PODCAST | Folge 38 | Esther Klees

„Wenn es Missbrauch durch Geschwister gibt, bagatellisieren Eltern das häufig. Die Taten werden zu Doktorspielen minimalisiert, die Realität wird nicht anerkannt. Das ist der einfachste Weg, um als Familie weiterzuleben.”

In dieser Folge sprechen wir mit Prof. Dr. Esther Klees über sexuelle Gewalt durch Geschwister – ein absolutes Tabuthema, obwohl Studien zeigen, dass es die häufigste Form von innerfamiliärer sexueller Gewalt ist.




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Esther Klees [00:00:00] Wenn Sie mit den Jugendlichen sprechen und fragen, warum hast du deine Schwester, warum hast du deinen Bruder sexuell missbraucht? Dann haben die in den Interviews oft gesagt, meine Eltern haben sich nicht um mich gekümmert. Die haben viel Gewalt erlebt. Und wenn ich meine Schwester missbraucht habe, dann war ich stark. Dann habe ich mich gut gefühlt.

Nadia Kailouli [00:00:19] Hallo, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über sexuelle Gewalt. Ich bin Nadia Kailouli und hier spreche ich mit Kinderschutz-Expertinnen und -Experten, mit Menschen, die sich gegen sexuelle Belästigung wehren und sexuell missbraucht wurden und jetzt anderen Mut machen. Hier ist einbiszwei. Damit sich was ändert.

Nadia Kailouli [00:00:44] Missbrauch unter Geschwistern ist eines der größten Tabus innerhalb der sowieso schon tabuisierten sexualisierten Gewalt. Dabei zeigen internationale Studien, dass Missbrauch unter Geschwistern dreimal häufiger passiert als durch den Vater, die Mutter oder die Großeltern. Professor Dr. Esther Klees möchte dieses Tabu brechen. Sie ist Professorin für Soziale Arbeit, seit mehr als 15 Jahren forscht sie zu dem Thema und hat viele Gespräche mit Tätern und Opfern von Missbrauch unter Geschwistern geführt und lehrt dazu an der Internationalen Hochschule. Bei einbiszwei hat sie uns erzählt, warum sexualisierte Gewalt zwischen Geschwistern so häufig passiert, wieso Fachkräfte den Missbrauch häufig nicht erkennen und wie Eltern damit umgehen müssen. Ja, ich sag herzlich Willkommen, Professor Dr. Esther Klees bei einbiszwei.

Esther Klees [00:01:28] Ja, ich freue mich, da zu sein. Vielen Dank.

Nadia Kailouli [00:01:30] Sie sind Professorin für Soziale Arbeit und wir wollen heute mit Ihnen über ein, ja ich kann fast sagen, ein weiteres Tabuthema innerhalb der sexualisierten Gewalt sprechen. Und sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ja gefühlt schon die ganze Zeit ein Tabuthema. Und innerhalb dieses Tabuthema gibt es wieder Tabuthemen und die wollen wir irgendwie brechen. Und deswegen sprechen wir heute auch mit Ihnen. Denn man kann sagen, sie sind quasi die Einzige in Deutschland, die sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt unter Geschwistern beschäftigt. Warum ist das so?

Esther Klees [00:02:04] Ja, zunächst muss man mal vorweg stellen, dass wir Forschungsergebnisse haben, nach denen sexualisierte Gewalt durch Geschwister dreimal häufiger vorkommt als sexualisierte Gewalt durch ein Elternteil. Also das ist wirklich die häufigste Form innerfamiliärer, sexualisierter Gewalt. Und trotzdem ist es genau wie Sie sagen, es ist ein riesen Tabu, eins der größten Tabus in dem Themenfeld. Und ja, das ist, das liegt daran, dass da verschiedene Tabus aufeinandertreffen. Also wir haben einmal das Tabu, dass wir über Kinder und Jugendliche sprechen, die sexualisierte Gewalt ausüben und viele Menschen sich einfach nicht vorstellen können, dass schon Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt ausüben. Also das ist besonders dann der Fall, wenn wir Kinder unter zwölf Jahren haben und auch wenn wir über Mädchen sprechen, da haben viele Menschen schlichtweg Probleme, sich das vorzustellen, dass da ein 9-jähriger ist, der eine 3-jährige Schwester penetriert, beispielsweise. Das ist so das eine Tabu. Das andere Tabu ist, dass wir über die Geschwisterbeziehung sprechen und dass die Geschwisterbeziehung sehr stark idealisiert wird. Das heißt, dass wir der Geschwisterbeziehung per se unhinterfragt so einen entwicklungsförderlichen Einfluss zusprechen. Und der Blick auf Misshandlung auf der Geschwisterebene bislang komplett fehlt. Auch da zeigen übrigens Studien aus den USA, dass mehr Gewalt durch Geschwister ausgeübt wird als durch Eltern. Und dann schauen wir überhaupt noch nicht hin. Und ein drittes, ein dritter, entscheidender Grund, wenn ich das noch ergänzen kann, ist, dass die Familie selbst sehr starke Tendenzen hat, dieses Thema nicht anzusprechen, nicht öffentlich zu machen und zu bagatellisieren. Also, wenn Sie sich jetzt vorstellen, Sie sind Mutter eines Kindes und erfahren, dieses Kind hat sexualisierte Gewalt erlebt. Da gab es einen sexuellen Übergriff, beispielsweise in der Schule. Dann würden Sie sich sofort auf den Weg machen. Sie würden sofort Sicherheit für das Kind herstellen wollen und würden Ihr Kind sofort schützen wollen. Wenn Sie jetzt aber erfahren, Ihr eigenes Kind hat sexualisierte Gewalt erfahren und das Kind, von dem die Gewalt ausgeht, ist auch ihr eigenes Kind. Das ist beispielsweise, so ist es in den meisten Fällen, Ihr Sohn. Dann haben wir eine ganz andere Dynamik, und zwar die Dynamik, dass die Familie versucht, dass dieses Thema nicht nach außen dringt, aufgrund dieser massiven Schuld- und Schamgefühle. Die Eltern sind in einer massiven Krise, die sind völlig überfordert. Und die einfachste Lösung, um als Familie weiterzuleben, ist, dass man die Taten bagatellisiert, dass man das zu Doktorspielen minimalisiert und diese Realität nicht anerkennt. Das ist so. 

Nadia Kailouli [00:05:04] Ja, jetzt haben Sie jetzt schon ganz viele Punkte angesprochen, worüber wir heute mit Ihnen im Einzelnen sprechen möchten. Lassen Sie uns mal bei der Häufigkeit anfangen. Sie haben mich gerade auch wirklich kalt damit erwischt, weil die meisten Menschen, die bei uns bei einbiszwei über sexualisierte Gewalt aus persönlicher Erfahrung gesprochen haben, da waren die Täter oft auch innerhalb der Familie. Aber es war eben der Vater oder der Onkel oder dann, wenn es außerhalb der Familie war, der Trainer. Aber noch keiner hat sich bei einbiszwei in Anführungsstrichen geoutet, dass es innerhalb der Geschwister passiert ist. Wie erklären Sie sich diese Häufigkeit, dass das innerhalb der Familie oft eben unter Geschwistern passiert?

Esther Klees [00:05:50] Also das zeigen zunächst auch mal internationale Studienergebnisse, dass der Großteil der Betroffenen keiner anderen Person davon erzählt. Also da haben wir bei den Fällen sexualisierter Gewalt durch Erwachsene deutlich mehr, die darüber sprechen. Also ein entscheidender Grund dafür ist, dass die Betroffenen das die große Schuld und Schamgefühle haben, dass sie sich selber mitverantwortlich fühlen, weil die Geschwister ja auch sehr strategisch vorgehen und ihnen auch dieses Gefühl vermitteln: Du hast mitgemacht, du bist in mein Zimmer gekommen. Und ja, die so quasi mit in die Verantwortung ziehen. Und ein wichtiger Aspekt ist, dass viele Betroffene sagen Ich wusste, dass ich diese Bombe in der Familie nicht platzen lassen kann. Wenn ich das erzähle, dann mache ich meine ganze Familie kaputt. Mein Bruder muss vielleicht ins Gefängnis, je nachdem, wenn er schon strafmündig ist. Oder mein Bruder muss ins Heim. Meine Eltern werden mir Vorwürfe machen: Warum hast du nichts gesagt? Also vielen Betroffenen ist bewusst, wie viel Sprengkraft die Offenlegung hat und die wenden sich deswegen nicht an Außenstehende. Andererseits gibt es aber auch durchaus Betroffene, die sich an Außenstehende wenden, die sich Hilfe holen wollen. Und da muss man sagen, dass die oft nicht gehört werden, dass das oft so endet, dass gesagt wird: Ja, mein Gott, das sind so Doktorspiele und das ist auch normal unter Kindern und Jugendlichen. Also es gibt auch da Forschungsergebnisse, die zeigen, dass diese Aufdeckung für die Betroffenen oft genauso traumatisch ist, genauso traumatisch wahrgenommen wird wie der Missbrauch, wie die sexuelle Gewalt an sich, weil das Umfeld ja nicht adäquat darauf reagiert, bei denen kein Glauben geschenkt wird.

Nadia Kailouli [00:07:45] Ja, jetzt, wenn, wenn wir uns das vergegenwärtigen, wenn ein erwachsener Mensch ein Kind missbraucht, dann ist, dann hat man ganz klar einen Täter vor Augen, einen Erwachsenen, wo man sich denkt: Wie kannst du so was tun? Du hast eine Straftat ganz gezielt begangen. Wenn wir jetzt über Geschwister sprechen, dann deutet sich ein Bild ab, dass Kinder Kinder missbrauchen. Kann man das so sagen?

Esther Klees [00:08:10] Genau. Also Kinder, es sind, also die größte Gruppe, das sind Kinder und Jugendliche. Also das sind durchaus auch Jugendliche und Heranwachsende. So, und es ist aber schon so, dass viele schon vor dem neunten Lebensjahr damit beginnen. Genau. Und da ist, genau wie Sie sagen,  bei Erwachsenen ist per se klar, dass alle sexuellen Handlungen sexueller Missbrauch sind, die an einem Kind vorgenommen werden. Und das ist eben bei in etwa Gleichaltrigen anders. Da muss man eben genau hinschauen und muss schauen, haben wir da entwicklungstypisches Sexualverhalten, was es ja durchaus auch gibt, was es ja auch unter Geschwistern gibt. Oder ist die Schwelle überschritten, dass wir schon problematisches oder eben sexualisiert auffälliges Sexualverhalten haben? Also es geht darum, dass man sich die sexuellen Kontakte genauer anschaut und die quasi erst mal einordnet. Und das können aber die Eltern natürlich nicht. Damit sind die Eltern natürlich überfordert, weil die häufig einfach auch nicht die Kenntnisse haben, was ist entwicklungtypisch in einem bestimmten Alter. Und dazu braucht man Fachleute, die einem da helfen. Aber genau das ist das Problem, dass es eben durchaus sexuelle Kontakte auch zwischen Kindern und Jugendlichen gibt, die entwicklungstypisch sind.

Nadia Kailouli [00:09:34] Jetzt haben Sie gerade das Alter von neun Jahren angesprochen. Ich erinnere mich sehr gut an ein Gespräch bei einbiszwei. Da sagte mir eine, wir dürfen keine Angst haben, unsere Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, indem wir sie aufklären über sexuelle Gewalt, nach dem Motto: Da fasst dich keiner an, das machst du oder die Mama, wenn sie dich wäscht oder der Papa, wenn er dich wäscht. Und da sagte sie eben diese Sexualisierte, das haben wir Erwachsene in uns, wovor wir Angst haben, über etwas sprechen, was sexualisiert ist. Wenn Sie jetzt aber sagen, das sind 9-jährige zum Beispiel, dann frage ich mich, ist es dann eine ganz gezielte sexualisierte Motivation, sein Geschwisterkind anzufassen oder woher kommt das?

Esther Klees [00:10:18] Ja, da müssen wir so einen Blick auf die Familiensysteme werfen. Was sind denn das für Familien, in denen sexualisierte Gewalt durch Geschwister auftritt? Und da gibt es in der Forschung ja recht eindeutige Forschungsergebnisse. Und da muss man sagen, das sind sehr häufig Familien mit einer hohen Kinderanzahl, in denen es eine mangelhafte elterliche Beaufsichtigung gibt. Also die Eltern, die haben wenig Zeit, die Eltern sind abwesend und die Kinder sind sehr stark auf sich gestellt. Dann sind das sehr häufig sexualisierte Familienmilieus und das ist ein ganz entscheidender Punkt. Also das sind Familienmilieus, in denen Kinder mit einer Sexualität konfrontiert werden, die sie in ihrem Entwicklungsstand überfordert. Also das heißt, ich nehme mal ein konkretes Beispiel Ich habe in meiner eigenen Forschung einen Jugendlichen interviewt, der hat bis zum neunten Lebensjahr im Ehebett der Eltern geschlafen und hat regelmäßig mitbekommen, wie sie Sex haben. Und die Mutter hat dabei geschrien und geweint. Und die hat ihm immer gesagt zum Schluss: Das ist nichts Schlimmes, das ist schön. Mit neun Jahren hat dieser Junge seine Schwester vergewaltigt. Die Mutter hat es gesehen und hat nur gesagt: Lass das! Und der saß im Interview vor mir und hat gesagt: Ich konnte das, also ich konnte das gar nicht begreifen, was ich daran falsch gemacht habe. Meine Eltern haben es auch immer so gemacht. Und wir haben Kinder, die mit ihren Eltern, mit ihren Stiefeltern Pornografie, Hardcore-Pornografie konsumieren. Da kommt der Stiefvater und sagt: Komm, wir gucken uns gemeinsam einen Porno an! Du willst doch auch mal sehen, was Männer so machen.

Nadia Kailouli [00:11:58] Das ist ja auch schon eine Form von sexualisierter Gewalt, um Kinder dazu zu bringen, mit den Eltern einen Porno zu gucken. 

Esther Klees [00:12:03] Ganz genau. Und das ist, da kann man schön direkt übergehen zu dem nächsten Punkt. Die meisten Kinder und Jugendlichen, die überwiegende Mehrheit, ist selber traumatisiert, hat selber Opfererfahrungen gemacht, hat schwere Formen von Vernachlässigung erlebt, hat körperliche Gewalt erlebt oder auch selbst sexualisierte Gewalt überlebt. Und wenn Sie mit den Jugendlichen sprechen und fragen: Warum hast du deine Schwester, warum hast du deinen Bruder, oder manchmal auch Bruder und Schwester, sexuell missbraucht? Dann haben die in den Interviews oft gesagt: Ich war der Loser in der Familie. Ich konnte irgendwie nix. Und ja, ich habe keine Wertschätzung erfahren. Meine Eltern haben sich nicht um mich gekümmert. Die haben viel Gewalt erlebt. Und wenn ich meine Schwester missbraucht habe, dann war ich stark. Dann habe ich mich gut gefühlt. So, weil jetzt war ich der Starke. Also es geht, wir reden ja da von der Identifikation mit dem Aggressor. Das ist so ein Fachtermini, es geht quasi darum, seine eigenen Ohnmachtsgefühle, seine eigene Hilflosigkeit zu überwinden, indem man andere Menschen, Schwächere schädigt. Das ist das Prinzip. Und sexuelle Interessen, die können auch eine Rolle spielen, aber die stehen nicht im Vordergrund.

Nadia Kailouli [00:13:29] Also das, was Sie ja schildern, sind ja die ganz klassischen, wenn ich das so sagen darf, Muster zur sexuellen Gewalt. Dieser Machtmissbrauch, diese Kontrolle zu bekommen.

Esther Klees [00:13:39] Aber das Besondere ist bei Geschwistern, dass die eine enorme Verfügbarkeit haben, dass die Geschwister keine Möglichkeiten haben, sich zu schützen. Also ein Jugendlicher hat in einem Interview gesagt: Ich habe meine Schwester missbraucht, weil ich die rund um die Uhr kontrollieren konnte. Der war auch noch in der gleichen Schule wie die Schwester. Die haben ganz viel unbeaufsichtigte Zeit zu Hause verbracht. Oft ist es so, dass der ältere Bruder so eine Art Babysitter ist. Die Eltern, die abwesend sind, die übertragen ihre Autorität an den älteren Bruder und sagen: Du passt auf deine jüngeren Geschwister auf. Und die nutzen dann eben diese Machtposition aus. Und die können die Geschwister so krass manipulieren, kontrollieren und deswegen ist es nicht selten so. Also so war es bei mir in der Studie, dass wir Fälle haben, in denen eine Schwester drei, vier mal die Woche sexuell missbraucht wird, über mehrere Jahre lang. Wir reden über hunderte Fälle und dass diese Betroffenen Schwierigkeiten haben, auch damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ist auch vor dem Hintergrund, glaube ich noch mal gut verständlich. Die sind oft schwer traumatisiert. Ich habe immer wieder Betroffene, die melden sich bei mir, die sind 80, 90 Jahre alt. Ich kriege ganz wirklich bewegende Briefe, wo mir Menschen schreiben, dass sie sich bei mir bedanken wollen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen zum Ersten Mal jemand glaubt. Sie schreiben, sie haben Ihr Leben lang niemanden gefunden, der sich das hätte vorstellen können. Eine ältere Dame sagt, sie war in der Therapie, und da hat der Therapeut gesagt: Ja, das war sicher nicht der Bruder, das ist eine Übertragung. Du bist wahrscheinlich von deinem Vater missbraucht worden. Und deswegen sind die so extrem alleine gelassen und auf sich gestellt.

Nadia Kailouli [00:15:36] Sie haben jetzt des Häufigeren eben den Bruder angesprochen. Legt sich das so auch in Ihren Studien nieder, dass es dann oft eben der Junge ist, der Bruder ist, der das Mädchen oder den eigenen Bruder auch missbraucht?

Esther Klees [00:15:47] Genau das ist in den meisten Fällen der Bruder. Wobei man natürlich sagen muss, dass ja die sexualisierte Gewalt, die durch Mädchen und Frauen ausgeht, viel stärker tabuisiert ist. Und ja, wir da auch keine konkreten Zahlen haben aufgrund der Tabuisierung. Also bei mir haben sich jetzt gerade in der vergangenen Woche zwei Frauen gemeldet, die selber ihre Geschwister missbraucht haben im Kindesalter und die mir angeboten haben, dass ich ein Interview mit denen führe. Und ich glaube, dass auch da das reale Ausmaß noch ganz drastisch unterschätzt wird. Aber die Studienlage sagt, es sind überwiegend Jungen. Wobei bei der Opferauswahl muss man sagen, wir haben Jungen, die missbrauchen eine Schwester oder die missbrauchen einen Bruder oder beides. Da geht es nicht so sehr darum, dass so eine geschlechtliche Präferenz im Vordergrund steht, sondern bei der Opferauswahl ist eher entscheidend, welches Kind, bei welchem Kind eine geringere Aufdeckungswahrscheinlichkeit besteht. Da ist es häufig so, dass die Jugendlichen in den Interviews gesagt haben Ja, ja, ich habe meinen Bruder missbraucht, weil er noch nicht sprechen konnte. Da war klar, wenn ich den missbrauche, der kann es meinen Eltern ja noch gar nicht erzählen. Oder ich habe meine Schwester missbraucht, weil die sowieso immer einen schlechten Stand in der Familie hatte. Die hat sowieso oft gelogen, der hat sowieso keiner geglaubt. Da sind solche Aspekte eher entscheidend als diese Geschlechtlichkeit.

Nadia Kailouli [00:17:23] Ja, jetzt ist es ja für Eltern das Schönste, ja eigentlich zu sehen, wenn sich die Kinder verstehen, wenn sich der Bruder kümmert um die Schwester. Wenn man weiß, die können zusammen spielen, die können zusammen Zeit verbringen und und und. Denken Sie heute nach Ihren Studien über den Begriff Geschwisterliebe anders nach? Dieser Begriff kommt mir die ganze Zeit. Wie soll man das erkennen, dass der Bruder seine Schwester missbraucht, weil er sich in Anführungsstrichen die ganze Zeit kümmert?

Esther Klees [00:17:54] Na ja, ich denke, was heißt, ich denke anders nach. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir alle Facetten in der Geschwister Beziehung sehen. Dieser Begriff Geschwisterliebe, der ist sowieso ein bisschen problematisch, finde ich, weil der auch in so Kontexten so von Pornografie oder so ja sehr oft benutzt wird. Da habe ich sowieso Schwierigkeiten mit. Aber ich sag mal, natürlich gibt es die fürsorglichen Geschwister, die auch ganz wichtig für die Identitätsentwicklung ihrer Geschwister sind und die unterstützend da sind. Aber in der Geschwisterbeziehung, die ist ja nicht nur so einseitig. Jede Geschwisterbeziehung hat auch immer Phasen, wo es Geschwisterrivalitäten gibt oder wo es auch Gewalt gibt, wo es Misshandlungen auch geben kann. Also auch diese Formen gehören dazu und da müssen wir den Blick einfach drauf richten. Dafür müssen wir offen sein und das sind wir nicht. Auch das Helfersystem nicht. Also wenn Sie mal schauen, wer lernt jetzt in der Ausbildung oder im Studium irgendetwas über die Bedeutung der Geschwister Bindung und über die verschiedenen Erscheinungsformen und Facetten? Das ist kein Thema. Also in der Jugendhilfe wird ja ganz stark geschaut, wenn wir Kindeswohlgefährdung haben, wie ist die Beziehung zu den Eltern? Wir haben ganz engen Fokus immer auf diese Beziehung zu den Eltern und diese horizontale Beziehung zwischen den Geschwistern, die wird selten überhaupt betrachtet.

Nadia Kailouli [00:19:18] Das heißt, dass also Fachkräfte zum Beispiel auch damit überfordert sind, wenn sie damit konfrontiert sind, dass unter den Geschwistern eben sexuelle Gewalt passiert, dass sie gar nicht wissen, wie gehen wir damit eigentlich um?

Esther Klees [00:19:29] Genau. Also erst mal erkennen viele Fachkräfte die sexualisierte Gewalt nicht. Ich bilde auch Fachkräfte aus Jugendämtern fort. Ich bekomme immer wieder die Rückmeldung, dass sie nach der Fortbildung Fälle ganz anders beurteilen und dass sie denken: Oh, da hat aber viel gepasst, da müssen wir noch mal genauer hinschauen. Die haben gar nicht die Sensibilität, überhaupt  diese Fälle wahrzunehmen. Und dann, auch das zeigen Studien, tendieren viele Fachkräfte dazu, die Kinder nach der Aufdeckung der sexualisierten Gewalt in der Familie zusammen zu lassen, was ja auch noch mal eine enorme Belastung ist. Also normalerweise, wenn man jetzt eben weiß, ein Nachbarsjunge hat ein Kind sexuell missbraucht, dann würde man ja erst mal den Kontakt unterbinden, das Kind schützen und würde erst mal gucken, was war denn da genau, bevor man die jetzt wieder miteinander spielen lässt? Und auch das ist ein Thema, das ist bei Geschwistern anders. Viele Fachkräfte tendieren dazu, eben weil die Geschwister Beziehung so idealisiert wird, die Geschwister grundsätzlich erst mal zusammen zu lassen. Und da müssen wir mal gucken, wie wir da helfen. Und das zeigen auch Studien, dass sexualisierte Gewalt dann häufig weiter geht, obwohl Fachkräfte drin sind.

Nadia Kailouli [00:20:48] Aber wie soll man denn jetzt zum Beispiel, also es ist sowieso schwierig, das ist ja die Frage, die alle beschäftigen, in allen Bereichen der sexualisierten Gewalt: Wie kann man das unterbinden, wie kann man das erkennen, damit es nicht weiter geht oder damit es überhaupt verhindert wird? Aber gibt es denn überhaupt Tendenzen, wo Sie sagen, das sind Anzeichen dafür, dass sexualisierte Gewalt unter Geschwistern stattfindet?

Esther Klees [00:21:12] Also erst mal muss man vorweg sagen, die schon Kinder und Jugendliche gehen sehr strategisch vor und das meiste, was sich an Interaktion zwischen Geschwistern abspielt, kriegen die Eltern ja sowieso nicht mit. So, das meiste ist sowieso hinter den Kulissen bei Geschwistern. Und von daher müssen sich Eltern keine Vorwürfe machen, wenn sie das nicht wahrgenommen haben. Weil das ist in vielen Fällen so, dass die Eltern wirklich die sexualisierte Gewalt, ansich nicht wahrnehmen. Im Nachhinein findet man immer leicht irgendwelche Risikofaktoren oder Anhaltspunkte, aber das ist schwierig. Dieser Blick vorweg. Also wichtig ist halt erstmal für die Eltern oder auch für Fachkräfte, dass die Beziehungen in der Familie in den Blick genommen werden, dass da genau geschaut wird, in welchem Verhältnis stehen die Geschwister zueinander? Welche Machtverhältnisse gibt es da? Dass man das analysiert, dass man da genau drauf schaut. Und wenn ich eben weiß, da hat Sexualverhalten stattgefunden, dann muss ich eben schauen, ist das spontan gewesen? Steht da Neugier dahinter? Ist ein Machtgleichgewicht und eine Abwesenheit von Angst? Dann habe ich eher entwicklungstypisches Sexualverhalten. Oder gibt es da ein Machtgefälle, Geheimhaltungsdruck, ein strategisches Vorgehen, Wiederholungszwang, eine Unfreiwilligkeit? Dann habe ich eben sexualisierte Gewalt. So, das muss ganz, ganz schnell eingeordnet werden, also die sexuellen Handlungen. Und ansonsten, wichtig ist, dass die Eltern die Kinder im Blick haben, dass eben vermieden wird, dass die Kinder sehr viel unstrukturierte Zeit miteinander verbringen, dass vermieden wird, dass ältere Geschwister auf jüngere Geschwister aufpassen, dass vermieden wird, dass mehrere Geschwister sich ein Zimmer teilen. Das sind alles so Faktoren.

Nadia Kailouli [00:23:02] Das sind wirklich so Faktoren? Weil natürlich, ich bin keine Mutter, aber ich denke mir gerade, wenn das jetzt Eltern hören und per se sagen ja immer alle, bei uns findet das nicht statt. Das ist ja erst mal die Grundhaltung, die alle haben, weder in unseren Familienkreis noch in unserem Freundeskreis. Sexualisierte Gewalt ist bei uns, findet nicht statt. Und deswegen sind wir an dem Thema auch so dran, weil wir aufzeigen, doch es kann eben bei jedem stattfinden. Wenn Sie jetzt aber sagen, so okay, dass der Ältere nicht die ganze Zeit auf die Kleineren aufpasst, dass die nicht zusammen sich ein Zimmer teilen. Gilt das per se grundsätzlich? Weil da bekommen ja wahrscheinlich viele jetzt total Angst und sagen so, genau deswegen wollte ich, dass meine Kinder zusammen ein Zimmer teilen, damit die lernen hier, wir leben nicht im Reichtum, wir haben jetzt hier nicht drei Zimmer für jeden eins, sondern ihr müsst jetzt die ersten fünf Jahre ein Zimmer teilen. Das sind ja auch so Erziehungsmaßnahmen zu sagen, ihr teilt euch euren Lebensraum.

Esther Klees [00:23:56] Also es geht darum, dass die Eltern einfach eine Sensibilität entwickeln und dass sie das auch grundsätzlich für möglich erachten. Dass die Eltern im Gespräch mit ihren Kindern sind, dass die Kinder auch so eine Redeerlaubnis haben. Also eben, das ist ja das große, wichtige Thema der sexualpädagogischen Begleitung. Es ist ja nicht per se in jeder Familie ein Risiko gegeben, wenn ein älteres Geschwisterkind auf jüngere Geschwister aufpasst. So. Wichtig ist, dass die Eltern aber auch einen Blick darauf haben und die nicht komplett ständig unbeaufsichtigt sind, dass die Eltern ihre Elternrolle wahrnehmen und beibehalten. In den Fällen, über die wir reden, geben die Eltern diese Rolle oft ab. Die sind abwesend. Das ist der entscheidende Faktor. Die sind selber erkrankt, haben psychische Erkrankungen, Alkoholerkrankungen oder sind vielleicht auch nur ganztägig berufstätig. Die haben sehr, sehr wenig Einblicke in das, was da zu Hause passiert. Und da geht es um so eine grundlegende Sensibilität, die Kinder im Blick zu haben und hier einfach genau zu schauen, was machen die da, wie verbringen die die Zeit? Und ja, wenn ich jetzt zum Beispiel einen 16-jährigen Jungen habe, dann ist es durchaus problematisch, den jetzt in einem Zimmer mit 3-jährigen Geschwisterkind unterzubringen. Also da würde ich mir schon Gedanken machen, nachdem was ich so in den letzten Jahren zu dem Thema gehört habe. Also es ist einfach eine Sensibilität, eine Vorsicht geboten und man muss einen guten Austausch zu seinen Kindern haben und ja, einfach schauen, was da passiert.

Nadia Kailouli [00:25:38] Jetzt hatten Sie eingangs ganz oft das Wort Doktorspielchen eben erwähnt. Man kennt das aus dem Kindergarten, man kennt das eben auch von zu Hause, wenn auf einmal Kinder anfangen zu erkennen, was hast du denn da und was habe ich denn da? Oder wie siehst du aus? Wie sehe ich aus? Sind Doktorspielchen per se eigentlich eine scheiß Idee?

Esther Klees [00:25:59] Nee, kann man so nicht sagen. Also es gibt auch Doktorspiele zwischen Geschwistern, aber seltener. Also Doktorspiele werden eher zwischen befreundeten Kindern ausgeführt. Aber wir müssen eben genau hinschauen, was wir unter Doktorspiele verstehen. Und da sind viele sehr undifferenziert. Also wenn ein 16-jähriger Junge Doktorspiele mit seiner 3-jährigen Schwester macht, dann sollten alle Alarmglocken angehen. Das sind keine Doktorspiele. Wenn ich von Doktorspielen spreche, dann brauche ich zwingend ein Machtgleichgewicht von beiden Beteiligten. Es kann nicht jemand, der viel älter ist oder der körperlich überlegen ist, es gibt ja noch andere Kriterien, also der viel weiter im Entwicklungsstand ist, der kann nicht mit einem Kind, was ihm unterlegen ist, Doktorspiele spielen. Also da ist einfach Vorsicht geboten, weil vieles, was so als Doktorspiele ja so adressiert wird, ist eben bei genauer Betrachtung gar kein Doktorspiel.

Nadia Kailouli [00:27:01] Okay.

Esther Klees [00:27:02] Wobei, da als Ergänzung noch, bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister ist es oft so, dass die zu Beginn in solche Spiele eingebettet wird. Also ich habe 13 Jugendliche interviewt, die Geschwister missbraucht haben und in den meisten Fällen war es so, dass die sexualisierte Gewalt so begonnen hat, dass sie quasi Doktorspiele mit den Kindern gespielt haben. Die haben gesagt: Ich bin der Arzt, ich muss dich mal untersuchen, die fangen dann ganz harmlos, sage ich mal in Anführungszeichen und schauen dann erstmal, wie das Geschwisterkind reagiert, ob es zu den Eltern geht, ob es was sagt oder ob es im anderen Kontext was sagt. Und ja, wenn Sie merken, Sie können das Geschwisterkind kontrollieren und haben keine Aufdeckung zu befürchten, dann werden die, wird die Intensität der Handlungen gesteigert. So aber diese Spiele, dieser Doktorspiele, sind häufig der Beginn, so ein spielerischer, scheinbar spielerischer Beginn.

Nadia Kailouli [00:28:07] Wenn Sie das jetzt so erzählen, aus Ihren Erkenntnissen, an denen Sie ja auch durchaus dann intensiv auch geforscht haben. Kann man sagen, dass Jugendliche, also Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch ausgeübt haben, im späteren Alter eben auch sexuelle Gewalt anwenden?

Esther Klees [00:28:32] Ein Teil. Genau. Also da gibt es neuere Forschungsergebnisse, die sagen, dass die meisten, die im Kindes und Jugendalter sexualisierte Gewalt begehen, die nicht mehr im Erwachsenenalter ausüben, also das sind nach neuester Forschung getrennte Phänomene. Und die meisten, die im Erwachsenenalter Sexualtaten begehen, die haben auch im Erwachsenenalter erst angefangen. So, aber da ist die Forschung uneins. Es gibt eben auch die Ergebnisse, das hat man so vor 20 Jahren häufig gesagt, dass die meisten, die im Erwachsenenalter missbrauchen, als Kinder und Jugendliche angefangen haben. Also da ist der Forschungsstand nicht eindeutig. Aber was noch mal wichtig ist in dem Kontext, die Kinder und Jugendlichen, die sexuelle Gewalt begehen, die brauchen Hilfe, weil sie selber häufig Opfer schwerer Formen von Gewalt sind. Und wir dürfen nicht immer diesen Blick haben, dass wir denen nur Hilfe geben, damit die nicht zukünftig die Sexualtäter von morgen werden. Also wichtig ist auch da, die Opfererfahrung anzuerkennen, auch dieser Kinder und Jugendlichen. Es gibt keinen Menschen, der als Sexualtäter geboren wird. Diese sexualisierte Gewalt ist das Ergebnis der Familienstrukturen, in denen diese Kinder aufgewachsen sind. Und dieses Verhalten, was sie zeigen, das hat für sie einen bestimmten Sinn. Es kann also sein, wenn die später eine eigene Familie gründen, in anderen familiären Verhältnissen leben, ja, dass dieses Verhalten dann auch keinen Sinn mehr für sie ergibt. Also das Verhalten hat immer eine gewisse Funktion, da steht ja eine Bedeutung hinter.

Nadia Kailouli [00:30:22] Aber dann kann man ja auch sagen, dass man dann die familiäre Situation, und oft sind es ja dann die Eltern, eine Mitverantwortung dafür tragen, dass die Kinder zu Tätern werden.

Esther Klees [00:30:35] Ja, also das gesamte Familiensystem und natürlich, also da stimme ich zu, die Eltern, die haben natürlich schon eine gewisse, also eine größere Verantwortung. Aber es ist oft kein bewusster Akt. Also es ist ja nicht so, dass die die Eltern bewusst so eine familiäre Atmosphäre schaffen. Also wir wissen zum Beispiel auch, dass ein hoher Anteil der Eltern auch selber Gewalt erfahren hat, in der Kindheit, auch selber sexualisierte Gewalt erfahren hat. Wir reden da von so einer transgenerationalen Weitergabe von diesen Mustern. Also natürlich haben die Eltern auch eine Verantwortung dafür. Und darum geht's ja auch dann später in der Beratung, in der Therapie, dass quasi mit den Eltern aufgearbeitet wird: Welche Risikofaktoren haben denn jetzt dazu beigetragen, dass sich dieses Verhalten zeigt? Das ist ein ganz entscheidender Baustein.

Nadia Kailouli [00:31:32] Welche Therapie macht man denn da?

Esther Klees [00:31:35] Ja, auch das ist in Deutschland schwierig, weil wir keine spezialisierten Therapien haben und weil wir allgemein eine sehr schlecht ausgebaute Versorgungslandschaft in Deutschland haben. Also es gibt nur regional an einigen Stellen überhaupt Angebote speziell zu sexualisierter Gewalt durch Geschwister und häufig verbunden mit sehr langen Wartezeiten. So, das ist erst mal vorweg zu stellen. Also das, was sich durchgesetzt hat, was wir international auch in der Forschung lesen, ist, dass wir ganzheitliche Ansätze brauchen, die sich an die ganze Familie wenden. Also die ganze Familie braucht Hilfe. Es reicht nicht aus, nur auf dieses sexualisiert übergriffige Geschwisterkind zu schauen und zu sagen: Der muss jetzt eine Therapie machen. Sondern eben, weil die Eltern auch eine Verantwortung haben an der Entstehung dieser Risikofaktoren und weil sie ihrem Auftrag auch nicht nachgekommen sind, müssen wir besonders stark auch mit den Eltern daran arbeiten. Was können Sie verändern? Welche neuen Interaktions-Muster brauchen die in der Familie? Welchen Sicherheitsplan müssen die errichten? Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, damit die Kinder sicher sind? Und wir brauchen auch, das wird häufig vergessen, eine Einbindung der nicht direkt betroffenen Geschwister. Weil die haben ja trotzdem in diesem Familiensystem gelebt und auch häufig was mitbekommen von der sexualisierten Gewalt und auch die müssen eingebunden werden. Also Sie sehen, das ist eine sehr komplexe Aufgabe. Das ist eine sehr komplexe Herausforderung. Und einige Beratungsstellen, die lösen das so, indem die eben ein Konzept anbieten, das heißt Mehrspurenhilfe. Das kommt aus den Niederlanden. Und da ist es so, dass wirklich die Eltern einen Therapeuten zur Seite gestellt bekommen oder einen Berater, das übergriffige Kind und auch eben das betroffene Kind und die nicht direkt betroffenen Geschwister. Also die bekommen einzelne Berater, einzelne Therapeuten an die Seite gestellt und dann muss man sehr eng vernetzt, ja sehr eng kooperierend zusammenarbeiten. Und dann kann es gelingen, für die Familie auch neue Wege aufzuzeigen und eine neue Normalität quasi zu verwirklichen. Weil das alte Familienleben wird es so nicht mehr geben. Nach der Aufdeckung kann es nur eine neue Normalität geben.

Nadia Kailouli [00:34:12] Wie passieren denn diese Aufdeckung hauptsächlich? Weil sie sagen ja, dass die meisten das eben nicht sagen und in den seltensten Fällen geht dann eben die Tochter zur Mutter und sagt mein Bruder hat das und das gemacht gestern oder so. Aber wie kommen denn diese Fälle ans Licht? Wie kriegen die Eltern das mit?

Esther Klees [00:34:27] Na ja, es ist so, wenn man große Gruppen von Menschen befragt, dann wird eben gefragt, welche Form von sexueller Gewalt sie erlebt haben. Und da sagen dann eben viele, sexuelle Gewalt durch Geschwister, aber ich habe noch nie jemandem was davon erzählt. Aber trotz alledem ist es so, dass die Fälle, die bekannt werden, meistens durch die Betroffenen selber aufgedeckt werden. Dass sie irgendwann einfach vertrauten Personen davon erzählen, häufig in der Schule. Das ist häufig so, dass sie Lehrern, Lehrerinnen davon erzählen oder eben Freunden, Freundinnen. Und deswegen wäre es ja so unglaublich wichtig, dass die Ansprechpersonen dann auch adäquat reagieren würden und zu dem Thema einfach ein bisschen Grundlagenwissen mitbringen würden. Und das ist nicht so, das ist ja leider, es ist bis heute so, Sie können soziale Arbeit studieren, Sie fangen danach beim Jugendamt an, Sie sind verantwortlich in der Jugendhilfe, beim Jugendamt tätig und Sie haben noch nichts im Studium zur Kinderschutz oder sexualisierter Gewalt gehört. 

Nadia Kailouli [00:35:35] Da fragt man sich wie kann das sein?

Esther Klees [00:35:38] Ja, das fragt man sich, das frage ich mich auch schon seit 15 Jahren. Und das ist ein Riesenproblem, dass wir sehr viele unqualifizierte Fachkräfte haben, die schlichtweg überfordert sind mit dem Thema. Ich hatte kürzlich eine Richterin, die sich bei mir gemeldet hat und mir einen sehr komplexen Fall übermittelt hat. Und sie hat dann gesagt, sie muss da jetzt irgendwie eine Empfehlung aussprechen. Schwerer sexueller Missbrauch eines Bruders über viele Jahre. Und sie hat gesagt: Na ja, da werde ich empfehlen, dass sie erst mal in die Psychiatrie gehen, dann ist erst mal Ruhe. Wir haben in Deutschland etwa so 90 Angebote für sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendliche, also Wohngruppen, ambulante Angebote. Und da haben wir aber das Problem, dass das viel zu wenig Angebote sind und sehr lange Wartezeiten da sind. Und wenn man dann solche Fälle hat, dann wissen die Fachkräfte oft nicht, wohin jetzt mit diesen Kindern, die diese Auffälligkeiten zeigen, weil die Plätze gar nicht in Deutschland vorhanden sind. Und dann werden so Zwischenlösungen gesucht, dann kommen die Kinder, die schwer übergriffig sind, kommen dann in Heimgruppen. Stellen Sie sich mal vor, was dann passiert, wenn die in diesen Heimgruppen sind. Oder die werden in der Psychiatrie zwischengeparkt. Deswegen wäre es so entscheidend wichtig, dass wir endlich ein Hilfesystem haben, was adäquat ausgestattet ist und wo alle Betroffenen auch die Hilfe bekommen, die sie dringend brauchen. Und ich habe viele verzweifelte Emails, viele verzweifelte Mitteilungen von Betroffenen, Eltern auch, die sich melden und sagen: Wir sind fix und fertig. An wen können wir uns wenden? Wo können wir uns Hilfe holen? Wenn man in einer ländlichen Region wohnt, ist es besonders problematisch. Da gibt es einfach keine Beratungsangebote. Also diese Familien sind völlig alleine gelassen, die kriegen keine Hilfe. Das ist Fakt.

Nadia Kailouli [00:37:46] Und das ist einfach wirklich tragisch und schlimm, weil das ja einfach sehr, sehr junge Menschen sind, die ja Leute brauchen, um eben in der Zukunft einfach ein in Anführungsstrichen, stabiles, gesundes Leben führen zu können.

Esther Klees [00:38:04] Genau. Und je früher die Hilfe kommt, desto besser natürlich. Auch bei den sexualisiert-übergriffigen Kindern und Jugendlichen. Auch die müssen die Chance bekommen, ein anderes Sexualverhalten zu zeigen, was keine anderen Kindern schädigt. Das ist auch wichtig, die da wirklich gut in den Blick zu nehmen. 

Nadia Kailouli [00:38:24] Jetzt ist es ja so, dass das man ja sein Geschwisterkind ja oft dennoch lieb hat. Das ist ja der Bruder, die Schwester. Wie sind denn die Aussichten, die Möglichkeiten, die Chancen, oder wie gut ist das, dass Kinder, die sexualisierte Gewalt mit dem Geschwisterkind erlebt haben, ein gutes geschwisterliches Verhältnis in Zukunft haben können? Oder wird da irgendwann dann einfach ein harter Bruch passieren?

Esther Klees [00:38:53] Ja, es gibt beides. Also es gibt die, die wirklich den harten Bruch haben, weil die eben keine Wege gefunden haben, vielleicht auch keine Unterstützung bekommen haben. Aber es gibt auch die, die wirklich einen guten Weg finden. Ich denke da gerade an einen betroffenen Mann, der von seiner Schwester missbraucht wurde. Ja, das ist jetzt so 30 40 Jahre her und ich stehe schon seit bestimmt zehn Jahren mit ihm im Kontakt und der hat mir gerade jetzt zu Weihnachten geschrieben: Ja, das ist jetzt zum ersten Mal gelungen ist, dass die Familie wieder zusammen feiert und dass über alles offen gesprochen wurde. Und die haben sich aber auch alle eigenständig therapeutisch auf den Weg gemacht. Und da scheint es so zu sein, dass die wieder vereint sind und dass die eine funktionierende Beziehung jetzt haben. Die sind aber auch alle erwachsen, die sind jetzt nicht in diesem Abhängigkeitsverhältnissen als Kinder. Also das hängt, glaube ich, ganz maßgeblich davon ab, wie die Familie begleitet wird und wenn die gut begleitet werden, dabei das Ganze aufzuarbeiten, die Traumata zu integrieren, wenn die dabei begleitet werden. Gerade die Eltern, eine Schutzfunktion wieder zu übernehmen, ihr Familienmilieu so zu gestalten, dass keine Risikofaktoren quasi mehr da sind. Dann kann es sehr gut gelingen, dass die Familie in einer neuen Normalität wieder gut zusammenlebt. Aber die Verletzungen und die Wunden werden natürlich bleiben, aber man lernt, damit umzugehen.

Nadia Kailouli [00:40:28] Frau Klees, wir sprechen so offen darüber, weil wir eben mit einem Tabuthema brechen wollen, weil wir sensibilisieren wollen und sichtbar machen wollen, was los ist. Und ich finde, dass wir uns das heute sehr, sehr gut auch nochmal verdeutlicht haben, dass wir eben in alle Bereiche schauen müssen, um sexualisierte Gewalt in Zukunft ja mehr zu verhindern, weil die Zahlen sprechen für sich und an dieser Stelle danke ich Ihnen sehr, dass Sie heute hier bei uns bei einbiszwei waren. Vielen Dank.

Esther Klees [00:40:56] Ja, vielen Dank an Sie. Ich freue mich wirklich, dass Sie sich auch diesem Thema jetzt angenommen haben und wir ein stückweit ja zur Enttabuisierung auch beitragen können. Dankeschön.

Nadia Kailouli [00:41:08] Sexualisierte Gewalt unter Geschwistern wieder mal ein krasses Tabuthema. Aber wieder mal gut, dass wir da so ausführlich drüber gesprochen haben. Und wenn ich aus diesem Gespräch mal wieder etwas mitnehme, dann, wie wichtig eben die Aufklärung ist und die Ausbildung. Sie sagte es ja selbst, dass Menschen, die in der Sozialen Arbeit arbeiten, im Studium oft überhaupt gar nicht rund um das Thema sexualisierte Gewalt aufgeklärt werden. Und on top, was ich auch ziemlich tragisch finde und wirklich auch dran arbeiten müssen, ist eben die therapeutische Versorgung. Dass es Menschen so schwer gemacht wird, eben in diesem Themenfeld eben einen Therapieplatz zu finden, Menschen zu finden, die einem helfen können, weil viele ja selber merken: So will ich gar nicht sein, so will ich gar nicht leben. Ich weiß überhaupt gar nicht, warum mache ich das? Ohne jetzt Täterinnen in Schutz nehmen zu wollen überhaupt nicht. Aber es gibt eben ja Verhaltensweisen, die therapiert werden müssen. Und sexualisierte Gewalt unter Geschwistern ist mit Sicherheit eines davon. Und das, finde ich, hat hat dieses Gespräch auch noch mal deutlich gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir eine Grundversorgung von Therapieplätze für Menschen haben, die unbedingt Hilfe brauchen.

Mehr Infos zur Folge

„Wir haben Forschungsergebnisse, nach denen sexualisierte Gewalt durch Geschwister dreimal häufiger vorkommt als sexualisierte Gewalt durch ein Elternteil. Das ist wirklich die häufigste Form innerfamiliärer sexualisierter Gewalt. Und trotzdem ist es eines der größten Tabus in dem Themenfeld. Das liegt daran, dass viele Menschen sich einfach nicht vorstellen können, dass schon Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt ausüben“, sagt Prof. Dr. Esther Klees.

Seit mehr als 15 Jahren ist sie auf das Thema „Sexualisierte Gewalt durch Geschwister“ spezialisiert. Sie hat viele Jahre als Diplom-Sozialpädagogin vorwiegend mit verhaltensauffälligen Jungen und durch Gewalt traumatisierten Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Heute ist sie Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule.

Das Problem bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister ist, dass viele Menschen Probleme haben, sich vorzustellen, dass sie überhaupt möglich ist. Viele denken noch in einem veralteten Klischee: Ein Unbekannter im Dunkeln nähert sich dem Kind heimlich und überfällt es. Das Klischee ist überholt und entspricht auch nicht den Forschungsergebnissen von Prof. Dr. Esther Klees.

Wir sprechen mit Esther Klees über die Tabus, die beim Thema aufeinandertreffen und sie erklärt, warum die Gesellschaft nur selten Geschwisterbeziehungen hinterfragt.

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Prof. Dr. Esther Klees‘ Profil
IU Internationale Hochschule

Fachberatungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen und junge Frauen
Violetta Hannover

Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Jungen und jungen Männern
Anstoß

Eine englischsprachige Website zum Thema mit umfangreichen Informationen
Sibling Sexual Trauma


Bücher und Texte zum Thema

Klees, E./Kettritz, T. (2018) (Hrsgb.): Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishandbuch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert übergriffigen Kindern und Jugendlichen. Lengerich, Pabst.

Klees, E. (2018): Und wer arbeitet mit den Eltern? Ein Plädoyer für eine stärkere Gewichtung der Elternarbeit bei Fällen sexualisierter Gewalt durch Geschwister. In: Klees, E./Kettritz, T. (Hrsgb.). Sexualisierte Gewalt durch Geschwister. Praxishandbuch für die pädagogische und psychologisch-psychiatrische Arbeit mit sexualisiert übergriffigen Kindern und Jugendlichen. Lengerich, Pabst.

Mebes, M./Klees, E. (2009): Katrins Geheimnis. Eine Geschichte über sexuelle Übergriffe zwischen Geschwistern. Kinderbuch und Ratgeber für Erwachsene. Köln, Mebes & Noack.

Klees, E. (2008): Geschwisterinzest im Kindes- und Jugendalter. Eine empirische Täterstudie im Kontext internationaler Forschungsergebnisse. Lengerich, Pabst.

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

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