
Mein Leben war nicht, wie es war” heißt dein Buch. Wie schaffst du es, so kraftvoll und elegant über eigene Missbrauchserfahrungen zu schreiben, Jutta Reichelt?
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[00:00:02.320] - Jutta Reichelt
Man weiß eigentlich, da war irgendwas und nimmt es aber irgendwie nicht ernst genug, denkt: „Das reicht nicht. Es kann eigentlich auch nicht sein. Die Familie ist doch irgendwie nicht so…" Also in Familien wie meiner, wo die Eltern sehr katholisch und aktiv in der Kirchengemeinde sind und in Elternvertretungen in der Schule und so weiter. Das ist doch nicht eine Familie, in der es irgendwie sexuelle Übergriffe gibt, oder?
[00:00:27.670] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missständen und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:51.550] - Nadia Kailouli
In ihrer Kindheit war sie sexuell Übergriffen und emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt, glaubte aber jahrzehntelang, ein halbwegs normales Kind halbwegs normaler Eltern zu sein. Heute sagt Jutta Reichelt: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt." Diese schmerzhafte Erkenntnis ist Teil eines langen Prozesses, den sie nach einer existenziellen Krise mit Mitte 40 begonnen hat. Eine Suche danach, wie es wirklich war und wie sie davon erzählen kann. Denn Jutta Reichelt ist Autorin. Sie schreibt Kurzgeschichten und Romane. In ihrem neuesten Buch „Mein Leben war nicht, wie es war" verarbeitet sie ihre eigene Geschichte, erzählt von sexueller Gewalt in der Kindheit und herausgekommen, ist ein hochspannender, schön zu lesender Text, der vorführt, wie wichtig es ist, Auskunft über sich selbst geben zu können. Wie sie das genau macht, das erzählt sie uns, denn sie ist heute hier. Herzlich willkommen bei einbiszwei, Jutta Reichelt. Schön, dass du da bist.
[00:01:45.390] - Jutta Reichelt
Vielen Dank. Ich freue mich sehr über die Einladung.
[00:01:47.430] - Nadia Kailouli
Jutta, wir wollen heute, dass du uns etwas vorliest. Doch bevor wir dazu kommen, möchte ich gerne etwas über dich vorlesen. Und zwar, das ist jetzt nicht von mir, sondern ich zitiere: „Ich finde das Buch großartig. Es ist extrem angenehm zu lesen. Das Thema ist schwer und schockierend, aber darum geht es der Autorin nicht und das merkt man beim Lesen auch. Es geht um den Weg, um die Rückeroberung der Lebensgeschichte, von dem sie berichten möchte. Eine Reise, aber kein Katastrophentourismus." Ich nehme noch was: "Jutta Reichelt schreibt so klar, so unverstellt und gleichzeitig so elegant. Es ist unmöglich, nicht beeindruckt von diesem Text zu sein." Was macht das mit dir?
[00:02:28.380] - Jutta Reichelt
Ich muss gestehen, das sind vielleicht tatsächlich zwei meiner absoluten Lieblingsrückmeldungen. Ich finde das super, weil das wirklich sehr, sehr nah an dem ist, was mir bei dem Text auch wirklich wichtig ist. Also gerade auch dieses, dass es eine Reise, aber kein Katastrophentourismus ist. Das betrifft so einen Punkt, der mir sehr wichtig ist. Also das schreibe ich ja auch in diesem einleitenden ersten Kapitel, dass es mir ganz wichtig ist, vom Unglück zu erzählen, ohne es zu verlängern. Und das ist natürlich leichter gesagt, als getan und das war auch eine lange Entwicklung, die der Text auch unter dem Aspekt genommen hat. Aber genau, das ist einfach wichtig und das freut mich unheimlich und es freut mich auch, diese Behauptung, dass es unmöglich wäre, von dem Text nicht berührt zu sein. Das ist natürlich auch ein tolles Kompliment. Freut mich sehr.
[00:03:19.090] - Nadia Kailouli
Du bist Autorin, du schreibst Romane, du schreibst Kurzgeschichten und hast nun eben eine autobiografische Geschichte geschrieben. Dass du gut schreiben kannst, hat dir das geholfen oder war das teilweise auch ein Hindernis, weil es so persönlich wird?
[00:03:35.350] - Jutta Reichelt
Das hat mir, glaube ich, auf jeden Fall geholfen, obwohl es sicherlich die Sache auch in mancherlei Hinsicht nicht einfacher gemacht hätte. Wäre ich nicht selber Autorin, hätte ich, glaube ich, gar nicht bei manchen Sätzen so sehr gemerkt, dass sie nicht tragen, dass sie noch nicht genau stimmen, dass sie irgendwie widersprüchlich sind. Also ich glaube, dass ich Autorin bin, hat es mir nur möglich gemacht, den Text so zu schreiben, wie er dann geworden ist. Und das hat gleichzeitig die Sache schon auch verkompliziert an dem einen oder anderen Punkt und verlängert.
[00:04:09.440] - Nadia Kailouli
Ich nenne jetzt noch mal den Titel deines Buches, worüber wir heute sprechen wollen, und zwar „Mein Leben war nicht, wie es war". Wenn man jetzt das so liest, dann denkt man sich so: "Moment mal, sie ist eine erwachsene Frau. Warum denn nicht?" Was möchtest du uns damit erzählen?
[00:04:26.670] - Jutta Reichelt
Also zuerst mal ist dieser Satz ja so eine Paradoxie, irgendwie. Es ist ja was, wo man so ein bisschen stolpert, weil natürlich ist ein Leben so, wie es war. Und das ist etwas, was ich auch selber noch vor, ich kann das jetzt schwer zeitlich einordnen, aber vielleicht vor zehn Jahren hätte ich noch gesagt: „Ja, Quatsch, kann ja gar nicht sein." Und der Satz begleitet mich jetzt seitdem eigentlich schon insofern relativ lange, weil ich ihn erst mal, als er mir in den Sinn kam, einer Romanfigur in den Mund gelegt habe. Das ist der Satz, der für Christoph die Hauptfigur meines Romans „Wiederholte Verdächtigung", eigentlich so ein bisschen am Ende seiner Entwicklung, die er in diesem Roman durchmacht, steht. Und genau, für mich, ich habe zu dem Zeitpunkt, als ich diesen Roman geschrieben habe, noch gar nicht realisiert, wie sehr das auch eigentlich mein eigener Satz ist oder wie gut das mein eigenes Leben beschreibt. Und ich habe dann erst so mit der Zeit begriffen, ja, dass es eben, dass auch mein Leben anders war, als es mir vorgekommen ist. Ich habe lange Zeit geglaubt, dass ich eigentlich ein weitgehend normales Leben habe, und zwar sowohl hinsichtlich meiner Vergangenheit, als auch hinsichtlich der Frage: Was bin ich für eine Person? Habe ich besondere Schwierigkeiten oder nicht? Und da habe ich eben auch gedacht, ja, so im Großen und Ganzen. Jeder hat ja so ein paar Spleens oder Macken oder Schwierigkeiten, aber im Großen und Ganzen ist mit mir schon alles okay und war auch mit meiner Familie alles okay, hätte ich so gesagt. Sehr lange.
[00:05:57.160] - Nadia Kailouli
Aber dann kam eine Erinnerung zurück?
[00:06:01.400] - Jutta Reichelt
Ja, wobei es … Genau, das ist so naheliegend zu denken, dass es so die Erinnerung war, die das Ganze ins Rollen brachte, aber eigentlich war es… Also das stimmt schon auch. Es war aber gar nicht meine eigene Erinnerung, sondern es war eigentlich meine Schwester, die nach dem Tod meines Vaters, was so auch von dem Timing her, sage ich mal, ein relativer Klassiker ist, anfing, sich zu erinnern an sexuelle Übergriffe. Aber tatsächlich gab es eigentlich das Wissen, dass es sexuelle Übergriffe in der Familie gegeben hat, denen meine Schwester und ich ausgesetzt waren, das gab es eigentlich schon früher und das ist ja so was, wo ich auch versuche, in dem Text von zu erzählen. Also das ist auch etwas, was ich jetzt ganz oft von anderen Frauen höre, die das Buch gelesen haben, dass es so die Vorstellung gibt: „Ja, aber das, was ich erlebt habe, das war ja nicht schlimm genug. Also da war zwar irgendwas, das war unangenehm, da gab es Berührungen, da gab es irgendwie - ich erwähne ja auch feuchte Küsse - aber das ist ja nicht das, was man sich unter Missbrauch vorstellt." Und gut, es hat dann eine ganze Weile gedauert, bis sich herausgestellt hat, dass es sehr sicher auch in meiner Vergangenheit, dass ich als sehr kleines Kind, also ungefähr im Alter von unter drei Jahren, sexuellen Übergriffen meines Vaters ausgesetzt war. Aber es ist so für mich wirklich auch wichtig, dass es um beides geht, dass es Erinnerungen gibt, die nicht mehr verfügbar sind. Das ist das eine Problem, sage ich mal. Das andere ist, dass man eben man weiß eigentlich, da war irgendwas und nimmt es aber irgendwie nicht ernst genug, denkt: „Das reicht nicht, das kann eigentlich auch nicht sein. Die Familie ist doch irgendwie nicht so." Ich selber hatte und begegnete dem einfach auch bei vielen anderen. Ich hatte einfach Vorstellungen, das passte nicht rein. Also in Familien wie meiner, wo die Eltern sehr katholisch und aktiv in der Kirchengemeinde sind und in Elternvertretungen in der Schule und so weiter, das ist doch nicht eine Familie, in der es irgendwie sexuelle Übergriffe gibt, oder?
[00:08:02.100] - Nadia Kailouli
Das heißt, deine eigene Geschichte hat eigentlich nicht zu dem Bild, was du von deiner Familie hattest, rein gepasst?
[00:08:08.430] - Jutta Reichelt
Ganz genau.
[00:08:08.920] - Nadia Kailouli
Du benutzt das Wort "Lebensgeschichtslosigkeit". Kannst du uns das erläutern?
[00:08:15.230] - Jutta Reichelt
Also ich bin dann halt so ungefähr, als ich angefangen habe, dieses Buch zu schreiben, darüber gestolpert, dass ich immer noch nicht über so etwas wie eine Lebensgeschichte verfüge, obwohl ich mittlerweile wusste, was passiert war, obwohl das, was passiert war, mich auch nicht mehr wahnsinnig beschämt hat oder auch die Tatsache, dass ich mein Leben lang relativ zwanghafte Selbstgespräche geführt habe, was ich lange Zeit ganz, ganz schlimm fand und was mich sehr beschämt hat und was alleine schon ein Grund gewesen wäre, für mich mein Leben nicht erzählen zu können, weil ich dann hätte ja von dieser sehr großen Rolle erzählen müssen, die diese Selbstgespräche für mich gespielt haben. Und ich habe dann selber nicht verstanden, vor ungefähr zehn Jahren, als ich wirklich durch diese Schamtüren eigentlich so durch war, warum ich es aber immer noch nicht erzählen konnte. Und ich glaube, das ist eigentlich für mich auch das Hauptmotiv für dieses Buch gewesen, das Buch zu schreiben, dass ich das Gefühl hatte, es gibt Lebensgeschichten oder es gibt Ereignisse im Leben, die sich der Möglichkeit, sie in eine Geschichte, in einer logischen, halbwegs widerspruchsfreien Geschichte unterzubringen, entziehen. Und bei mir ist es eben, finde ich so und bei bei einigen anderen auch, dass eben das, wo wir eben auch schon drüber gesprochen haben, also das, was ich erinnere, die Vorstellungen, die ich von mir und meiner Familie hatte, die passen einfach nicht zu dem, was sich tatsächlich ereignet hat, woran ich aber zum Teil keine Erinnerungen habe, einfach auch, weil ich schon noch zu jung war oder weil Erinnerungen nicht mehr verfügbar sind.
[00:09:42.430] - Nadia Kailouli
Ich würde sagen, wir versuchen ja heute etwas mit dir, dass wir mit der Autorin ein Interview führen, aber gleichzeitig auch eine Hörprobe geben möchten. Und wir haben uns ein paar Seiten rausgesucht und würde dich bitten - und ich schenk dir erst mal was zu trinken ein, weil heute, wie gesagt, wird auch deine Stimme haben wir hier sehr beansprucht -, die Seite 14, du hast das Buch dabei, einmal aufzuschlagen. Und dann bei Satz 14, der Satz fängt an: „Was mir fehlte, war…"
[00:10:10.720] - Jutta Reichelt
Was mir fehlte, war nicht die wahre Geschichte meines Lebens, sondern eine mögliche Geschichte. Eine halbwegs plausible, verständliche, glaubwürdige Geschichte, die das enthielt, was ohne jeden Zweifel feststand. Das ist es, worum es mir mit diesem Text geht: Mit meiner Vergangenheit, mit meinem Leben wieder in den Kosmos möglicher Geschichten einzutreten.
[00:10:36.420] - Nadia Kailouli
Wie schwer fällt das einem, wenn man das so niederschreibt und du erzählst ja, was mir fehlte war, die Geschichte, die Erinnerungen sind da, aber was ist da alles? Jetzt bist du Autorin, du hast also die Kraft des Wortes so inne und dann ringst du so damit, deine Geschichte zu finden. Wie schwer fiel dir das dann am Ende, niederzuschreiben?
[00:10:57.960] - Jutta Reichelt
Also ich glaube, dass das ein ganz interessantes Missverständnis ist, in dem ich selber auch ganz lange irgendwie erlegen bin, dass das Hauptproblem eines ist, die richtigen Worte zu finden. So habe ich dich gerade auch ein bisschen verstanden. Aber tatsächlich das ist auch hin und wieder natürlich eine Schwierigkeit. Das will ich gar nicht leugnen, aber die Schwierigkeit, die ich versuche, auch in diesem Zitat anzusprechen, ist die, dass wir eben - und das habe ich aber ganz lange Zeit selber nicht begriffen -, dass wenn wir unser Leben erzählen, dann erzählen wir es, so wie wir Geschichten erzählen, Stories. Und für Geschichten, für Stories sind Wendepunkte zum Beispiel unglaublich entscheidend. Es gibt so ein Experiment, da hat man Leuten Texte vorgelesen und hat die gefragt: „Ist das, was du gehört hast, ist das eine Geschichte oder nicht?" Und dann hat man einfach mal geguckt: Was für Texte werden als Geschichten identifiziert? Und das sind Texte, in denen es Wendepunkte gibt. Und so erzählen wir auch unser Leben. Wir erzählen irgendwie ja und dann ist das passiert und auf einmal wurde mir klar und so weiter und dann ging es aufwärts. Aber in meinem Leben, und ich glaube, in den meisten Leben, wenn man es sich genau anguckt, da gibt es eigentlich gar nicht so eindeutige Wendepunkte. Es gibt ganz viele Ereignisse und die führen dazu, dass irgendetwas vielleicht in eine andere Bahn gerät, aber selbst das ist nicht immer der Fall. Und diese Vorstellung, die wir der Logik von Geschichten entnehmen, es gäbe Wendepunkte und dann geht es aufwärts oder abwärts und dann gibt es vielleicht noch mal einen Wendepunkt und dann hat man einen klaren Punkt, an dem man steht, das ist eben der Logik des Geschichtenerzählens geschuldet, aber es ist nicht das, was in unserem Leben wirklich passiert. Und das habe ich ganz lange Zeit nicht begriffen. Und das ist eben auch das, weswegen es in meinem- Ich versuche das ja auch zu erzählen, auf was für eine absurde Weise ich überhaupt Schriftstellerin geworden bin und dass das eigentlich eher eine Flucht war als alles andere. Und trotzdem ist es jetzt immer noch so, dass Leute, die dieses Buch lesen - obwohl das sehr deutlich, finde ich, drin steht - sind trotzdem so überzeugt davon, dass man nur Schriftstellerin werden kann, wenn man so eine Art von Bestimmung und Talent und dass sich da was realisiert, was dann eben in den Jahren vorher noch nicht so richtig gesehen wurde, aber so war es einfach nicht.
[00:13:17.480] - Nadia Kailouli
Aber glaubst du das genau deswegen, weil man sagt ja auch so, das haben wir auch gesagt: „Du beschreibst das so schön." Und man fühlt sich fast schlecht damit, weil am Ende ist es ja auch eine Missbrauchsgeschichte. Darf man das schön finden? Aber liegt die Schönheit darin, dass es so ehrlich ist und eben nicht einfach das Ringen um Worte ist, sondern einfach ein niedergeschriebenes Stück, wie das Leben halt einfach war?
[00:13:41.440] - Jutta Reichelt
Also ich glaube und hoffe so ein bisschen, dass das, was du Schönheit nennst oder dass es irgendwie gut zu lesen ist. Ich glaube, dass das, was damit zu tun hat, dass ich als Autorin natürlich eine gewisse Erfahrung damit habe, die Leserperspektive, die Leserinnenperspektive einzunehmen. Und das ist natürlich was, das ist immer unheimlich schwer. Man schreibt einen Text, man schreibt herum, man weiß ganz viel über die Sachen, die man erzählt und sich dann vorzustellen: Wie liest das jetzt jemand, der das alles nicht weiß, für den das wirklich die erste Lektüre ist? Ich habe ja diesen Text, der hat irgendwie das Dreifache an Umfang gehabt. Ich habe immer wieder Sachen weggeworfen, ich habe die Reihenfolge verändert und ich habe mich immer wieder versucht zu fragen: „Wie liest das jemand, der das alles nicht kennt, der diesen Text jetzt gerade in diesem Moment das erste Mal liest?" Und das ist schwierig, das ist immer schwierig und ich glaube, dass es mir aber ganz gut gelungen ist. Also ich habe auch schon öfter von Leuten gehört, dass sie ganz verblüfft waren, dass sie sich bei der Lektüre irgendwelche Fragen gestellt haben und dann irgendwie eine halbe Seite später wird es erklärt oder wird es irgendwie aufgelöst für sie. Und ich glaube, dass dieses Bemühen, was ich schon auch hatte, die Lektüre gut möglich zu machen, also dass das dazu beiträgt, dass es eben auch wirklich ein, glaube ich, ganz gut zu lesender Text ist.
[00:15:00.410] - Nadia Kailouli
Ja, dann lesen wir mal weiter, Seite 15.
[00:15:03.440] - Jutta Reichelt
Okay.
[00:15:05.680] - Jutta Reichelt
Meine Geschichte schreibe ich selbst bedeutet für mich mittlerweile, die sexuellen Übergriffe nicht mehr an den äußersten Rand zu drängen, mich aber zugleich gegen die verbreitete Erwartung zu wehren, sie wären das dominierende Thema meines Lebens oder dieses Textes. Das sind sie nicht.
[00:15:24.620] - Nadia Kailouli
Hattest du davor Angst, dass es dann so ist, gerade wenn man schon Bücher geschrieben hat und man will ja jetzt nicht sagen: „Ach, das Buch, das ist jetzt nur persönlich." Am Ende des Tages ist es ja auch ein Werk. Aber hattest du auch davor Angst, dass man dich dann in so eine enge Ecke drängt und sagt: „ Ah Jetzt…"?
[00:15:43.400] - Jutta Reichelt
Auf jeden Fall. Die Angst, muss ich sagen, war auch nicht ganz unbegründet. Also auch an den Reaktionen, die ich jetzt erlebe, ist es natürlich schon so, dass dieses Thema, das ist für viele Leute immer noch so eine Herausforderung und es ist mit so viel auch mit Abwehr verbunden, mit Überforderung, mit dem Gefühl, „Oh Gott, da müssen wir alle sofort einen roten Kopf bekommen, wenn wir darüber reden", dass eben das total dominiert und die anderen mir natürlich wirklich auch wichtigen Themen und Fragen, die sich für ich mit diesem Text verbinden. Zum Beispiel, wo wir gerade drüber geredet haben: Was genau machen wir eigentlich, wenn wir unsere Lebensgeschichten erzählen, ganz unabhängig davon? Oder was passiert, wenn wir in psychische Krisen geraten? Das ist ja auch so ein Thema, von dem ich, das freut mich auch, dass ich von vielen Leuten auch höre, die mit dem Thema Missbrauch im engeren Sinn gar nichts zu tun haben, die aber Erfahrung haben mit gravierenden psychischen Krisen und für die das Buch irgendwie, die das gerne lesen und sich da irgendwie auch drin wiederfinden oder sie es auch vielleicht ermutigend finden. Und das alles droht schon jetzt nicht insgesamt, aber doch für einige Leute vollkommen unterzugehen, weil dieses Missbrauchsthema schon eine große - ja, wie soll ich das sagen? - das mit sich bringt, alles andere so an den Rand zu drücken für viele. Das ist einfach immer noch so.
[00:17:05.820] - Nadia Kailouli
Ja, du sprichst gerade eben die psychische Komponente an. Ich finde, was bei dir so beeindruckend ist, ist, dass du das so klar beschreiben kannst, was viele ja dann auch eher als Tabu sehen, dieser Rückzug, diese Selbstgespräche, dieses sich in Frage stellen: "Ist das jetzt richtig, woran nicht? Also ist das jetzt wirklich passiert oder nicht? Ich weiß es nicht", und so. Wie bist du damals damit umgegangen, als du gemerkt du hast: "Okay, verarbeite ich hier gerade irgendwas? Kommt was hoch, was nicht hochkommen soll, was nicht hochkommen darf? Warum führe ich eigentlich andauernd diese Selbstgespräche?" Wie bist du damit umgegangen?
[00:17:39.840] - Jutta Reichelt
Also das hat mich schon sehr unglücklich auch oft gemacht. Ich erzähle das ja auch, dass es so ein paar Jahre gab, vor ungefähr knapp 20 Jahren, glaube ich, als ich diese zweite Therapie begann und zu Frau H. kam, die eine größere Rolle auch in diesem Text spielt. Und da ist eben dann erst innerhalb relativ kurzer Zeit ist da einiges für mich zusammengebrochen. Vor allen Dingen gar nicht, das hatte auch da gar nicht so viel mit mit aufgetauchten, neu aufgetauchten Erinnerungen zu tun, sondern mir ist einfach klar geworden, wie lange ich selber mir was vorgemacht habe über mich selber, über die Schwierigkeiten, in denen ich stecke, über die Verrenkungen, die ich mache, irgendwie glauben zu können, ich würde ein halbwegs normales Leben führen. Und als mir das klar wurde, in was für einem Schlamassel ich da jetzt seit wirklich vielen, vielen Jahren steckte. Und es sah ja auch nicht so aus, als wenn ich da so ohne Weiteres rauskäme. Ich hatte ja auch schon ein Alter, in dem man einfach normalerweise im Beruf steht, eine Ausbildung hat. Ich hatte das alles nicht. Ich hatte mein Studium abgebrochen, ich hatte keine Ausbildung. Ich hatte jahrelang meine demenzkranke Tante gepflegt, was ja irgendwie so ganz ehrenwert und nett war, aber natürlich mich auch nicht irgendwie jetzt beruflich einem Job nähergebracht hätte. Also das war ja schon eine wirklich auch schwierige Situation und da ging es mir auch schlecht und da war ich auch verzweifelt. Und das war schon auch eine schwierige Zeit, auf jeden Fall.
[00:19:06.280] - Nadia Kailouli
Du beschreibst das, finde ich, auch ganz gut auf Seite 21. Bitte schön.
[00:19:11.020] - Jutta Reichelt
Dankeschön.
[00:19:15.420] - Jutta Reichelt
Manchmal saß ich mit Freundinnen in einer Kneipe und hatte ein derartiges Bedürfnis, statt mit ihnen mit mir selbst zu reden, dass ich dafür aufs Klo ging, als würde ich mir dort die ersehnte Dosis eines Suchtmittels verabreichen müssen. Das war auch deswegen absurd, weil ich im Grunde noch nicht einmal mit mir selbst, sondern immer mit nicht anwesenden anderen redete. Offenbar ging ich aufs Klo, weil ich statt mit realen anderen, lieber mit erfundenen Anderen reden wollte. Wie absurd war das? Wie beschämend? War ich verrückt geworden?
[00:19:51.790] - Nadia Kailouli
Wie oft hast du dir diese Frage gestellt: „Bin ich verrückt geworden?"
[00:19:54.890] - Jutta Reichelt
Das war über Jahrzehnte die zentrale Frage eigentlich meines Lebens und ich war einerseits absolut sicher, dass ich es nicht bin. Ich war ja in so vielem so normal irgendwie auch. Ich erzähle davon ja auch. Ich war Klassensprecherin und Schülersprecherin. Ich war eine gute Volleyballerin. Die Leute, die mich kannten, hielten schon auch immer für möglich, dass aus mir wirklich, was werden würde. Ich galt als vernünftig. Da ist niemand auf die Idee gekommen, dass ich jetzt ernsthaft irgendwie verrückt sein könnte und gleichzeitig wusste ich eben: Das ist doch verrückt, was ich da mache. Diese pausenlosen Selbstgespräche und solche Sachen wie aufs Klo gehen, weil ich das nicht… Also das war ja schon irgendwie gravierend.
[00:20:38.250] - Nadia Kailouli
Dein Buch beginnt mit dem Satz, den lese ich jetzt vor: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt." Und ich habe sehr mit mir gerungen, was für eine persönliche Gefühlshaltung ich dazu habe. So nach dem Motto: „Puh, das ist aber traurig" oder „Puh, was für eine Erkenntnis." Also ich war so ambivalent, ob ich das jetzt traurig finde oder ob ich das stark finde, dass man diese Erkenntnis gewinnt. Wie ging es dir, als du diesen Satz aufgeschrieben hast?
[00:21:07.230] - Jutta Reichelt
Wie ging es mir? Also ich glaube, ich war froh, dass ich das so ganz gut auf den Punkt gebracht habe, was ja wirklich für mich vielleicht tatsächlich das zentrale Problem ist. Also genau das, dass ich irgendwann feststellen musste, ich habe mich über wahnsinnig viel in meinem Leben geirrt und ich hätte das Buch nicht geschrieben, wenn ich nicht gleichzeitig überzeugt wäre, dass sich relativ viele Leute, natürlich nicht in dem Ausmaß, wie ich mich geirrt habe, aber schon auch eben über vieles von dem, was ich dann auch beschreibe in dem Buch, ebenfalls irren, also darüber, wie solche Familien - ich habe das ja eben erwähnt -, also wie solche Familien sind, in denen es sexuelle Übergriffe gibt oder welche Folgen es hat und wann die auftreten oder wie sehr auch so gesellschaftliche Mechanismen eine Rolle spielen, wie zum Beispiel, dass man eben ganz ungern ein Opfer sein möchte und alles tut, um das eben zu vermeiden.
[00:22:07.810] - Nadia Kailouli
Jetzt hilfst du, glaube ich, vielen Menschen mit diesem Buch, die Missbrauch erlebt haben oder etwas erlebt haben in ihrem Leben, wo sie sagen: "Mir hat so jahrelang die Verarbeitung dahin eigentlich gefehlt." Und denen hilft so was. Was hätte dir damals geholfen, um besser zu verarbeiten, was du erlebt hast?
[00:22:29.490] - Jutta Reichelt
Das ist also ganz, ganz schwer für mich, mir da was vorzustellen. Ich glaube, ich bin ja ein absoluter Fan, muss ich sagen, von dem Namen eures Podcasts "einbiszwei". Und ich glaube, das hätte mir schon geholfen und das würde auch heute ganz sicher ganz vielen helfen, wenn einfach dieses Wissen, wie verbreitet sexuelle Übergriffe sind und wie normal die Familien sind, in der das passiert und wie normal die Männer in vielerlei Hinsicht sind, wenn das einfach viel klarer wäre, wenn das sich mehr rumsprechen würde, wenn das ein selbstverständlicheres Wissen wäre, wenn es selbstverständlicher wäre, das erwähnen zu können, dass es so ist.
[00:23:12.330] - Nadia Kailouli
Ich finde das so spannend, dass du das sagst, weil mir gerade selber so aufgefallen ist, dass man selbst für sicher seine Familie immer auf so ein Podest stellt, aber schon sagt: „Hey, bei uns ist alles okay. Wir sind eine normale Familie." Und dass eben sexuelle Übergriffe genau dort in diesen normalen Familien passiert. Das finde ich, das hast du eingangs, als du angefangen hast, über deine Familie zu sprechen, irgendwie so klargemacht, dass man jetzt nicht sagen kann: „Ich kam ja sowieso schon aus einer Familie, da war alles immer schlimm und der Vater war immer schlimm und die Mutter war immer schlimm und ich war alleine." Sondern dass es genau der Ort sein kann, wo es zu Übergriffen oder auch Gewalt eben kommen kann.
[00:23:53.010] - Jutta Reichelt
Genau. Im Zug auf dem Weg hierhin habe ich so Unterlagen einer Weiterbildung für Lehrer:innen aus Bremen gelesen, weil da mein Buch empfohlen wird und der Verfasser hatte mich gefragt, ob das so in dem Kontext alles für mich okay ist und deswegen hatte ich mir das angeguckt. Und da ist nämlich genau auch so eine Untersuchung zitiert, in der 90% der Befragten sagen: „Ich kann mir vorstellen, dass die allermeisten sexuellen Übergriffe innerhalb von Familien passieren." Und 85% sagen: „Ich bin mir ganz sicher, oder ich würde es absolut ausschließen, dass in meiner Familie es zu sexuellen Übergriffen kommt." Was ja schon zeigt, da stimmt ja was nicht. Es kann ja nicht hinhauen. Und genau das, was du eben beschrieben hast, so ist es eben. Wir sind uns ganz sicher: "Nicht bei uns."
[00:24:43.960] - Nadia Kailouli
Ja, viele mit denen ich gesprochen habe, die hatten auch so ein Bedürfnis lange, lange Zeit auf die Frage: „Warum hast du denn nichts gesagt?" War oft dieses: „Ich wollte ja auch meine Eltern irgendwie schützen." Man liebt ja seine Eltern dennoch. Ging es dir oder hattest du jemals den Gedanken: „Ich kann das jetzt nicht alles aufschreiben und öffentlich machen, weil ich möchte nicht, in Anführungsstrichen, dass man schlecht über die Familie denkt, in der ich aufgewachsen bin?" Komplett im großen Raum, also Schwester, Mutter, alle?
[00:25:14.330] - Jutta Reichelt
Ja, genau. Also das hat auf jeden Fall für mich eine Rolle gespielt, eine große Rolle im Hinblick auf meine Geschwister, im Hinblick auf meine Eltern weniger. Mein Vater ist schon relativ lange, lebt er nicht mehr und da fand ich auch, dass im Hinblick auf meine Eltern eine relativ eindeutige Sache, dass die uns so viel Unglück und Not zugemutet haben, in die wir geraten sind, alle vier, dass sie sich das gefallen lassen müssen. Sie hätten angezeigt werden können für das, was da passiert ist und das wäre mit einer ganz anderen Form von Öffentlichkeit und Konsequenzen verbunden gewesen. Also bei denen war ich mir sehr sicher, dass ich das in Ordnung finde, was nichts daran ändert, dass ich jetzt schon auch das ganz, was heißt gut finde, aber schon auch irgendwie froh bin, dass auch meine Mutter, die lebt jetzt auch nicht mehr und muss sich da auch nicht mehr zu verhalten. Insofern, das finde ich schon, das macht die Sache ein bisschen einfacher. Aber was meine Geschwister betrifft, da fand ich das eine ganz wichtige und auch schwierige Frage, ob die nicht das Recht haben, auch unerzählt zu bleiben. Und das hat mich lange beschäftigt und ich habe das Glück gehabt. Ich habe ihnen dann irgendwann, als ich schon relativ weit war, dann das Manuskript in der damaligen Version geschickt und ihnen gesagt, dass ich mich freue, wenn sie sagen, was sie davon halten, beziehungsweise wenn sie die Passagen, wo sie Einwände haben, mir nennen. Und es hat sich dann herausgestellt, dass sie keine Einwände hatten und der ganzen Veröffentlichung auch eher positiv gegenüber eingestellt waren. Ja, genau. Also insofern habe ich dann Glück gehabt, aber das konnte ich ja nicht wissen, dass es so kommt und das hat mich schon sehr beschäftigt.
[00:26:52.010] - Nadia Kailouli
Aber ich finde es interessant, dass du jetzt sagst, du hast den Passagen irgendwie, wo sie vorkommen, zur Verfügung gestellt, aber du hast nie in Frage gestellt, dass das, was du für dich, also nur deine Geschichte, dass du dir da nicht reinreden lässt.
[00:27:04.940] - Jutta Reichelt
Also ich habe das erst mal als Frage geschoben. Das ist auch so was, was ich eigentlich in den Werkstätten den Leuten empfehle: Schreibt erst mal so, wie ihr es schreiben würdet, wenn es keine anderen Leute gibt. Und dann, wenn der Text Substanz hat, dann fangt man an zu überlegen: "Will ich das? Kann ich das? Oder was bedeutet das für andere?" Und ich habe ja schon auch in dem Text versucht, meine Geschwister so weit wie möglich überhaupt rauszuhalten. Die tauchen da gar nicht so viel auf und ich lasse da auch einiges offen, damit sie gar nicht erst, auch als sie sich das dann angeguckt haben, in die Situation kommen, da sich zu verhalten zu müssen. Ich habe das nicht immer gewusst, ob ich das richtig finde, aber ich habe das Gefühl gehabt, ich muss es erst mal aufschreiben und dann first things first, dann kann ich eigentlich erst wirklich überlegen, ob das in Ordnung ist.
[00:27:56.540] - Nadia Kailouli
Jetzt haben wir ja eine Hörprobe versprochen und jetzt kommt hier ein Brecher, also ein bisschen mehr. Ich hoffe, das ist okay und wir würden dir jetzt hierbei einfach gerne ein bisschen zuhören.
[00:28:07.520] - Jutta Reichelt
Ja, gerne. Ja genau, das ist eine Passage, die ich selber auch gerne mag und in der es um die Therapie, und insbesondere den Anfang der Therapie, bei Frau H. geht.
[00:28:20.940] - Jutta Reichelt
.Ein Rausschmiss stand in meiner Vorstellung jahrelang unmittelbar bevor, weil es gab unzählige Gründe, weil es mir so schlecht ging. Frau Ha würde sagen, dass sie mir offenbar nicht helfen könne und ich bei jemand anderem sicherlich besser aufgehoben wäre, weswegen Frau H. auch nicht wissen durfte, wie schlecht es mir ging. Vielleicht ging ich aber auf Frau H. wegen meiner Hinweise darauf, wie schlecht es mir ging, an denen ich es natürlich dennoch nicht fehlen ließ, unglaublich auf die Nerven. Damit und mit unerhört vielem anderen auch. Mit meinen Anrufen und Briefen und mit den Geschichten und Texten, die ich schrieb und die Frau H. lesen musste, weil ich damit viel besser, weil ich, wenn überhaupt, nur damit erklären konnte, was mit mir los war. Es gab natürlich noch unzählige andere Verhaltensweisen, mit denen ich Frau H. auf die Nerven ging. Und wenn ich das manchmal andeutete und Frau H. behauptete, dass dem nicht so sei, glaubte ich ihr meistens nicht oder nur kurz, nur, solange sie mich freundlich ansah. Aber sobald ich die Praxis verlassen hatte, glaubte ich ihr schon nicht mehr, was ja auch irgendwie schräg war und sie möglicherweise verärgerte. Am schlimmsten wäre es, dachte ich manchmal, wenn ich ihr tatsächlich eigentlich gar nicht auf die Nerven gegangen war, sondern erst durch meine Angst davor, ihr auf die Nerven zu gehen und durch meine ganze diesbezügliche Fragerei womöglich erst hervorrief, was ich doch unbedingt vermeiden wollte: Mein Rausschmiss, was ja wirklich vollkommen idiotisch gewesen wäre, irrsinnig und eine echte Katastrophe. Denn das Allerschlimmste war ja: Ich brauchte Frau H., um zu überleben.
[00:30:05.800] - Nadia Kailouli
Wow, dieser Weg zur Therapie, ne? Was war da los? Ja, na ja, auf der einen Seite denkt man sich ja: „Ich habe einen Therapieplatz, da kann ich hingehen", aber das war ja komplett ambivalent, wie du ja schon sagtest: "Ich brauche sie, aber eigentlich will ich, dass sie sagt: 'Sie brauchen nicht wiederkommen.'"
[00:30:24.060] - Jutta Reichelt
Ja, ich hatte Angst davor, dass sie das sagt. Genau, ich habe das wirklich gehasst, diese Abhängigkeit, in die ich da innerhalb sehr kurzer Zeit geraten bin. Und ich will da auch jetzt eigentlich gerne sofort, weil ich da auch schon ein-, zweimal drauf angesprochen bin, was zu sagen. Also das, was mir da widerfahren ist, auch diese Abhängigkeit, in die ich geraten bin. Das war schon was Ungewöhnliches, da muss jetzt irgendwie… Also es gibt Leute, die das lesen und die jetzt Sorge haben, wenn sie sich durchringen, vielleicht doch mal zu einer Therapeutin zu gehen, dass ihnen was Vergleichbares passiert. Was es schon öfter mal gibt, ist natürlich, dass wenn man lange Zeit Probleme versucht hat, an denen vorbeizuleben oder wegzugucken, und dann setzt man sich da hin und bringt damit ja schon auch in einer gewissen Weise für sich selber zum Ausdruck: "Ich nehme das jetzt mal ernst", dass das natürlich auch mit schwierigen Situationen und Gefühlen zu tun hat. Und dann geht es einem nicht sofort unbedingt besser, sondern es kann auch sogar wirklich sein, dass es einem dann erst mal ein bisschen schlechter geht. So extrem wie das bei mir war, sowohl mit dem Schlechtergehen, als auch mit der Abhängigkeit, in die ich geraten bin, das ist schon, glaube ich, sehr selten und das hat wirklich auch was damit zu tun, mit der wirklich langen, langen Zeit, die ich ja sehr, sehr viel Energie verwendet habe, darauf vorbeizugucken und - das ist ja so ein Bild, was ich verwende - den Abgrund, an dem ich eigentlich mein Leben verbracht habe, zu leugnen oder nicht zu sehen. Und damit hat es wiederum zu tun, dass diese Erkenntnis, die ich dann hatte, woran ich da überhaupt alles vorbeigesehen habe, dass die mich so umgehauen hat und dass ich da in solche Schwierigkeiten geraten bin. Genau, und für mich war es natürlich dann wirklich eine große Herausforderung und es war nicht schön und ich habe es gehasst.
[00:32:10.400] - Nadia Kailouli
Aber es ist halt wieder das. Es ist halt jetzt auch Teil einer Geschichte, ja, es sind so Wendepunkte im Leben. Da geht man schon mal zur Therapie und du hattest jetzt eben nicht die allerbeste Erfahrung, sagen wir mal, oder halt eine Herausforderung, sowohl mit dir selbst, als auch mit der Therapeutin. Das sind ja dann was man dann als die Wendepunkte, glaube ich, so sieht, die im Leben passieren.
[00:32:34.680] - Jutta Reichelt
Genau, aber ich meine, insgesamt hatte ich ja meiner eigenen Einschätzung nach und ich glaube auch der Einschätzung von Frau H. nach, hat es sich ja sehr positiv entwickelt, weil Frau H. - und ich glaube, das ist ja am Ende dann mit das Wichtigste bei Therapeut:innen -, dass sie irgendwie immer wieder neu auch auf die Suche gehen danach, wie ihren jeweiligen Patient:innen zu helfen ist.
[00:32:58.530] - Nadia Kailouli
Ich glaube, es ist wichtig, dass du das noch mal gesagt hast, dass der Weg zur Therapie nicht immer direkt bedeutet, man kommt sofort da super raus und alles ist gut, sondern Therapie weckt halt vieles auf, was erst mal nicht so schön ist und dann geht die Arbeit los. Aber noch mal dahingehend, jetzt sind wir gerade in einer Lesung und ich mache gerade das Publikum. Du liest also was vor und man freut sich total, aber man geht auf die Lesung und dann kann man auch noch mal Fragen stellen. Wie ist es für dich, dass du dann Fragen bekommst, die sowohl dich als Autorin betreffen? Man rechtfertigt sein Werk ja vielleicht hier und da mal und gleichzeitig erzählt man seine persönliche Geschichte und bekommt dahingehend ja auch Fragen. Wie war die oder wie ist diese Erfahrung für dich?
[00:33:39.690] - Jutta Reichelt
Ich finde das super. Also ich bin da auch irgendwie… Das ist ja das, weswegen ich das auch eigentlich gemacht habe, weil ich möchte, dass das möglicher wird, über genau solche Geschichten wie meine zu reden. Und auch in diesem Buch steht nichts, was mir irgendwie unangenehm wäre, was mich beschämt. Es gibt Sachen, die mich beschämen, die stehen dann eben nicht drin. Aber das, was da drin steht, das sind alles Sachen, mit denen ich für mich selber, so wie sie da stehen, gut leben kann. Und ich finde auch die Situation, wenn… Ich sage auch immer, ihr fragt, was euch interessiert, wenn ich das Gefühl habe, das ist nichts, wo ich was zu sagen kann oder möchte, dann sage ich das. Aber das ist ja auch kein Problem. Und mir ist das wirklich sehr wichtig und ich freue mich, dass das in der Regel auch wirklich gut funktioniert, dass Leute dann ihre Fragen stellen.
[00:34:29.830] - Nadia Kailouli
Wie ist das dann, als wenn wir jetzt wieder auf deinen Beruf nur zurückkommen, jetzt steht da halt eine Geschichte, eine Geschichte über sexuellen Missbrauch. Du wirst angefragt von Podcasts wie wir, von Expertinnen-Stellen und und und. Aber am Ende willst du ja weiterhin Geschichten schreiben. Tut man sich da schwer, back to business einfach zu gehen?
[00:34:52.780] - Jutta Reichelt
Also für mich ist das gar nicht so ein … Das ist eben auch business. Für mich ist das ein Text, der ist ja total durchgearbeitet. Das ist ein Text, das hört sich vielleicht ein bisschen komisch an, aber das passt ein bisschen auch zu dem, was du gesagt hast, dass du ihn auch in einer gewissen Weise schön fandest. Ich selbst bin von dem Text als Text mittlerweile wirklich auch sehr begeistert. Ich finde, der hat eine gute Energie, der hat einen guten Bogen, der ist schlank. Also so. Also für mich ist es wirklich ein Text und der ist, finde ich gut. Und insofern ist jetzt das nächste oder die anderen Sachen, an denen ich schreibe, Das ist für mich jetzt nicht so ein wahnsinniger Unterschied oder was ganz anderes, sondern das sind eben andere Texte, die ich versuche, so gut wie es mir möglich ist, zu verfassen.
[00:35:39.880] - Nadia Kailouli
Jetzt habe ich ganz ehrlich mich selber ertappt gefühlt, dass ich als Journalistin Fragen stelle, um irgendwie eine Schublade zu finden. Da habe ich mich jetzt … Ja, wirklich, ich habe mich jetzt gerade selber ertappt: "Moment, jetzt hat sie... Ja jetzt ist ja Autorin. Ja, aber es ist ja die persönliche Geschichte... Also jetzt ist sie ja da irgendwie so gebrandmarkt." Und ich finde das sehr gut, dass du das jetzt für mich klargestellt hast, so: "Moment mal, hör mal, wir reden hier gerade über mein Business, ja?" Dass das einfach klar ist. Und dann ist es man … Also ich war gerade selber erschrocken über mich selbst, wie man dann doch in der Denkfunktion damit trainiert worden ist: "Ja, Moment, aber man muss doch differenzieren zwischen der persönlichen Geschichte..." Und das tun wir natürlich auch. Aber du hast schon recht darüber, worüber wir heute sprechen, ist ein Buch, ist ein Werk, ist ein Business einer Autorin, die halt natürlich jetzt ein Thema niedergeschrieben hat, wovon es nicht so viele Bücher in dieser Art gibt, finde ich. Ja, aber das muss ich jetzt mal ganz ehrlich auch mal spiegeln. So, jetzt habe ich hier noch zwei Passagen. Ich gucke in die Regie: Wie viel dürfen wir denn noch? Eine Geschichte machen wir noch. Dann machen wir aber die Seite 114.
[00:36:45.020] - Jutta Reichelt
Wie lange habe ich mir nicht verzeihen können, dass ich meine Eltern geliebt habe? Wie lange habe ich mir gewünscht, es wäre anders gewesen? Es wäre mir, es wäre Kindern überhaupt möglich, sich von den Eltern, die sie nicht gut behandelt haben, abzuwenden, sie zu verlassen oder zumindest sie nicht mehr zu lieben. Es ist demütigend, jemand zu lieben, der einem Gewalt angetan hat oder Grenzen überschritten hat, der die eigene Integrität nachdrücklich beschädigt hat. Es ist demütigend, zu kollaborieren.
[00:37:18.690] - Nadia Kailouli
Ich glaube, damit hast du also von den Menschen, die ich hier schon kennengelernt habe, die sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie erlebt haben … Ich nehme mal das Wort sprichst du wirklich aus der Seele, weil damit tun sich wirklich viele ja schwer.
[00:37:34.700] - Jutta Reichelt
Ja, das ist ja auch wirklich… Es gibt ja ein ganzes Kapitel in dem Buch, das den Titel hat „Kinder sind Kollaborateure" und in dem ich versuche, dem nachzugehen und das auch irgendwie aufzuklären, was das für ein riesen Problem ist, wenn man da in einer gewissen Weise gezwungen war, mitzuspielen, wenn man Sachen gemacht hat. Ich schreibe das ja auch, dass ich mir lange Zeit gewünscht hätte, ich hätte mit drei Jahren gesagt: „So, jetzt reicht es mir, jetzt gehe ich und seid gut zu meinen Geschwistern und wenn ich irgendwas anderes höre, komme ich zurück und sorge hier für Ordnung." Das zeigt ja, wie wenig das möglich ist, sich als Kind so zu verhalten, wie man es sich aber gleichzeitig wünscht. Und ich glaube, dass das wirklich super verständlich ist, dass damit die allermeisten wirklich sehr hadern oder sehr große Schwierigkeiten haben und dann eben auch Geschichten wiederum erfinden, in denen das nicht auftaucht, diese eigenen Gefühle, dass man die Eltern geliebt hat, dass man eigentlich möchte, dass man aus einer guten Familie kommt. Niemand möchte das, niemand möchte aus einer Familie kommen, in der es Übergriffe oder Gewalt oder irgendwas in der Art gibt.
[00:38:51.730] - Nadia Kailouli
Darf man dann sich als Erwachsener sagen: „Ich liebe sie als erwachsene Person trotzdem immer noch"? Was heißt „darf man", aber wie...?
[00:39:02.470] - Jutta Reichelt
Ja, ich glaube, so wie du es jetzt … Genau, wenn es so ist, dann ist es so. Und ich glaube, ich beschreibe das ja auch bei meinen Eltern. Mit meinem Vater, der lebt schon lange nicht mehr und aber selbst der hat so - was ja schon ungewöhnlich genug ist - zu erkennen gegeben, dass er das phasenweise oder zum Ende hin begriffen hat, dass er uns da, also insbesondere meiner Schwester und mir großes Unrecht angetan hat. Und meine Mutter hat es eben auch dann, als sie sehr alt und auch schon verwirrt war, aber dann hat es zwischen uns, nachdem es ja viele Jahre lang nahezu keinen Kontakt gab, noch mal eine Annäherung gegeben, die es eben auch nur geben konnte, aus meiner Sicht, weil sie eben auch begriffen hat, dass das alles eine Katastrophe so war, wie es war. Und das ist ja was, was selten passiert. Und deswegen war ich da in einer gewissen Weise sogar irgendwie ein bisschen privilegierten Situation. Die meisten Betroffenen, die ich kenne, die erleben das nicht, dass die Eltern auf welche Weise auch immer überhaupt nur andeuten oder aussprechen, dass sie da sich wirklich große Schuld auf die Schultern geladen haben, dass sie da wirklich großes Unglück über die Kinder gebracht haben.
[00:40:14.980] - Nadia Kailouli
Spielt da Verzeihen eine Rolle? Kann man überhaupt verzeihen?
[00:40:18.540] - Jutta Reichelt
Also für mich spielt es keine Rolle, weil das ist auch für mich schon so ein wichtiges Thema, dass in meiner Erfahrung es eben in der Regel die Opfer sind, die sich ganz lange nicht verzeihen können, was passiert ist und die damit hadern, sich selbst zu verzeihen, während die Täter da wenig Probleme mit haben und sich irgendwelche Geschichten überlegen, weswegen das alles eigentlich halb so wild war oder sie verführt worden sind oder solche absurden Sachen.
[00:40:48.810] - Nadia Kailouli
Jutta Reichelt, wir danken dir sehr, dass du heute mit deinem Buch und Hörproben hier bei uns im Podcast warst, bei ein bis zwei. Vielen, vielen Dank und alles Gute weiterhin auf Lesetour. Falls du… Ich denke mal, du bist unterwegs.
[00:41:02.410] - Jutta Reichelt
Genau, ich freue mich über Einladungen und habe mich auch sehr über eure Einladung und jetzt auch über das wirklich total schöne Gespräch gefreut. Danke sehr. Vielen Dank.
[00:41:11.060] - Nadia Kailouli
Ja Leute, was soll ich sagen? Sagen, das war doch mal eine schöne Literaturesendung hier bei uns bei einbiszwei. Und soll ich euch mal was sagen? Ich bin doch etwas erstaunt - so nenne ich das jetzt mal -, dass es über ihr Buch „Mein Leben war nicht wie es war", gar nicht so viel mediale Berichterstattung gibt. Warum denn nicht? Deswegen hier mal ein Aufruf an alle Kulturjournalistinnen und -journalisten, die ganz tolle Sendungen machen, die ganz tolle Podcasts machen, wo Bücher vorgestellt werden. Ich finde, dass das Buch „Mein Leben war nicht, wie es war" mal als literarisches Werk in einem Podcast besprochen werden sollte. Ich finde, diesen Wert kann man in diesem Thema und diesem Buch durchaus geben. Also, ihr habt ja jetzt hier schon mal eine Kostprobe bekommen. Kauft es euch gerne. Ich darf hier Werbung machen. Nicht, dass ihr euch denkt: „Was? Sie riskiert gerade ihren Job". Nein, nein. "Mein Leben war nicht, wie es war": ich finde das wirklich ein tolles Buch und was vielleicht gar nicht so rübergekommen ist heute, weil wir wollten uns ja schon auch ein bisschen ernsthaft, natürlich mit dieser Thematik beschäftigen, aber das Buch hat auch durchaus humorvolle Kapitel, wo man auch mal ein bisschen drüber schmunzeln kann und das ist auch okay. Also "Mein Leben war nicht, wie es war" das ist ein Buch von Jutta Reichelt und sie war heute unser Gast. Wie schön ist das?
[00:42:30.930] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info. Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
„Ich bin Betroffene und habe es sehr lange verdrängt. Ich wusste nicht, wer ich bin und was ich hier soll. Dann habe ich mich erinnert. Und meine Bestimmung gefunden,” sagt die Schriftstellerin Jutta Reichelt. Sie hat es geschafft, mit „Mein Leben war nicht, wie es war“, ein berührendes Buch über sexuelle Gewalt zu schreiben, aber auch einen Text über das Erzählen, Traumata und die Überwindung der Sprachlosigkeit.
In ihrer Kindheit war sie sexuellen Übergriffen und emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt, glaubte aber jahrzehntelang, ein halbwegs normales Kind halbwegs normaler Eltern zu sein. Heute sagt die Schriftstellerin: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt.” Diese Erkenntnis ist Teil eines langen Prozesses, den sie nach einer existentiellen Krise mit Mitte Vierzig begonnen hat. Eine Suche danach, wie es wirklich war – und wie sie davon erzählen kann. In „Mein Leben war nicht, wie es war” verarbeitet sie ihre eigene Geschichte und erzählt von sexueller Gewalt in der Kindheit. Herausgekommen ist ein hochspannender, schön zu lesender Text, der vorführt, wie wichtig es ist, Auskunft über sich geben zu können.
Viele der Fragen, die sie dabei für sich klären muss, stellen sich nicht erst angesichts einer traumatischen Vergangenheit: Was können wir über uns wissen? Wie weit können wir unseren Erinnerungen trauen? Wo kollidiert unser Recht zu erzählen mit dem Recht anderer, „unerzählt” zu bleiben? Klug und zugleich tief berührend verwebt Jutta Reichelt in ihrem Buch das konkrete Material ihres eigenen Lebens mit diesen grundlegenden Themen und Fragen.
Ein Buch über Traumata und MeToo, über das Schreiben und Erzählen, ein Buch, das inspiriert und ermutigt, über die eigene Lebensgeschichte nachzudenken.
„Mein Leben war nicht, wie es war” – darüber spricht Jutta Reichelt bei einbiszwei.

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Website von Jutta Reichelt
Über das Schreiben von Geschichten
Jutta Reichelts Buch gibt es hier:
„Mein Leben war nicht, wie es war”
Rezension in der taz
Autobiografisches Buch über Missbrauch – Schreiben nach dem Schock
Jutta Reichelt im Interview mit WDR 5
Worte für das Unsagbare
Interview im Bremer Literaturkontor
Katharina Mild im Gespräch mit Jutta Reichelt
Interview im „Büro für Text und Literatur”
Jutta Reichelt im Gespräch: Wie war der Weg vom Manuskript zum Buch?
