hof geöffnet für alles, was dann hervorgekommen ist, was mir in meiner Kindheit passiert ist. Und es geht da um sexuellen Missbrauch in organisierter Form, auch in ritueller Form. Aber da bin ich noch gar nicht so weit mit der Aufarbeitung, das weiß ich alles noch gar nicht so genau. Und mein Körper hat halt einfach dann gestreikt, weil ich versucht habe, das wieder, wie ich das jahrelang getan habe, zu ignorieren. Und dann bin ich mit einem Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Und nachdem alles darauf hingewiesen hat, dass es kein Schlaganfall ist, sondern die Psyche, bin ich dann auf die Traumastation gekommen, weil die Ärzte erkannt haben, da muss ziemlich tief irgendwo was drinsitzen.

Nadia Kailouli [00:06:27] Möchtest du uns erzählen, wie dann dieser Prozess war auf dieser Traumastation, dass man dann eben am Ende dich entlassen hat mit einer Diagnose?

Ilvi Kristin Koopmann [00:06:37] Das kann ich gerne erzählen. Das wird in vielen Gesprächen, in therapeutischen Gesprächen, in Gruppengesprächen, in Einzelgesprächen wird sich da vorgearbeitet. Also in erster Linie dann in Einzeltherapie natürlich. Und man arbeitet sich quasi wirklich so Schritt für Schritt, arbeitet man sich da vor. Dann ist es so, wenn man, also bei mir war, so, wenn man diesen Punkt hat, dass man dann zurückgeht quasi und anfängt sich zu erinnern, bzw. mir sind diese Erinnerungen halt eben einfach von alleine dann gekommen.

Nadia Kailouli [00:07:19] Und diese Erinnerungen, die dir klar gemacht haben, als ich ein Kind war, ist das und das passiert und wir benennen es, sexueller Missbrauch passiert. Und erst im Alter von 50, aufgrund dieser Einlieferung ins Krankenhaus und auf dieser Traumastation wurdest du das erste Mal bewusst, will ich jetzt mal sagen, damit konfrontiert. Du wurdest aber anscheinend ja lange unbewusst damit konfrontiert. Und da kommen wir direkt mal zu deiner Diagnose, zu der Dissoziativen Identitätsstörung. Wie hat sich das da gezeigt?

Ilvi Kristin Koopmann [00:07:53] Also für mich gar nicht so offensichtlich, weil ich war halt immer so, wie ich war. Für mir nahestehende Personen schon so, dass ich wechselnde Persönlichkeiten ja quasi habe. Und das hat sich gezeigt indem man halt gedacht hat, ich bin sehr launisch, ich bin sehr aufbrausend, ich bin sehr liebevoll, ich bin sehr witzig, ich bin uncool. Also ich spiegel halt alles, ganz viele Sachen wieder, was bei anderen eben als eine Laune abgetan wird, ist aber bei mir keine Laune, sondern das ist das Empfinden einer Persönlichkeit, die ich in mir trage und die sich dann äußert, die sich bemerkbar macht, die sich zeigt.

Nadia Kailouli [00:08:47] Bis zu den Beschreibungen deiner Launen, deines Empfindens, haben wahrscheinlich viele jetzt gedacht, ja, mach ich doch auch, also bin ich doch auch. Viele finden sich da so wieder. Wer ist schon jeden Tag gleich?

Ilvi Kristin Koopmann [00:08:58] Ganz genau.

Nadia Kailouli [00:08:59] Diese verschiedenen Persönlichkeiten würde ich jetzt gar nicht so als die Störung definieren, sondern einfach als einen Charakter eines jeden Menschen. Aber wann hast du begriffen oder wann wurde in deinem Umfeld klar, Moment mal, das ist mehr als eine Laune, das ist mehr als einfach nur meine Stimmungsschwankungen?

Ilvi Kristin Koopmann [00:09:17] Das ging dann, also das war auch schon immer da, ich habe es nur nicht registriert. Ich habe ganz viele Sachen gemacht, von denen ich nichts mehr wusste. Ich habe Sachen besprochen mit meinen Kindern, von denen ich nichts mehr wusste, wo es dann hieß: Das hast du mir erlaubt. Und ich hab gesagt: Nee. Und das finde ich jetzt auch doof, dass du das mir jetzt nur, damit du deine Sache hier dann doch machen darfst, so. Ich habe Sachen gekauft, von denen ich nichts wusste. Also ich habe Sachen in meinem Schrank gefunden und habe gedacht, wie kommt das denn hier her? Wer kauft denn so was? Ist ja hässlich. Da fängst du schon an zu überlegen und denkst, hä, was hab ich denn jetzt wieder getan? Ich habe Gespräche geführt und konnte mich, wenn mich dann das Gegenüber in einer anderen Situation angesprochen hat, wusste ich überhaupt nichts von dem Gespräch. Ich habe an Konferenzen teilgenommen, sage ich mal, und vier Wochen später musste ich das Protokoll schreiben. Ich habe vier Wochen lang nichts, gar nicht mich mit diesem Thema beschäftigt, sondern habe mich eine Stunde vorher hingesetzt und Wort-für-Wort-Protokoll schreiben können, als wenn es gerade eben erst erledigt war. Und ich habe halt immer gedacht, naja, ich bin halt so. Ich bin halt ein bisschen verpeilt, ein bisschen verplant. Ich habe sehr viel gemacht, ich habe sehr viel getan, um das nicht erkennen, also um vor meinen Problemen davonzulaufen, sozusagen, damit ich gar nicht erst bemerke, dass ich also falsch in Anführungszeichen bin. Und meiner Familie ist es halt aufgefallen. Aber für meine Kinder war das auch so, die haben mich was gefragt, wenn ich am Herd stand, dann haben sie gefragt, kann ich das und das machen? Haben Sie keine Antwort gekriegt. Erst wenn Sie schon fast in Ihrem Zimmer waren, habe ich gedacht, was wolltest du jetzt hier noch mal? Und fühlten sich halt dann oft so von mir auch so ein bisschen verarscht, wenn man das mal so sagen darf. Und eben dieses, ich habe Zusagen gegeben, von wegen ja, kannst du hin, ist in Ordnung, machen wir so. Und dann: Wo willst du denn hin? Nein, du bleibst zu Hause.

Nadia Kailouli [00:11:24] Wie ist es für dich, wenn du jetzt darüber sprichst? Mit dem Wissen, dass es diagnostiziert ist, dass es eben, wir kürzen ab, DIS ist?

Ilvi Kristin Koopmann [00:11:32] Schlimm. Also, es ist so, dass ich denke, dass ich, ja. Manchmal ist es so, du fühlst dich wie ein Zombie, du läufst durch die Gegend und weiß gar nicht, was du so alles gemacht hast. Dann erzählen dir Leute, du bist dagewesen, und du denkst, ne, war ich doch gar nicht. Oder du hast das gemacht, und du denkst, nein, habe ich nicht. Ich muss mich ständig hinterfragen. Habe ich das gemacht? War das so?

Nadia Kailouli [00:12:01] Ja.

Ilvi Kristin Koopmann [00:12:03] Es ist sehr schwierig.

Nadia Kailouli [00:12:05] Ich stelle dir hier ja ungefiltert Fragen.

Ilvi Kristin Koopmann [00:12:07] Sehr gerne.

Nadia Kailouli [00:12:08] Und du sagst einfach, wo die Grenzen sind. Weil ich natürlich auch denke so, Moment mal, aber wenn das doch alles deine Persönlichkeiten waren, war das dann nicht für diese Persönlichkeit, dann rückblickend okay, dass sie sich so verhalten hat?

Ilvi Kristin Koopmann [00:12:24] Für die Persönlichkeit ja. Und das ist das, was ich akzeptieren muss, dass auch wenn mir die jetzt hier sitzt und das erzählt, auch wenn mir das nicht gefällt. Für die Persönlichkeit war das in dem Moment wichtig, sich den Badeanzug in Größe 34 zu kaufen, weil die Persönlichkeit denkt, sie ist noch 16 und hat noch diese Größe. Ich trag keine 34 mehr. So, was soll ich denn jetzt tun? Soll ich den jetzt wegschmeißen? Dann hat die Persönlichkeit wieder ein Problem. Also jetzt, wo ich weiß, was das ist. Und warum muss ich jetzt losgehen und ich sage, naja gut, eine Barbiepuppe kaufe ich nicht, aber es gibt halt so ganz viele Sachen, dann weiß ich, es musste für diese Persönlichkeit jetzt gerade sein.

Nadia Kailouli [00:13:10] Das heißt jetzt, im Nachhinein seit fünf, sechs Jahren?

Ilvi Kristin Koopmann [00:13:11] Im Nachhinein, genau. Ich sag mal so, seit drei Jahren ist das alles so, dass das mir das, ja, dass sich das alles erklärt. Und ich das begreifen kann.

Nadia Kailouli [00:13:23] Gehen wir noch mal so ein bisschen in die Praxis dahingehend, wie das diagnostiziert worden ist. Wie diagnostiziert man das denn? Also macht man Tests, hat man Therapie, Gespräche, holt man die Familie hinzu und fragt die ab wann war sie wie, wo, was? Oder wie kann ich mir vorstellen, dass dann ein Therapeut sagt, okay, Frau Koopmann, das haben wir jetzt herausgefunden, das haben sie?

Ilvi Kristin Koopmann [00:13:48] Also es werden ganz viele medizinische Untersuchungen natürlich auch erst mal gemacht, um irgendwas am Kopf auszuschließen. Ich sage mal ganz böse, es könnte auch ein Gehirntumor sein. Das wird gemacht. Dann werden ganz viele Tests veranstaltet, du wirst ganz viel abgefragt. Haben Sie dies? Haben Sie das? Haben Sie jenes? Wie äußert sich das bei Ihnen so? Wie äußert sich das da? Dann wirst du auf so einer Traumastation natürlich auch immer sehr gut beobachtet vom gesamten Personal eigentlich, was man gar nicht so sehr merkt. Aber es wird halt schon geguckt, wie benimmt sie sich da, wie benimmt sie sich da? Und es finden ganz viele Therapien mit dem mit dem Psychologen, die Gespräche statt und die lenken, also was heißt sie lenken, das ist falsch, aber die bringen dich schon dazu, in deine Vergangenheit zu gehen und ja, und dann wird halt geguckt, passt das mit dem? Passt das mit dem? Warte mal, wenn man das hat, dann musst du diese Kriteriensymptome aufweisen. Und irgendwann kommst du dann zum Endergebnis, es ist nicht nur eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die die habe ich auch klar, sondern es geht darüber hinaus, weil eben die Dissoziationen halt ständig stattfinden und das kriegt man halt nur in sehr intensiven Aufenthalten raus, also bei mir hat es drei Monate gedauert, die ich da war. Und das kriegt man auch manchmal erst nach ganz, ganz vielen Jahren raus. Bei mir war halt einfach der Zeitpunkt, dass irgendjemand gesagt hat, jetzt reicht's, jetzt ist genug. Hier, Verdacht auf Schlaganfall, es reicht.

Nadia Kailouli [00:15:45] Und es war kein Schlaganfall.

Ilvi Kristin Koopmann [00:15:46] Es war keiner. Und es gibt Leute, die wissen es bis heute nicht, wo man das eigentlich sieht, man merkt es, man sieht es. Aber da ist die Diagnose noch nicht gestellt, weil die sich dann den Therapeuten eben gegenüber so verhalten.

Nadia Kailouli [00:16:03] Du bist verheiratet, hast vier Kinder, bist Mitte 50. Rückblickend aus der Sicht von heute war die Diagnose notwendig? War sie wichtig? Oder hättest du dir gewünscht, am liebsten hätte ich es gar nicht erfahren? Dann hätte ich einfach so weitergelebt wie die letzten 30, 40 Jahre.

Ilvi Kristin Koopmann [00:16:23] Tatsächlich gibt es Momente, wo ich wirklich heulend zusammenbreche und sage Ich wünschte, ich hätte das nie erfahren. Das verursacht aber, das ist wirklich ganz krass zu beschreiben, das ist so, als wenn in der Ecke da vorne ein paar Kinder sitzen, ein paar Jugendliche, ein paar Erwachsene. Und ich gucke sie an und sage, ich wünschte, es würde euch nie geben. Und das ist, das tut so weh, wenn du denen sagst, eigentlich will ich euch alle gar nicht haben. Manchmal wünsche ich mir das.

Nadia Kailouli [00:17:04] Weil diese alle irgendwo auch du bist.

Ilvi Kristin Koopmann [00:17:07] Genau das bin alles ich. Das ist mein kleines Ich, was da sitzt, das ist das ganz Kleine, das Mittlere, das Große. Und du sitzt da und sagst, eigentlich wünschte ich, dich hätte es nie gegeben. So. Das tut verdammt weh. Wenn ich aber eins gelernt habe, dann ist es zu überleben und da auch wieder rauszukommen. Und das habe ich ja inzwischen so weit geschafft, dass ich mir mein Leben neu und anders aufgebaut habe. Ich wünsch mir manchmal gerne in mein altes Leben zurück. Wirklich? Das war toll. Ich war glücklich. Ich war zufrieden. Ich hatte einen tollen Job. Tolle Familie. Die habe ich auch immer noch. Mein Leben war ausgefüllt. Es war. Es war gut. Und dann bleibt auf einmal außer Familie nichts mehr über. Ich kann nicht mehr Vollzeit, ich kann nicht mehr zurück in meinen Job. Das geht nicht mehr. Weil ich einfach die Belastung dann auf Dauer nicht ertrage.

Nadia Kailouli [00:18:04] Kannst du uns erklären, woran das liegt?

Ilvi Kristin Koopmann [00:18:10] Das ist so, dass wenn ich mich außerhalb meines Hauses sozusagen bewege, bin ich in einem, in einem Zustand, also in ständiger Alarmbereitschaft. Diese Persönlichkeit, die dann jetzt auch hier vor dir sitzt, die trägt die ganze Zeit die Umgebung. Aber was ist da, wer kommt da? Also, ich muss immer aufpassen. Das steckt in mir, dass dieses System in mir nicht entdeckt wird.

Nadia Kailouli [00:18:38] Also das ist halt eben diese, ich fühle mich so blöd zu sagen, Störung.

Ilvi Kristin Koopmann [00:18:44] Das ist eine Störung.

Nadia Kailouli [00:18:45] Ja, aber dann kannst du verstehen, dass man sich blöd fühlt, jemandem, der einem gegenüber sitzt, mit dem man ein ganz normales Gespräch führt, irgendwie das Wort Störung hinzuwerfen? Ich fühle mich damit nicht so wohl.

Ilvi Kristin Koopmann [00:18:54] Krankheit ist aber nicht richtig. Das habe ich lernen müssen. Ich bin nicht krank. Das habe ich mir lange so gedacht. Aber das wurde mir jetzt echt immer wieder gesagt. Ich bin nicht krank, sondern ich habe eine Störung. Und die habe ich nicht, weil ich etwas dafür kann, sondern die wurde mir, also dafür wurde gesorgt. Und witzigerweise sagt man das ja immer so, ach, du bist doch gestört. Da muss ich ja mal lachen und sagen, ja, ich habe es schriftlich. Also ich muss das einfach so hinnehmen. 

Nadia Kailouli [00:19:26] Also, es trifft dich nicht, wenn ich das so sage. Es ist einfach etwas, was schwarz auf weiß diagnostiziert worden ist, dass es eben eine Identitätsstörung ist, bei dir und du das eben jahrzehntelang nicht wusstest, es aber bemerkt worden ist. Du sagtest, ich hatte alles und du hast es ja noch, deine Familie, dein Halt und so, aber so vieles ist trotzdem zusammengebrochen. Wie zeigt sich das in deinem Leben? Weil man denkt sich natürlich so, ach, ist doch gut. Jetzt weiß sie, warum sie dann wenigstens manchmal so reagiert, manchmal so reagiert. Aber irgendwie ist es ja dann trotzdem irgendwie so ein Schlag in die Magengrube zu wissen, so okay, krass. Das habe ich also die letzten Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt.

Ilvi Kristin Koopmann [00:20:08] Also es zeigt sich so, dass ich sehr zurückgezogen bin, im Gegensatz zu vorher. Ich habe in der Öffentlichkeit gelebt sozusagen, mich kannte und mich kennt natürlich auch heute noch jeder, klar. Aber ich habe mich aus der ganzen Gesellschaft und aus dem sozialen Umfeld völlig zurückgezogen. Nicht nur, weil ich das getan habe, sondern auch, weil die Menschen sich zurückziehen. Weil, das ist auch eben der Punkt, wie gehst du mit jemandem um, der eine Störung hat? Da ist ganz viel Angst auf deren Seite und auch natürlich auf meiner Seite. Ich kann halt nicht mehr, also ich habe es versucht, aber es funktioniert halt nicht, ich kann nicht mehr dauerhaft konzentriert arbeiten. Beziehungsweise wenn ich das tue, breche ich dann danach am Ende zusammen. Das, was ich mache, mache ich immer mit 150 %. Aber das kostet Kraft. Es kostet richtig, richtig viel Kraft. Und dann sind es halt so Sachen, ich kann nicht mehr zu öffentlichen Veranstaltungen, ich gehe nicht in Menschenmassen, weil ich immer Angst habe, dass mir irgendetwas passiert. Also es ist nicht die Angst einer erwachsenen Frau, sondern es ist die Angst von Kindern, die quasi in mir dann sind.

Nadia Kailouli [00:21:30] Und wo du jetzt auch das Bewusstsein dafür hast, dass sie in dir sind.

Ilvi Kristin Koopmann [00:21:33] Dann weiß ich eben, ach, okay, gut, hier fühlt sich jetzt jemand gar nicht wohl. Bringt nichts, ich muss dann da wieder weg. Also, es gibt viele Dinge, die mein Mann dann eben, wo er sagt, wären wir gerne hingegangen, aber das ist für mich dann einfach nicht auszuhalten. Dann hat er teilweise, ist es dann so, weil wenn er dabei ist, dann passiert das sowieso öfters, dass er dann das Gefühl hat, er hat ein Kind an der Hand, was gerade völlige Panik hat und da raus muss. Das heißt, viele Dinge kann ich einfach nicht mehr machen. Es muss vorbereitet sein. Wenn ich solche Termine habe oder so, dann muss ich mich darauf vorbereiten. Dann muss ich vorher gucken: Wo ist das? Wer ist das? Ist das eine sichere Umgebung für mich? Das sind halt Sachen, die sich dann wirklich bemerkbar machen. Also ich habe einen Zaun ums Haus. Es ist alles abgeschlossen, sozusagen. Es ist nichts mehr offen und komm rein, fühl dich wohl.

Nadia Kailouli [00:22:36] Aber wie geht man damit um? Weil das kann ja, also ist es der Zustand, den du jetzt leben musst? Ist es ein Zustand, der jetzt da ist, um es anzugehen? Weil die letzten Jahrzehnte konntest du ja ohne Zaun um dein Haus leben. Zwar wusstest du nicht, warum du dich in manchen Situationen so und so verhalten hast, aber du bist damit freier umgegangen als jetzt, so scheint mir.

Ilvi Kristin Koopmann [00:23:00] Ich habe aber in den Jahren davor immer körperliche Krankheiten gehabt, die keine Erklärung, kein Arzt wusste, woher es kommt. Es war immer so, dass mein das ich quasi ausgebremst wurde und nie wurde eine richtige Ursache dafür gefunden. Das war ziemlich belastend für alle. Und wenn das so weitergegangen wäre. Also es ist wirklich so, als wenn der Körper gesagt hätte: So, die Alte hört jetzt hier mal wieder nicht auf. Ich war auch vorher schon, kurz bevor das passiert ist, war ich krank. Die will einfach nicht hören. Jetzt müssen wir hier mal zu harten Mitteln greifen. Die Frage wäre gewesen, also für mich hat sich die Frage gestellt, was passiert als nächstes, wenn ich jetzt mich nicht darum kümmere, was mit mir nicht stimmt? Und insofern, ich weiß jetzt, was mit mir nicht stimmt. Und ich kann an ganz vielen Tagen, lebe ich ein ganz tolles, normales, wunderbares Leben. Ich habe ganz viel zu lachen. Ich habe auch Spaß. Ich sitze nicht nur weinend in der Ecke. Ich habe, wie gesagt, mein Leben neu aufgebaut. Ich helfe ganz vielen anderen jetzt sich selber zu verstehen. Ich bin immer so, die Dinge sind da, okay, dann kümmern wir uns jetzt auch darum, dass es gelöst wird. Problem erkannt, Gefahr gebannt sozusagen. Ich habe keine andere Alternative.

Nadia Kailouli [00:24:26] Dazu müssen wir sagen, du bist jetzt kein Einzelfall. Es gibt ganz, ganz viele Menschen, die eben die Diagnose bekommen haben. Jetzt sage ich noch mal Dissoziative Identitätsstörung. Und die tritt dann häufig bei Menschen auf, die in ihrer Kindheit etwas Traumatisches erlebt haben, so wie du eben sexuelle Gewalt.

Ilvi Kristin Koopmann [00:24:45] Genau.

Nadia Kailouli [00:24:46] Das kommt jetzt also nicht von irgendwo her, da ist was passiert. Nur hat man eben Jahre oder wie bei dir zum Beispiel auch Jahrzehnte lang eben sich damit überhaupt gar nicht auseinandergesetzt. Und dadurch ist es halt eben zu dieser Identitätsstörung gekommen, die ja zum Glück, wie du sagst, heute eben diagnostiziert worden ist. Gibt es therapeutische Methoden oder Hilfen, die sagen okay, sie können, aber irgendwann wieder so leben, ich will nicht sagen wie davor, weil es war ja schon immer da, nur nicht diagnostiziert, aber so als wäre ein Heilungsprozess im Gange mit der Vergangenheit, ohne dass man diese multiplen Persönlichkeiten jetzt sage ich dieses Wort eben, hat.

Ilvi Kristin Koopmann [00:25:33] Also wenn du dir vorstellt, das Ganze ist wie so ein, wenn man das mit Karten macht, wenn man so ein Häuschen baut. Und das ist ja immer so ein bisschen wackelig die ganze Zeit und dann fällt das ganze Ding auf einmal fällt es zusammen. Und dann ist erst mal großes Chaos, weil alle Karten liegen da auf dem Tisch sozusagen. Und dann fängst du wieder an, das zusammenzubauen. Das geht. Das funktioniert auch. Das Ganze ist aber dann noch mal ein bisschen wackeliger als vorher. Also du kannst es und das mache ich ja, es schaffen. Es ist sehr, sehr kompliziert und sehr schwer. Du kannst es wieder aufbauen. Also du kannst wieder dieses zurück in das alte Leben vielleicht anders, aber es ist halt immer ein ganz schwieriger Prozess. Wann bricht es wieder auseinander? Wenn du es nicht sorgfältig machst. Wenn du dich nicht darum kümmert, dass alle Karten wieder einen festen Stand haben. Und das wird eben therapeutisch gemacht. Das sich um das Ganze, um das ganze Leid und den ganzen Kummer in dir, um diese Persönlichkeiten gekümmert wird. Dann werden die wieder aufgestellt und dann funktioniert das System auch wieder. Aber es ist halt.

Nadia Kailouli [00:26:53] Es gibt keinen Sekundenkleber, der alles zusammenhält, dass es nicht mehr einstürzt.

Ilvi Kristin Koopmann [00:27:00] So kann man das eigentlich, glaube ich, ganz gut beschreiben.

Nadia Kailouli [00:27:03] Gibt es etwas, was man in Gespräch mit dir, so wie ich jetzt falsch machen kann?

Ilvi Kristin Koopmann [00:27:12] Mich nicht ernst nehmen. Also das merke ich ziemlich schnell, wenn jemand denkt und die erzählt da sowieso nur Blödsinn und dann ist das Thema auch für mich durch. Dann ziehe ich mich auch zurück. Aber ansonsten kann man nichts falsch machen, weil ich mich ja quasi auf dieses Gespräch vorbereitet habe.

Nadia Kailouli [00:27:33] Wie ist das im Alltag, ich weiß nicht, wie alt sind deine Kinder? Darf ich das fragen?

Ilvi Kristin Koopmann [00:27:38] Fast 32, fast 29, 19 und 18.

Nadia Kailouli [00:27:44] Na ja, da liegt ein bisschen ein kleiner Sprung dazwischen. Ich will das jetzt gar nicht werten, wer besser damit umgehen kann oder nicht, aber es sind erwachsene Menschen. Wie war das für deine Kinder? Oder wie ist das für deine Kinder besser gesagt?

Ilvi Kristin Koopmann [00:28:01] Schlimm. Ganz schlimm. Also für die beiden Jüngeren, sag ich mal, die waren zwölf und 14. Das heißt so kurz vor der Pubertät und dann zu erfahren, was da passiert ist, damit es zu so etwas kommt. Das muss schon sehr schlimm sein. Das ist sehr schlimm für die gewesen. Und die beiden Großen, klar, hat es ganz genauso getroffen, brauchen wir gar nicht drüber reden. Es ist sehr schwer, wenn du weißt, dass deiner Mutter ganz viele schlimme Dinge angetan wurden. Aber die haben natürlich damit anders umgehen können. Aber für die beiden Jüngeren war es schon ziemlich hart. Es ist glaube ich auch heute immer noch. Die leben natürlich auch noch zu Hause. Die kriegen auch noch viel mehr mit. Ja, aber das reißt auch den Kindern den Boden unter den Füßen weg.

Nadia Kailouli [00:28:58] Gibt es denn Eigenschaften, die ihr jetzt so als Regelbeschreibung deiner Persönlichkeiten habt? Dass deine Kinder zum Beispiel wissen oder dein Mann, ach wenn sie so oder so reagiert, dann ist sie nicht Mama, sondern ist sie eben eine ihrer Persönlichkeiten. Gibt es das?

Ilvi Kristin Koopmann [00:29:15] Das gibt es ganz viel. Und das ist halt bedingt dadurch, dass sie mit mir aufgewachsen sind, sind sie sehr empathisch und die merken das ganz schnell. Es gibt das Beispiel, wenn ich einkaufe, oder wenn ich dann mit den Kindern mal zusammen einkaufen gehe, dass sie sofort wissen, wenn ich irgendwo nur gucke oder so und unruhig werde, dann werde ich an die Hand genommen, dann werde ich, komm Mama, wir gehen, wir machen das. Oder es gibt immer zwischendrin mal jemanden, der sagt, hier ist nichts, ist alles gut, wir sind hier sicher. Oder sie halten mich davon ab, irgendwelchen Blödsinn zu kaufen und sagen, das brauchen wir nicht. Wir haben oft eine Umkehrrolle dann so in der Funktion. Wer ist Mutter, wer ist Kind? Sie wissen, sie sehen ganz oft, ob das ein Erwachsener ist, der traurig ist oder ob das ein Kind ist und sprechen mich dann auch dementsprechend eben an und das merke ich dann so im Nachgang merke ich, oh, da sind sie liebevoll mit einem mit etwas Kleineren. Dann ändert sich die Tonlage bei denen so ein bisschen.

Nadia Kailouli [00:30:22] Das heißt, du fällst immer, wenn du in deinen Persönlichkeiten switcht, darf ich das so sagen? Dann switcht du eben als erwachsene Frau heute in die Rolle des Kindes zurück?

Ilvi Kristin Koopmann [00:30:35] Genau. Also gehst du mit mir einkaufen und wir kommen zufälligerweise an der Spielzeug Abteilung vorbei. Und ich habe gerade noch irgendwie, ich sage mal in einem Handy Geschäft mit dem Verkäufer lang gemacht und habe dem erzählt, dass das so nicht funktioniert und gehe dann an einem Einkaufsladen vorbei, wo wunderschöne Stofftiere stehen oder so, dann kann das passieren, dass ich auf einmal zack, wie so ein achtjähriges Mädchen da rein laufe, das Ding in die Hand nehme, in den Arm nehmen und sage, guck mal, ich hatte noch nie so einen. Das sieht für Außenstehende, die denken, ach, guck dir mal die verrückte Frau da an! Meine Kinder wissen dann aber ganz genau, jetzt ist da gerade ein ganz unglückliches achtjähriges Kind und weint innerlich sozusagen, weil es noch nie so was Schönes hatte. Das kann also ständig passieren. Deswegen lässt man mich eigentlich auch nicht so gerne einkaufen. Ich kaufe dann viele Stofftiere oder so.

Nadia Kailouli [00:31:37] Ja, okay. Bist du in einer Behandlung?

Ilvi Kristin Koopmann [00:31:44] Ja, ich bin in dauertherapeutischer Behandlung.

Nadia Kailouli [00:31:47] Ist es denn Ziel dieser Therapie, dieses Kind von dir oder das Kind in dir ziehen zu lassen, loszulassen, irgendwann aus dem Leben zu streichen? Dass diese Persönlichkeit eben mit dem reinen Gefühl verabschiedet wird, dass es eben nicht mehr in die Präsenz kommt, in den Alltag und dann Stofftiere kauft? Ist es das Ziel? Oder geht das gar nicht?

Ilvi Kristin Koopmann [00:32:14] Es gibt die, sagt man, es gibt die Möglichkeit, diese Innenanteile so zusammenzuführen, dass am Ende quasi nur noch eine Persönlichkeit da ist. Das hat mir, damals in der Klinik, stand das auch immer irgendwie an und. Es ist für uns, also für mich ist es überhaupt gar kein Thema, weil es würde bedeuten, ich würde die wegjagen oder umbringen oder sonst irgendwas. Also ich habe das für mich so angenommen, dass diese Persönlichkeiten ganz, ganz viel ausgehalten haben, damit ich weiterleben kann. Und jetzt ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es denen soweit gut geht. Das heißt, ich versuche, deren Bedürfnisse auch irgendwie zu erfüllen. Das ist nicht immer so leicht, aber dann, das wird meistens abends gemacht, wenn Ruhe im Haus ist, dann siehst du mich mit Kinderbüchern oder ich höre nachts, mitten in der Nacht, Bibi Blocksberg, weil es muss Bibi Blocksberg gehört werden. Und auf der anderen Seite lese ich die schlimmsten Mörder-Bücher von Simon Beckett oder sonst irgendwas. Also, es ist alles, wenn ich merke, da ist irgendwie, einer will jetzt gerade Kreuzworträtsel machen, da muss ich ein Kreuzworträtsel machen. Wenn ich nicht schlafen kann, und dann überlege ich, warum kann ich wieder nicht schlafen? Und habe das Gefühl, ich muss jetzt das und das noch machen. Ja, dann stehe ich auf, dann wird ein Buch gemalt, dann wird dies gemacht, dann wird jenes gemacht. Ich versuche quasi, das Kind in der Ecke zu sehen und zu sagen, oay, du möchtest jetzt gerne malen, dann malen wir jetzt und dann wird es angenehmer.

Nadia Kailouli [00:34:00] Weil du dich selbst ernst dann nimmst. Ist es so, dass man das Gefühl wahrnimmt und nachempfindet oder visualisiert man das auch? Visualisiert du deine Persönlichkeiten?

Ilvi Kristin Koopmann [00:34:10] Ja, ich visualisiere das auch genau.

Nadia Kailouli [00:34:14] Das heißt, du siehst dich selbst als Kind?

Ilvi Kristin Koopmann [00:34:16] Ja, ich sehe mich selbst als Kind.

Nadia Kailouli [00:34:16] Und dein Körper befinden ist dann auch als das kleine Kind?

Ilvi Kristin Koopmann [00:34:20] Ja, das führt leider oft dazu, dass, also es ist natürlich dann, wenn die Erinnerungen hochkommen, ist das natürlich das Schlimmste, was dir passieren kann, weil das muss man einfach so ganz deutlich auch auf den Punkt bringen: Du erlebst den Missbrauch noch mal! Also das ist dann eben in dieser Dissoziativen Störung drin. Es ist nicht so, dass ich mich daran erinnere, sondern ich erlebe das dann noch mal. Und wenn diese Flashbacks kommen, dann ist, dann geht eben auch gar nichts mehr. Also dann ist es vorbei. Dann brauchst du wirklich drei, vier, fünf Tage, bis du da wieder irgendwo rauskommst. Dir tut wirklich alles genauso weh wie damals. Und es ist nicht so, dass ich sagen kann, ich weiß noch, wie das damals war, sondern ich fühle das dann. Und das ist nicht so schön. Also das wünsche ich auch keinem. Also das auszuhalten ist sehr, sehr schwierig.

Nadia Kailouli [00:35:21] Das wünsche ich vor allem auch nicht dir, das so zu erleben. Also das, wie du das jetzt beschreibst. Ich weiß, wir müssen auch gar nicht so im Detail über deinen Missbrauch sprechen, aber ich weiß, dass du sehr, sehr schweren sexuellen Missbrauch erlebt hast. Und wenn du das jetzt so noch mal schilderst, dass wenn du in die Persönlichkeit rutscht, als du ein Kind warst und das noch mal nachempfindest, kann ich nur annähernd aufgrund dessen, dass du es jetzt so erzählst, noch nicht mal das nachempfinden, sondern einfach nur ja glaube ich zu wissen, wie du das meinst, dass dir wirklich alles wehtut.

Ilvi Kristin Koopmann [00:35:55] Also ich habe das mal, irgendjemand hatte mich das mal gefragt und der hatte sich mal als Kind den Arm gebrochen und dann habe ich so gesagt, kannst du dich erinnern, wie das war, als du dir den Arm gebrochen hast? Ja, das hat ganz schön wehgetan.Ich glaube, das war so. Ich sag gut, bei mir ist es so, dass ich mir genau in dem Moment jetzt noch mal den Arm breche. Ich merke diesen Schmerz und da kannst du nichts gegen tun. Und ich muss es dann halt aushalten, dass irgendjemand, der damit umgehen kann, in dem Fall mein Mann oder meine Kinder, dass die dann kommen und wissen, wie sie mich aus dieser Situation wieder raus bekommen können. Nichtsdestotrotz bin ich danach vier, fünf Tage platt. Und das kann mich immer jederzeit treffen. Also das ist das Schlimme daran.

Nadia Kailouli [00:36:42] Ich glaube, jetzt kann auch jeder noch mal den Satz nachempfinden, als du gesagt hast, wie schlimm das für deine Kinder ist oder auch war zu wissen, oh krass, das ist Mama passiert.

Ilvi Kristin Koopmann [00:36:55] Ich kann das mal ganz brutal sagen. Wenn dann dein 18-jährige Tochter, ne 16 war sie glaube ich zu dem Zeitpunkt, kommt rein und sagt, wir müssen los, du wolltest mich fahren. Und da liegt jemand und schreit und fängt an zu schreien und sagt, geh weg, geh weg oder hör auf und tu mir nicht weh. Und sie sagt, das war, als wenn da ein kleines Kind gelegen hätte. Und dann steht sie da und weiß nicht, was sie tun soll. Also das ist schon sehr schlimm, sehr heftig für Kinder, also für die eigenen leiblichen Kinder, das so mitzubekommen. Und das ist das, was mich eigentlich doppelt belastet, traurig macht.

Nadia Kailouli [00:37:33] Klar, weil du das natürlich erst mal empfindest, was du da empfunden hast. Dieser Schmerz, den du als ja erwachsene Frau in der Persönlichkeit des Kindes nochmal mit erlebst, aber auch als Mutter, die weiß, mein Kind musste das jetzt, ich sage es jetzt mal ganz schlimm, ertragen, was mir hier gerade passiert.

Ilvi Kristin Koopmann [00:37:49] Das tut mir unendlich leid für meine Kinder. Und ich bin einfach nur froh, dass sie das so mittragen und sich trotzdem zu ganz tollen Menschen entwickelt haben. Also doch, aber das wünscht man keinem Kind, dass es das eben so miterleben muss. Gehört nicht zu einer glücklichen Kindheit dazu.

Nadia Kailouli [00:38:13] Du hattest jetzt gerade erzählt oder geschildert, dass dann eben dein Mann oder deine Kinder, ich will nicht sagen es schaffen, aber mit dir umgehen zu wissen, dich aus dieser Situation irgendwie wieder mit raus zu holen. Wie kann ich mir das vorstellen? Haben deine Kinder, hat dein Mann irgendwelche Ratgeber an die Hand bekommen, wie man damit umzugehen hat? Hast du da Tipps gegeben? Macht das und das, wenn das und das passiert. Oder wie ist das dann in so einem Alltag?

Ilvi Kristin Koopmann [00:38:46] Also das gehört quasi auch mit zur Therapie mit dazu, dass die dann ja auf der Station zum Beispiel mich oft da rausholen mussten, weil es eben gar nicht anders ging. Und dann wird dir schon so Tipps gegeben. Fassen Sie nicht einfach an, gehen Sie nicht von hinten dran, so.  Sondern ganz klar und deutlich ansprechen, ganz laut und auch immer mit dem, wirklich so mit dem korrekten Namen ansprechen und sagen, hey, guck mal, wir haben jetzt 2022, es ist alles gut, du bist in Sicherheit und das so lange wiederholen, bis das ins Bewusstsein eindringt und sich wieder ein Anteil quasi nach vorne schiebt, der sagt, okay, wir müssen jetzt hier erst mal wieder sehen, dass wir wieder auf die Füße kommen. Instinktiv machen sie es sowieso meistens richtig. Aber es gibt da so kleine Tipps, wie man da dran kommen kann, also wie man das schafft. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Es ist auch natürlich ein bisschen Arbeit. Aber eben aus dieser Situation rausholen und versuchen dann zu sagen, guck mal, wo wir sind, wir sind jetzt hier und du bist nicht mehr da und da an diesem Ort. Es ist alles gut. Das musst du so lange machen, bis derjenige wirklich mal registriert, okay, alles klar, der hat recht. Ich bin im wahren Leben angekommen und dann geht es langsam aber sicher geht es dann. Und auch das ist dann wieder so, dann hängst du wieder vier Tage und nichts geht mehr, weil das so erschöpfend ist. Und das sind eben so diese Schritte, die dann zu einer Erwerbsunfähigkeit führen und wo eigentlich nicht mehr alles so gut planbar ist im Leben.

Nadia Kailouli [00:40:47] Hast du Angst vor der Zukunft?

Ilvi Kristin Koopmann [00:40:51] Oft. Also das hört sich jetzt ganz komisch an. Ich habe einfach Angst, das irgendwann alleine aushalten zu müssen. Dass dann da keiner mehr ist, der mich an die Hand nimmt. Das ist schon so! Also vor allem anderen habe ich inzwischen keine Angst mehr, weil mich haut jetzt auch wirklich nnichts mehr um. Also gerade was dieses Thema angeht, da kannst du mir erzählen, was du möchtest. Dann sage ich nur, ja, kenne ich. Oder ja, ich glaube das. Ganz wichtig, ich glaube, dass das passiert. Aber so, ich habe Angst, irgendwann alleine da zu sein. Und keinen mehr, der mich dann wieder an die Hand nimmt, wenn ich es brauche.

Nadia Kailouli [00:41:41] Hmm.

Ilvi Kristin Koopmann [00:41:42] Und hoffe einfach, das passiert mir nicht.

Nadia Kailouli [00:41:46] Das hoffe ich auch nicht. Auf gar keinen Fall. Und vor allem glaube ich, dass du vielen die Angst genommen hast, weil du so offen darüber sprichst und weil du auch ein Buch dazu geschrieben hast. Und das, finde ich, ist ein wahnsinnig mutiger Schritt. Und ich weiß, dass solche Gespräche eben auch sehr, sehr intensiv sind und sehr viel Energie kosten. Und deswegen Ilvi, sage ich dankeschön an dieser Stelle und auch wirklich aus ganz persönlicher Motivation. Weil ich mich darauf vorbereitet habe, war ich auch ganz oft irgendwie, ich will nicht sagen verstört, aber schon auch so ein bisschen, ja ratlos in meiner Vorbereitung, weil ich dachte so, hä, ich checks nicht. Aber dadurch, dass wir jetzt so offen gesprochen haben und ich einfach dir so gegenübersitzt und wir uns auch die ganze Zeit anschauen, will ich das einfach noch mal ganz klar sagen: Du bist eben nicht verrückt, sondern du hast, wie du so schön selbst gesagt hast, einfach eine Störung. Die wurde diagnostiziert. Und dadurch, dass du so offen jetzt mit uns darüber gesprochen hast, hoffe ich, dass das ganz viele besser verstehen.

Ilvi Kristin Koopmann [00:42:53] Das ist genau der Grund, warum ich hier sitze, weil ich möchte, dass es verständlicher wird.

Nadia Kailouli [00:42:58] Vielen Dank, dass du heute bei uns bist.

Ilvi Kristin Koopmann [00:43:00] Ich danke für das tolle Gespräch.

Nadia Kailouli [00:43:03] Ich hatte natürlich auch, ich will nicht sagen, bedenken, aber schon so ein bisschen Sorge. So wie gehe ich jetzt mit jemandem um, der so eine Störung hat, von der ich selbst auch noch nie gehört habe, so richtig? Jetzt muss ich sagen, ich finde, Ilvi Kristin hat das so gut erklärt, was das mit einem macht, was da überhaupt diagnostiziert worden ist und wie ihr Leben eigentlich aussieht. Und sie sagt ja selber, es ist eine Störung und sie ist eben nicht verrückt. Nur eben, manchmal kommen dann irgendwelche Persönlichkeiten, noch nicht mals irgendwelche, das hat sie ja auch erklärt, dass es dann eben sie als Kind ist, die dann ja hochkommen und sie sich dann eben anders verhält. Aber ich glaube, ich muss nach dieser Folge auch noch mal ein bisschen darüber nachdenken, welche Nachwirkung eben sexueller Missbrauch nach so vielen Jahrzehnten auf einen erwachsenen Mensch haben kann und wie wichtig es ist, sich dem dann zu stellen und sich da auch, wie Kristin ja auch gesagt hat, therapeutische Hilfe zu holen, um damit im Alltag besser umzugehen. Nicht nur sie, sondern wie sie ja auch geschildert hat, ihre Familie.

Mehr Infos zur Folge

Ilvi kauft sich Badeanzüge in Größe 34, obwohl sie die heute mit Mitte 50 nicht mehr hat. Weil eine ihrer ungefähr 50 Persönlichkeiten ein junges Mädchen ist und diesen Badeanzug wollte. Sie hört nachts Bibi Blocksberg, am nächsten Abend liest sie blutrünstige Krimis. 

Laut Wikipedia ist das charakteristisch: “Diese Identitäten verfügen über eigene Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und Denkmuster.Zusätzlich treten Erinnerungslücken zu Ereignissen oder persönlichen Informationen auf, die nicht mehr durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärbar sind.

In Fachkreisen gibt es die Hypothese, dass die DIS durch äußere Störeinflüsse auf die Entwicklung während der Kindheit verursacht werde. Extrem negative Lebensumstände überwältigender Art wie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch könnten die Entwicklung einer integrierten Persönlichkeit verhindern, insbesondere wenn die ersten traumatischen Erfahrungen vor dem Alter von fünf Jahren geschehen. Stattdessen könne es zu einer Abkapselung von Gedächtnisinhalten und wechselnden Identitäten kommen.” 
Quelle: Wikipedia

Bei Ilvi war das traumatische Erlebnis sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit. 

Wie das ist, ständig zwischen verschiedenen Persönlichkeiten hin und her zu switchen – Ilvi Kristin Koopmann hat uns das in einer spannenden Folge erzählt.

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

„Eins, Zwei, Drei, ganz Viele. Diagnose: Dissoziative Identitätstörung. Aus dem Leben einer multiplen Persönlichkeit” heißt das Buch von Ilvi Kristin Koopmann. Ihr Buch ist hier erhältlich

Wer wie Ilvi von ritueller oder organisierter sexueller Gewalt betroffen war oder ist, kann sich an das Hilfetelefon berta wenden.

Informationen zur dissoziativen Identitätsstörung gibt es hier.

VIELFALT e.V. informiert über traumabedingte Dissoziation und ihre Ursachen, unterstützt Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur (DIS) und setzt sich dafür ein, dass körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt gegen Menschen in unserer Gesellschaft wahrgenommen, geächtet und verhindert wird.

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

presse@ubskm.bund.de

Webanalyse / Datenerfassung

Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs möchte diese Website fortlaufend verbessern. Dazu wird um Ihre Einwilligung in die statistische Erfassung von Nutzungsinformationen gebeten. Die Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden.