
Wie schützt du bei dir vor Ort Kinder vor sexualisierter Gewalt in Kitas, Claas Löppmann?
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[00:00:01.700] - Claas Löppmann
Wir haben im Juni 2023 – kann man nicht anders sagen – die ganze Stadt gerockt zu dem Thema. Als wir uns klargemacht haben, mit was für gewichtigen Zahlen wir zu tun haben, also dass wir davon ausgehen müssen, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse betroffen sind und die Dunkelfeldziffern von noch wesentlich höheren Zahlen ausgehen, entstand eine Dynamik: Wir müssen was tun. Wir wollen was tun und wir wollen raus aus diesem schmuddeligen, merkwürdigen "Man spricht nicht über dieses Thema."
[00:00:25.390] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:49.380] - Nadia Kailouli
Sexuelle Gewalt an Kindern muss überall für möglich gehalten werden. Das sagt Claas Löppmann, Pädagogischer Leiter der Stadt Walsrode und Mitglied im Betroffenenrat bei der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Der Erzieher und Pädagoge setzt sich dafür ein, dass flächendeckend Maßnahmen für den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen verpflichtend werden. Ist es nämlich nicht, ne? Wie das geht, zeigt er in den Kitas der Stadt Walsrode, für die er verantwortlich ist. Wir sprechen mit ihm darüber, wie man Kinder wirkungsvoll schützen kann, wie man andere dafür begeistert, sich um Kinderschutz zu kümmern und wie man Eltern klarmacht, dass sie verantwortlich sind und nicht irgendjemand anderes. Wie das geht, das erzählt er uns, denn er ist heute hier. Dann sage ich herzlich willkommen bei einbiszwei, Claas Löppmann.
[00:01:35.350] - Claas Löppmann
Hi.
[00:01:35.870] - Nadia Kailouli
Schön, dass du da bist. Wir haben uns schon mal kennengelernt, und zwar auf den Kampagnenveranstaltung vom UBSKM. Warum war ich da eingeladen? Wegen dem Podcast. Warum warst du da eingeladen? Weil du unter anderem auch im Betroffenenrat vom UBSKM sitzt. Vielleicht, klar, fangen wir direkt mal damit an, dass wenn wir schon mal jemanden hier haben, der im Betroffenenrat sitzt, der uns einmal kurz erklärt, was ist das eigentlich?
[00:01:58.230] - Claas Löppmann
Voll gern. Der Betroffenenrat bei der UBSKM, das ist die unabhängige Beauftragte für Fragen der sexuellen Kindesmissbrauch, sitzen 18 Menschen, deren ehrenamtliche Tätigkeit ist, die Belange von Betroffenen sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend auf höchster politischer Ebene in die politischen Strukturen zu bringen. Das heißt, wir schauen, was bekommen wir mit, was begegnet uns aus Gesprächen mit Betroffenen, aus Politik, aus Presse, aus Wissenschaft und schauen, wie kriegen wir das in die politischen Strukturen.
[00:02:26.470] - Nadia Kailouli
Du kannst das vor allem sehr gut, weil du als pädagogischer Leiter der Stadt Walsrode in der Kita arbeitest und dahingehend sehr, sehr viele Berührungspunkte hast, wie eben Schutz von Kindern in Kitas aussehen sollte und wie man das Thema sexualisierte Gewalt da überhaupt so reinbringt, in diesem Sinne, dass man davor schützen muss. Und bevor wir darüber sprechen, in dem Betroffenenrat sitzt man ja auch, weil man selbst Betroffener zum Teil auch ist. Magst du uns einmal deine Geschichte erzählen?
[00:03:00.060] - Claas Löppmann
Gerne in kurzen Umrissen. Ich vermeide es immer, meine ganz persönliche Geschichte zu erzählen, aber total gerne. Mir ist sexualisierte Gewalt in einem institutionellen Hintergrund widerfahren. Das heißt, es war eine große Einrichtung für rund 100 Jugendliche und der Missbrauch wurde auf eine sehr perfide Art und Weise von einer Tatperson durchgeführt. Ich nenne den Namen der Einrichtung nicht, weil es bis heute keine Aufklärung gibt und ich andere Betroffene, die sich bis heute nicht äußern konnten, nicht äußern wollten, schützen möchte. Ich würde aber behaupten, dass das Ausmaß, was eine einzelne Person vielen damals Jugendlichen angetan hat, nahezu unvergleichbar ist in der deutschen Geschichte. Damit möchte ich nicht andere Tatkontexte irgendwie in den Austausch stellen oder Ähnliches, weil auch da die Zahlen fehlen, aber je nachdem, ab welcher Stelle man sexualisierte Gewalt definiert, kam es da zu Übergriffen, wo es darum ging, dass Jugendliche dazu aufgefordert wurden, sich im Duschbereich gegenseitig zu berühren und dabei die tatausführende Person stand, sind wir deutlich im Bereich von über 500 Kindern und Jugendlichen, die durch diese Person Missbrauch erfahren haben, was weitaus noch größere Ausmaße hatte. Genau, aber das ist der Hintergrund.
[00:04:11.020] - Nadia Kailouli
Da macht dieser Fall, den du selbst erlebt hast, ziemlich klar deutlich, dass es gerade in institutionellen Organisationen, in Einrichtungen Schutzkonzepte braucht, dass es eben nicht Täterinnen und Tätern, ich sage jetzt mal in Anführungsstrichen, "leicht gemacht" wird, eine Masse von Kindern und Jugendlichen zu missbrauchen. Gab es damals, als du Jugendlicher warst, in irgendeiner Richtung überhaupt da ein Thema drumherum, dass es Anlaufstellen gibt, dass es Ansprechpartner gibt, dass es das eigentlich gar nicht geben sollte, dass Kindern und Jugendlichen so nahe kommt?
[00:04:45.370] - Claas Löppmann
Aus heutiger Sicht weiß ich, es gab es. Es gab diese Anlaufstellen. Sie waren uns als Jugendliche aber nicht bekannt beziehungsweise die tatausführende Person, der Täter ist sehr perfide damit umgegangen und er hat uns den Eindruck vermittelt, er kennt diese Menschen alle, er sei auch bestens vernetzt mit der Polizei. Er hat das nicht in einem bedrohlichen Kontext gesagt, aber uns war klar… Oder er hat uns das Gefühl gegeben, wenn wir uns da hinwenden, bekommt er das als erstes mit und die Personen werden nicht auf unserer Seite sagen. Heute weiß ich, es gibt diese Strukturen und weiß, wie wichtig es ist, Kindern, Jugendlichen, aber besonders Eltern, auch Wege aufzuzeigen, Kontakt zu diesen Stellen aufzunehmen.
[00:05:24.590] - Nadia Kailouli
Jetzt bist du selbst sehr aktiv dahingehend, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen, vor allem Kinder eben in Kitas. Du bist Pädagogischer Leiter der Stadt Walsrode und bist da vor allem auffällig geworden mit einer Aktionswoche. Vielleicht magst du selber mal erzählen, was es damit auf sich hat.
[00:05:43.660] - Claas Löppmann
Super, gern. Wir haben im Juni 2023 – kann man nicht anders sagen – die ganze Stadt gerockt zu dem Thema, weil ich saß mit jungen Menschen zusammen mit FSJler:innen und wir haben uns routinemäßig dem Thema sexualisierter Gewalt angenähert. So mache ich das in den Seminaren. Und an der Stelle, als festgestellt wurde, als wir uns klargemacht haben, mit was für gewichtigen Zahlen wir zu tun haben, also dass wir davon ausgehen müssen, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse betroffen sind und die Dunkelfeldziffern von noch wesentlich höheren Zahlen ausgehen, entstand eine Dynamik: Wir müssen was tun. Wir wollen was tun und wir wollen raus aus diesem schmuddeligen, merkwürdigen: "Man spricht nicht über dieses Thema." Und dann haben wir alles, was ging, in Bewegung gebracht. Wir haben mit Bäckereien zusammengearbeitet, dass Brötchentüten bedruckt werden. Wir haben es bis ins Kino geschafft, dass da der Film gezeigt wird. Wir haben große und kleine Pressekonferenzen veranstaltet. Es ist uns ausnahmsweise gelungen, Kerstin Klaus, die UBSKM, nach Walsrode zu bekommen. Und wir waren sehr präsent in einer großen Wand, kannst du dir vorstellen, wie eine großes Plakatwand, die mitten in der Fußgängerzone steht, wo ich nicht herum komme im wahrsten Sinne des Wortes und sind direkt auf Leute zugegangen, ganz viel in verschiedenen Formaten.
[00:06:53.840] - Claas Löppmann
Wir haben uns dabei orientiert an der Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg", heute "Schieb deine Verantwortung nicht weg" und haben geantwortet auf die Aufforderung „Schieb den Gedanken nicht weg" mit dem Statement: "Walsrode, schiebt den Gedanken nicht weg". Unser bestsichtbarstes Format waren 6.500 Taschen, die wir verteilt haben in allen Krippen, Kitas und weiterführenden Schulen und Grundschulen in Walsrode, mit dem Ziel, jeden, jede Schüler:in damit zu erreichen. Man sieht diese Taschen bis heute. Genau, und bis heute bekomme ich von anderen Kommunen, von außen, Anfragen: "Mensch, wie habt ihr das denn gemacht? Wie können wir das machen?" Dazu ist auch eine Broschüre erschienen: "So geht Aktionswoche", die unter www.nicht-wegschieben.de einzusehen ist.
[00:07:37.960] - Nadia Kailouli
So macht man das richtig. Man muss direkt platzieren, wo man die Inhalte findet, die man vorbereitet hat. Sehr gut.
[00:07:43.110] - Claas Löppmann
Genau, das ist die Außenwirkung in der Innenwirkung bis heute, aber tatsächlich auch ein Vorankommen in dem Thema.
[00:07:48.440] - Nadia Kailouli
Jetzt, wenn ich so eine Brötchentüte habe, wo drauf steht „Schieb den Gedanken nicht weg", dann weiß ich erst mal nicht sofort, was wollen die mir damit sagen. Wie habt ihr dann auch konkret vermittelt: "Hier geht es um das Thema sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen"?
[00:08:01.170] - Claas Löppmann
Genau damit. Weil ich diese Überschrift lese, "Schieb den Gedanken nicht weg" und automatisch der Reflex des Menschen ist - deswegen mag ich das so, diese Formulierung - zu fragen: „Was soll ich denn nicht wegschieben?" Und sich dann näher damit befassen. Und wer einmal Brötchen gegessen hat, weiß jetzt vielleicht nicht mehr, aus welcher Brötchentüte habe ich gestern gegessen. Da steht vielleicht der Name der Bäckerei drauf, aber so dieses Neugierig-Machen und zu sagen: "Was soll ich denn nicht wegschieben?" Und das damit durch Brötchentüten ganz direkt wirklich an den Küchentisch zu bekommen. Das war uns ein Anliegen, auch dieses Format Küchentisch zu bespielen.
[00:08:35.790] - Nadia Kailouli
Nun ist es ja so, die Stadt Walsrode ist jetzt keine Metropole. Ich war da noch nie, aber ich kann mir gut vorstellen, dass man sich da gut kennt. Nicht vielleicht jeder kennt jeden, es ist jetzt kein Dorf, aber es spricht sich sehr, sehr schnell herum, wer wo was macht. War das ein Hindernis, dieses Thema sexualisierte Gewalt so in die Brötchentüte zu bekommen und auf den Küchentisch und auf Aktionsstände und die Leute ja damit auch anzulocken? Oder hat man sich eher gedacht: „Was soll das denn jetzt? Hier in Walsrode ist doch die Welt in Ordnung. Uns betrifft das hier nicht. Wir sind ja nicht Berlin."
[00:09:09.790] - Claas Löppmann
Um es ganz konkret zu machen, Walsrode hat 30.000 Einwohner:innen. Nein, das war gar kein Problem. Im Gegenteil, das waren die Ängste, die wir hatten, weil man halt auch in einer Stadt wie Walsrode definitiv nicht anonym ist. Und wer sich das Thema auf die Fahnen schreibt, wird mit dem Thema an der einen oder anderen Stelle sicher in Berührung geraten. Aber es war ein riesengroßer Vorteil, weil ein wahnsinniger Zusammenhalt entstanden ist. Also uns hat tatsächlich kein Geschäft verneint, irgendwelche Plakate da aufzuhängen. Wir sind ganz schnell, wie gesagt, ins Kino gekommen. Wir hatten die Möglichkeit, Räumlichkeiten anzumieten. Was uns, glaube ich, dadurch gelungen ist, dass wir dieses Thema sehr offen und direkt angesprochen haben und die Menschen damit konfrontiert haben, zu sagen: "Wir haben festgestellt, wir haben ein Problem. Wir haben viel zu viele Kinder in Deutschland, die sexualisierte Gewalt erleben und wir werden da jetzt was gegen tun. Wollen Sie mitmachen?" Und an diesem Punkt habe ich es zu keinem Zeitpunkt erlebt, dass jemand gesagt hat: „Nein, da will ich nicht mitmachen", sondern auch bis du den Schulleitungen tatsächlich alle mitgezogen haben.
[00:10:07.440] - Nadia Kailouli
Jetzt geht ja so eine Aktion oder so ein Engagement natürlich über eine Aktionswoche hinaus. Die Aktionswochen sind immer gut, weil dann schafft man sehr, sehr viel Aufmerksamkeit in kürzester Zeit. Du hast gerade die Broschüre schon angesprochen, die man auch online finden kann. So geht das. Schaut euch diese gerne mal an. Aber darüber hinaus ist es ja vor allem auch dein Anliegen, zu sagen: "Wir müssen jeden Tag gucken, dass wir unsere Kinder schützen." Und wo schützen wir sie? Da, wo sie am meisten Zeit verbringen. Das heißt, zu Hause oder eben in Einrichtungen wie Kitas. Nun habe ich das selber aus Recherchen oder persönlichen Gesprächen mit Freunden erlebt, wo Kinder zum Beispiel in Kitas waren, wo es Verdachtsfälle gibt oder so, dass die – und man kennt das auch aus der Presse – Kindergärten, Kitas denen jetzt nicht daran gelegen ist, das groß nach außen zu hängen, weil man möchte nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Man möchte das Thema eigentlich gar nicht bei sich im Haus haben und "solange nichts von der Staatsanwaltschaft bewiesen ist, müssen wir auch gar nicht darüber reden", weil sonst kommt ja keiner mehr und bringt die Kinder her oder was weiß ich. Erlebst du das auch? Und wenn ja, was ist der richtige Umgang damit?
[00:11:12.830] - Claas Löppmann
Der richtige Umgang für mich ist einmal zu sagen, es handelt sich hier nicht um Generalverdacht oder um eine Einrichtung in den Dreck zu ziehen, sondern es ist ein Qualitätsmerkmal, was wir uns geben. Und es ist auf der einen Seite sehr traurig, sich das Qualitätsmerkmal geben zu müssen, dass Kinder an diesem Ort geschützt werden, weil das sollte selbstverständlich sein. Was aber sehr gut funktioniert, ist, den Blick zu ändern, weil es fällt so schwer, darüber zu reden, eben weil eine Institution dadurch in Schwierigkeiten geraten kann oder Einzelpersonen, aber den Blick auf das Kind zu wenden und zu sagen: „Ich kann hier ganz konkret Dinge tun und wir müssen Dinge tun, um das Kind zu schützen", wie zum Beispiel mit Kindern ins Gespräch zu kommen, hinzuschauen: "Wie geht es dem Kind?" Und nicht hinzuschauen: "Was könnte eine Tatperson tun?". Und Kindern glauben und Kindern Mut machen. Und das Allerwichtigste, das sage ich immer auf Veranstaltungen, das sage ich auch in einzelnen Gesprächen, ist, die Vorstellung zuzulassen, dass Kindern sexualisierte Gewalt widerfährt und den Raum dahin zu öffnen, dass es eben nicht darum geht, dass davon ausgegangen wird, dass in einer Einrichtung sexualisierte Gewalt stattfindet, sondern dass Kinder an diesem Ort, an diesem Schutzort, die Möglichkeit haben, sich zu äußern. Und dann, Komma, es kann natürlich auch an diesem Ort zu Übergriffen kommen. Das macht aber einen ganz anderen Raum auf und bringt die Leute viel mehr mit rein und weg von der Abwehrposition.
[00:12:29.040] - Nadia Kailouli
Wie reagiert man dann auf das, was du sagst, das Qualitätsmerkmal, was man ja eigentlich haben möchte als Einrichtung, als Kindertagesstätte? Aber nun hat es ja nicht jede Einrichtung, oder hat es jede Einrichtung mittlerweile? Ich weiß gar nicht.
[00:12:43.780] - Claas Löppmann
In Walsrode ja.
[00:12:43.990] - Nadia Kailouli
In Walsrode ja. Okay, das ist ja schon mal gut. Aber ich bin gerade gar nicht auf dem aktuellen Stand. Ich weiß gar nicht mehr, ist es jetzt gesetzlich… Eigentlich gibt es doch eine gesetzliche Vorgabe, dass man in Einrichtungen, wo Kinder und Jugendliche sind, es ein Schutzkonzept geben sollte oder müsste?
[00:13:01.100] - Claas Löppmann
Ich mag deine Grundeinstellung. Ich kann es dir ganz konkret beantworten. Im Grundschulbereich ist es in neuen Bundesländern Stand heute verpflichtend. Das ist gut. Das ist eins mehr als die Hälfte unserer Bundesländer. Im Kita-Bereich kann ich es dir flächendeckend gar nicht genau sagen. Ich kann dir sagen, dass es in Niedersachsen verpflichtend ist, was ich sehr gut und sehr richtig finde und bin da ganz bei dir. Es sollte und muss so sein, dass jegliche Einrichtung, in der mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird, ein Schutzkonzept besteht. Ich würde, das ist eine sehr persönliche Meinung, ich äußere auch öffentlich mein Unverständnis darüber, dass es überhaupt möglich ist, als eine Organisation in der Kinder und Jugendliche sich aufhalten, sei es in einer Vereinsstruktur oder ähnliches, erlaubt zu bekommen, ohne ein Schutzkonzept vorlegen zu müssen. Verstehe ich nicht und wünsche ich mir anders.
[00:13:46.110] - Nadia Kailouli
Wie sieht denn ein Schutzkonzept aus? Also was braucht es, damit man, ich sage jetzt mal, wenn wir mal in diesem Beispiel bleiben wollen, Qualitätsmerkmal bleiben wollen, was brauche ich denn für ein Schutzkonzept? Wie sollte das im besten Fall aussehen?
[00:14:02.040] - Claas Löppmann
Da kann ich dir neun sehr konkrete Punkte nennen.
[00:14:04.540] - Nadia Kailouli
Ich liebe konkrete Punkte.
[00:14:06.640] - Claas Löppmann
Sehr gut. Und ich bin dir auch sehr dankbar für die Frage, weil manche Menschen von außen kann man sich einfach schwer vorstellen: Was ist ein Schutzkonzept? Das Wichtigste an einem Schutzkonzept einer Einrichtung sollte sein, der Hinweis, dass es ein Schutzkonzept gibt, im Leitbild der Organisation fest verankert ist, was dem Schutzkonzept eine sehr bedeutsame, wichtige Position gibt. Ein Schutzkonzept muss enthalten, einen Interventionsplan. Das heißt, was du vorhin ansprachst: Wie reagiere ich überhaupt, wenn konkrete Fälle bekannt werden? Wo finde ich da Sicherheit und Orientierung? Und wie gehen wir vor? Ähnlich wie im Brandschutzplan. In nahezu jedem Gebäude hängt ein Brandschutzplan. Es ist ein Fluchtweg bekannt. Und Teil dieses Interventionsplans muss auch eine Rehabilitation für unbegründete Fälle sein. Das heißt, wie gehe ich mit Menschen um, die zu Unrecht in Verdacht geraten sind? Dann ist ein Punkt, der im Schutzkonzept verankert sein muss: Mit wem und wie kooperieren wir mit externen Stellen, die uns in dieser Thematik unterstützen können. Die Frage der Personalverantwortung muss in einem Schutzkonzept verankert sein. Es wird empfohlen, das zur Chefsache zu machen, was durch meine Person so blöd das klingt, gesichert ist. Und bereits pädagogische Fachkräfte, die sich bei der Stadt Walsrode bewerben, schon im Vorstellungsgespräch durch mich mit der Frage konfrontiert werden: „Wie reagieren Sie, wenn Max Mustermann auf Sie zukommt und sagt: Oh, heute ist wieder Freitag. Ich muss nachher noch zum Klavierunterricht und der Klavierlehrer, der küsst und streichelt mich immer und ich will das überhaupt nicht." Und frage dann die Kräfte: „Wie reagieren Sie in dieser Situation?" Und thematisiere dann anschließend noch mal, warum mir dieses Thema so ein wichtiges Anliegen ist und dass es uns wahnsinnig wichtig ist, von Anfang an darauf hin zu arbeiten und zu wissen, dass Kinderschutz in den Einrichtungen der Stadt Walsrode ein wichtiges Thema ist. Dann ist der Punkt Fortbildung, stetige Fortbildung, ein wahnsinnig wichtiges Thema und der sogenannte Verhaltenskodex, wo verbindliche Vereinbarungen getroffen werden, wo von außen scheint, manchmal sehr banale Dinge drinstehen, wie zum Beispiel „Ich nutze meinen beruflichen Kontakt mit Kindern nicht für persönliche Annäherungen aus." Dieser Satz ist sehr banal und klingt selbstverständlich. Er hilft aber in der Praxis enorm, den Menschen das anzusprechen, wenn sie sagen: „Ich habe da was festgestellt, ich hab da was beobachtet und das verstößt gegen den Verhaltenskodex, was du hier machst." Genau, wichtigster Punkt ist die Partizipation von Kindern und Eltern. Und ja, Kinder können da mitgestalten durch ganz konkrete Fragen. Alleine durch die Frage in der Kita: "Wo fühlt ihr euch besonders wohl oder welchen Ort magst du gar nicht?" Und warum fühlt ihr dich hier besonders wohl oder warum magst du diesen Ort so gar nicht?" Genau, die zwei letzten Punkte sind, Präventionsangebote bereitzuhalten, aber auch grundlegend eine präventive Haltung gegenüber den Kindern zu signalisieren, die auch da heißt: "Es ist willkommen und gewünscht, auch gegenüber Erwachsenen Kritik zu äußern." Wer sich an die Kita-Zeit oder Grundschulzeit zurück erinnert, also mir geht es so: Mir wurde das nicht so signalisiert, dass ich auch mal sagen darf, die Erzieherin, der Erzieher ist total blöd, finde ich nicht gut. Klar hat man das manchmal gemacht als Kind, aber die Reaktion von Erwachsenen ist da oft eher schützend und beschwichtigend gegenüber der erwachsenen Person. Genau. Und last but not least sind es Ansprechstellen und Beschwerdestrukturen innerhalb der Einrichtung. Also wie wird mit Beschwerden von Kindern im ganz Allgemeinen umgegangen? Wird es, wie ich eben sagte, abgebügelt, wenn sich jemand über eine Fachkraft beschwert? Wie wird damit umgegangen, wenn ein Kind am Tisch sitzt und sagt: „Ich mag das Mittagessen aber nicht"? Da kann jetzt jeder, jede gerne ein Bild dazu im Kopf haben, wie zu Hause oder in einer Einrichtung reagiert wird, wenn das ein Kind sagt. Aber ich habe in diesem Moment eine Person da, ein Kind da, das sagt: „Ich möchte etwas nicht und ich möchte das in meinem Körper nicht aufnehmen." Und ich weiß, dass Eltern viel Geld für Mittagessen bezahlen und ich weiß, wie wertvoll auch der Wert des Essens ist, aber in diesem Moment sehr sensibel, damit umzugehen und dann den Kontakt und das Gespräch mit dem Kind zu suchen.
[00:17:53.820] - Nadia Kailouli
Und es nicht zu zwingen, das zu essen.
[00:17:54.950] - Claas Löppmann
Genau, es nicht zu zwingen und das auch zu akzeptieren und dann im Zweifel für das Kind und gegen das Essen zu entscheiden.
[00:18:00.680] - Nadia Kailouli
Das sind sehr konkrete Punkte. Man kann sich sehr gut was darunter vorstellen, aber man kriegt auch gleich vermittelt, das ist jetzt hier nicht einfach nur ein runtergeschriebenes Papier, was man machen muss für ein Schutzkonzept, sondern das braucht ein bisschen mehr. Inwieweit hast du die Erfahrung selbst damit gemacht und auch die Erfahrung von anderen Einrichtungen bekommen, dass das echt schwierig ist, das umzusetzen? Oder ist es das gar nicht vielleicht?
[00:18:30.710] - Claas Löppmann
Nein, nein. Es ist nicht schwierig, wenn ich damit anfange. Und das meine ich so, wie ich das sage: Ich muss damit anfangen und ich darf damit anfangen und ich darf mich auch freuen, wenn es mir gelingt, Kinder zu schützen. Das was ein ganz großes Problem aufmacht, was auch eine Misere ist. Niemand kann sagen, sei es dadurch, dass wir jetzt unser Gespräch hier miteinander führen, das Menschen hören, das weitertragen. Vielleicht schützen wir beide dadurch Kinder. Das wissen wir nicht. Vielleicht verhindern wir dadurch, dass es überhaupt zu einem Missbrauch kommt. Vielleicht sagt jemand: „Mensch, cool. Danke, ihr habt mir die Augen geöffnet." Das wissen wir ja aber nicht. Das kann niemand erheben. Und so ist es auch in den Kitas. Wenn wir da Arbeit leisten, wissen wir nicht, was verursachen wir im Positiven bei den Kindern damit? Und was es leicht macht, zu dem Thema zu arbeiten, ist, Raum für die eigenen Gefühle aufgezeichnet zu bekommen und sich klarzumachen, wieso es Kindern so schwerfällt, über sexualisierte Gewalt zu sprechen und Wege zu finden. Und mir ist selber mal die Frage gestellt worden, die mich in dem Moment sehr beschäftigt hat und ich nicht gedacht hätte, dass ich sie in meiner späteren Fortbildungen und meiner täglichen Arbeit verwende, aber wenn sich jemand fragt, warum fällt es den Kindern so schwer, über sexualisierte Gewalt zu reden, dann besteht die Möglichkeit zu antworten mit: „Erzähl mir doch gerade mal von deinem letzten, schönen, sexuellen Erlebnis." Das würde niemand machen, gegenüber einer fremden Person. Und von einem Kind, von einem sehr jungen Menschen zu erwarten, über ein sehr negatives sexuelles Erlebnis zu sprechen, wo ich im Zweifel überhaupt keine Worte für habe, das ist ein wahnsinniges Unding und kann den Raum ganz gut aufmachen.
[00:20:05.850] - Nadia Kailouli
Jetzt muss ich doch noch mal aber nachhaken. Es gibt ja die alteigengesessenen Kita, sage ich mal. Ja, da war ich schon, da war, keine Ahnung, meine Tante schon und da sollen auch meine Kinder in Zukunft hingehen. Die gibt es schon sehr, sehr lange und die glauben für sich: "Hier ist seit sehr, sehr langer Zeit noch nie was vorgekommen. Es ist hier noch nie was passiert. Lieber Claas Löppmann, warum sollen wir jetzt - Ihre Arbeit in allen Ehren - uns hier diesen Aufriss machen, dieses Schutzkonzept hier auf die Beine zu stellen, Präventionsarbeit, Workshops et cetera. Wir haben schon genug zu tun. Glauben Sie uns, hier ist alles in Ordnung." Wie geht man damit um?
[00:20:44.520] - Claas Löppmann
Ich sage da gar nichts zu in dem Moment. Wirklich nicht, weil wenn es mehrere Personen im Raum sind, meldet sich irgendjemand und sagt da was zu, weil entweder wird es bestätigt, dann gibt es ein riesiges Problem. Ich mache dann je nachdem, wie die Reaktion ausfällt, einmal auf im Stadtgebiet Walsrode, dass die Idylle oder die Vorstellung davon, dass wir in ländlichen Strukturen weniger mit sexualisierter Gewalt zu tun haben, dass das sich statistisch nicht abbilden lässt, dass wir in Ballungsgebieten mehr damit zu tun haben als in ländlichen Strukturen, sondern eher da, dass es da schwieriger ist, an Hilfesysteme zu kommen. Und ich mache immer auf, dass ich das sehr erwähnenswert finde und finde, damit kann man auch an die Presse gehen, weil ich finde, die Wahrscheinlichkeit bei allen Zahlen, die wir haben, dass es in dieser Einrichtung keinen Missbrauch gibt, ist ja so was von erwähnenswert. Damit sollte man noch an die Öffentlichkeit gehen, dass hier alles gut ist. Und dann merken die Leute sehr schnell, dass ich das Thema nicht zum Spaß anbringe und dass das für mich ein absolutes wenn nicht ein Querschnittsthema, wenn nicht ein Durchschnittsthema ist und ich das auch nicht ablehne. Und der pädagogische Bereich ist wahnsinnig überlastet an ganz vielen Stellen mit ganz vielen Themen. Aber wenn nicht Kinderschutz das Grundgerüst ist, dann weiß ich nicht, was sonst. Ich finde meinen Anspruch legitim und den vermittle ich auch den Fachkräften, dass ich mir wünsche, dass kein Kind, das in der Stadt Walsrode eine Kita besucht, nach der Kitazeit als erwachsene Person irgendwann sagt: „Warum wart ihr nicht da, als ich euch gebraucht hätte?" Was nicht heißt, dass ich so naiv bin und glaube, sexualisierte Gewalt verhindern zu können, aber Mut zu machen, Kindern den Raum dafür zu geben, wenn da etwas passiert, was nicht in Ordnung ist, was sich gar nicht gut anfühlt, was hochgradig übergriffig ist, das zu thematisieren.
[00:22:33.040] - Nadia Kailouli
Jetzt hast du gerade einen Punkt angesprochen. Nun ist es ja so, dass selbst so ein Schutzkonzept, so wichtig und richtig das ja auch ist, Kinder nicht davor komplett schützen kann, sexualisierte Gewalt zu erleben, auch nicht in einer Einrichtung. Was sollten wir, was können wir oder was müssen wir darüber hinaus tun, wenn wir jetzt an Kindergärten, Kindertagesstätten etc. denken, um Kinder davor zu schützen, auch mit Schutzkonzept?
[00:23:00.620] - Claas Löppmann
Drüber reden, drüber sprechen, hinhören und glauben. Und ich weiß, das sind drei sehr banale Worte. Aber ich wünsche mir so sehr, dass auf einer Kita auf einem der ersten Kita-Elternabenden, eine Person mal fragt: „Gibt es überhaupt ein Schutzkonzept?" Das Thema kommt relativ schnell auf, wenn ich es anbringe. Aber ein Bewusstsein dafür in der Gesellschaft, eine Vorstellung dafür zu entwickeln, dass es sexualisierte Gewalt gibt und dass es damit auch tatausführende Personen im eigenen Umfeld gibt. Das zu öffnen und das zu wecken, das muss einfach jenseits vom Schutzkonzept bestehen. Und der Grundgedanke, den ich auch gerne noch mal hervorhebe, ist, sich schützend neben Kinder zu stellen, sie an die Hand zu nehmen und zu sagen: „Im Zweifel für das Kind."
[00:23:46.610] - Nadia Kailouli
Wir hatten hier vor kurzem das Thema Lehrerausbildung, also das Studium zur Lehrkraft an Schulen.
[00:23:53.830] - Claas Löppmann
Habe ich gehört.
[00:23:54.270] - Nadia Kailouli
Hast du gehört? Sehr gut. Und da ging es auch vor allem darum, dass das Thema sexualisierte Gewalt überhaupt gar nicht verankert ist, fest in der Lehrerausbildung. Wie sieht es in der Ausbildung zur Erzieherin und zum Erzieher aus?
[00:24:08.330] - Claas Löppmann
Genauso. Es gibt einzelne Schulen, die das verstanden haben, die das Thema aufgreifen und die auch aus der Praxis das Feedback bekommen haben: "Die Kräfte, die von eurer Schule kommen, können damit nicht interagieren, stagnieren da, kommen in die Stagnation, wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen." Und es ist leider so nicht nur in der Lehrer:innenausbildung, sondern auch in den medizinischen Ausbildungs- und Studiengängen, die mir bekannt sind, ich möchte nicht einzelne sehr gute Projekte von denen ich vielleicht nichts weiß schmälern, aber es ist auch in der Verankerung der Erzieher:innenausbildung meines Wissens nachher immer noch nicht Uso. Überhaupt nicht. Ja, es findet einfach nicht statt. Und das muss geschehen, was auch Thema im Betroffenenrat bei der UBSKM ist, dass diese Strukturen sich verändern müssen.
[00:24:54.820] - Nadia Kailouli
Warum tut man sich damit so schwer? Ich meine, das Ding ist, diesen Podcast gibt es jetzt seit drei Jahren. Schon bevor wir diesen Podcast ins Leben gerufen haben, haben wir über das Thema sexualisierte Gewalt gesprochen. Ich würde jetzt mal behaupten, wir haben einen gewissen Tabubruch erreicht, genau mit diesem Podcast. Und wir reden heute, wenn ich zurückblicke drei Jahre später und heute viel, viel offener und viel, viel öfter über dieses Thema. Und dennoch passiert in vielen Sachen irgendwie nichts, wie zum Beispiel, das wäre ja etwas, was man sehr schnell umsetzen kann, dass man die Ausbildung einfach durch einen Zusatzfach dahingehend verpflichtet, dass man sagt, das Thema sexualisierte Gewalt - es gibt ja genügend Fachkräfte, die dazu was sagen können und ausbilden können, Workshops machen können - ist verpflichtend. Ob es jetzt irgendwie ein eigener Studiengang ist, sei mal dahingestellt. Aber alleine ein Workshop, der vielleicht ein, zwei Tage geht, den könnte man doch sehr, sehr einfach verpflichtend in diese Ausbildung reinpacken. Warum passiert das nicht?
[00:25:53.690] - Claas Löppmann
Ja, das wissen wir beide nicht. Es passiert, glaube ich, einmal aus dem Grund, dass es nicht verstanden wird und dass auch da das Thema nicht den notwendigen Platz hat und dass es keine emotionale Verknüpfung vielleicht dazu gibt, dass man sagt, das Thema ist wichtig und auch da herrscht ein Überangebot an Dingen, die als wichtig erachtet werden. Und dieses Thema wird außeracht gelassen, vielleicht auch, weil man Sorge hat, sich dem Thema anzunähern. Und das soll keine Verallgemeinerung sein, aber wenn wir den Zahlen glauben, die wir haben und wenn wir den Zahlen der Dunkelfeldforschung glauben, dass jede siebte erwachsene Person sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erfahren hat, können und müssen wir davon ausgehen, dass auch unter den Auszubildenden, auch unter den Schüler:innen, viele Menschen mit Betroffenheit sind und dass es da vielleicht Ängste gibt, das Thema aufzugreifen, weil ich Sorge habe, ich trete damit jemandem auf die Füße. Ich möchte diese Sorge gerne nehmen und gehe immer so in Fortbildung, dass ich als erstes eine Art Helfer:innensystem aufmache, also dass alle Personen im Raum bitte drei Personen mit Kontakt aufzuschreiben und ins eigene Portemonnaie zu tun, an die ich mich wenden kann, wenn es mir nicht gut geht. Einmal um diesen Raum aufzumachen, es - ist völlig okay, wenn da Dinge aufkommen, die sich nicht gut anfühlen. Warum es diese Verankerung nicht gibt? Du hast sie drei Jahre Podcast genannt. Das ist sehr ehrenwert. Ich kenne Menschen, die sagen: „Ich bin seit 30 Jahren in diesem - verzeih mir den Ausdruck - an dieser Scheißstelle und wir kommen nicht weiter." Und das ist ein Schlag ins Gesicht für jedes Kind.
[00:27:25.780] - Nadia Kailouli
Das ist so absurd. Und du hast es geschafft, eine ganze Stadt zu mobilisieren. Das muss man ja einfach mal so sagen. Kannst du uns einen Tipp geben, wie schafft man das? Also, wie schafft man das, Menschen dafür zu begeistern? Das war ja jetzt keine Trauerveranstaltung, die ihr da gemacht habt, sondern du hast es selber gerade eingangs gesagt, ihr habt Walsrode gerockt. Es gibt Zeitungsartikelberichterstattung, dies, das, und zwar positiv berichtet. Man hat jetzt nicht das Gefühl bekommen: „Oh Gott, da ist aber was los", sondern eher: „Da tut sich was." Wie schafft man das, Menschen dafür zu begeistern, sich dafür zu engagieren und das Thema eben zu enttabuisieren?
[00:28:01.470] - Claas Löppmann
Erst mal in unserer kleinen Runde: Im Organisationsteam war der Casus knacksus, hat man mir hinterher gesagt, die Menschen ernst zu nehmen, die da sitzen und zu sagen: „A) Wie bewegt ihr das Thema in euch? Und B: Was wünscht ihr euch für die Aktionswoche, um die Menschen wirklich mitzunehmen?" Und damit meine ich keine Alibi „Wir schreiben auf einen Zettel, was uns allen wichtig ist", sondern das auf den Zettel zu schreiben, aber dann wirklich auch zu machen. Und was mir heute noch rückgespiegelt wird: Wir sind mit der Veranstaltung rausgegangen, also wirklich raus an öffentliche Orte. Wir haben einen Fachtag unter freiem Himmel gemacht, was mutig ist, weil es hätte auch wettertechnisch nach hinten losgehen können. Und wir haben uns an den Kampagnenfarben von "Nicht wegschieben" orientiert, die sehr freundlich sind, die sehr zugänglich sind, die das Gegenteil von der Farbgebung her, von dem Auslösen, was du eben sagtest: "Das macht irgendwie was komisches, das ist nicht gut." Und wir haben die Dinge beim Namen genannt. Also wir haben nicht drum herumgeredet und haben den Menschen das Gefühl gegeben und nicht nur das Gefühl, sondern das meine ich auch ernst, dass wir etwas verändern können, dass wir die Menschen mitnehmen können, dass jeder, jede, die über das Thema spricht, auf jeder… Ich weiß, das ist kein Thema für eine Grillparty, aber bei jeder Gelegenheit anfängt, darüber zu sprechen, aktiven Kinderschutz betreibt. Und wir hatten einfach die feste Überzeugung und den Willen, was verändern zu können, was sich aus heutiger Sicht bewährt hat und wir auch geschafft haben.
[00:29:27.060] - Nadia Kailouli
Nun bist du ja vom Fach, sage ich mal, als Pädagoge, aber du bist ja jetzt kein Projektmanager. Das klingt aber so, als müsste man irgendwie so ein bisschen Event-Agenturerfahrung mitbringen, um so was auf die Beine zu stellen, weil ich, keine Ahnung, wenn ich jetzt an meinen Freundeskreis denke, die vielleicht in Bayern leben oder so was, die jetzt sagen: „Ich warte jetzt nicht, bis die Kita irgendwie auf die Idee kommt. Komm, wir machen das jetzt selber und gründen eine Elterninitiative und machen jetzt mal so ein Straßenfest, aber diesmal nicht eben mit Erdbeerbowle, sondern die Erdbeerbowle kann es trotzdem geben, aber es geht jetzt um das Thema: Wie schützen wir unsere Kinder?" Ist das ein Tipp oder läuft man da Gefahr, dass man sich mit einem Thema auseinandersetzt, wo man dann doch eben die Fachexpertise nicht hat und das dann nach hinten losgeht?
[00:30:13.040] - Claas Löppmann
Nein. Ja, ist das ein Tipp. Ich möchte erst mal dazu… Ich habe das Format, was ich vorhin angesprochen hatte, ist ein sehr großes Format. Wenn eine Organisation, eine Kommune sagt: "Wir verteilen einfach nur die Taschen", dann ist das wahnsinnig viel wert. Wir sind in keiner Situation und das haben wir auch immer nach außen getragen: Wir sind dafür da und wir gestalten unsere Kampagne so, weil wir wollen darüber sprechen. Wir wollen nicht an konkrete Angelegenheiten ran. Das war mir auch wichtig für die jungen Menschen, die mich unterstützt haben. Wir gehen nicht in konkrete Diskussionen. Wäre das aufgekommen oder hätte jemand gesagt: „Mir geht es gar nicht gut mit dem Thema. Ich brauche eine Ansprechperson." Da wären ich da gewesen, aber auch jederzeit weitere Personen, die tatsächlich vom Fach sind. Von daher ist die Sorge sehr, sehr verständlich, aber tatsächlich aus Erfahrung unbegründet. Und die Sorge war sehr groß in unseren Reihen, dass Menschen mit Betroffenheit damit überfordert sein könnten, mit diesem Thema konfrontiert zu werden oder angesprochen zu werden. Also zu dieser Situation ist es nicht gekommen und ich glaube, so schrecklich das klingt, aber dass Menschen, die seit Jahren, Jahrzehnten eine Betroffenheit mit sich herum tragen müssen und darüber nicht gesprochen haben, dass sie sich solch gute Strategien aneignen mussten, dass sie aus so einer Situation nicht rausgerissen werden, was sehr dramatisch ist auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite die Angst nehmen kann, dass es da eben zur Begegnung kommt. Und ich habe es so erlebt, dass kein Mensch in der Öffentlichkeit es gewagt hat, dem zu widersprechen und zu sagen: "Was ihr da macht, ist ja völliger Quatsch", weil damit würde sich jemand öffentlich gegen Kinderschutz stellen. Das tut erst mal niemand.
[00:31:52.460] - Nadia Kailouli
Jetzt haben wir eben schon besprochen, dass die Schutzkonzepte eigentlich ein Must sind, aber selbst das Schutzkonzept selbst alleine jetzt nicht der absolute Schutz dafür sind, dass Kinder in einer Kita z. B. sexueller Gewalt ausgeliefert sein könnten. Die große Angst, die Eltern ja haben, ist ja, dass es ihren Kindern passieren könnte, in die Kita, in der sie ihre Kinder hinvertrauen, dass es dort passiert. Jetzt würde ich denken: "Aber in der Kita in Walsrode, jetzt, nachdem ich mit Claas gesprochen habe und mir diese Aktionswoche angeschaut habe, da passiert das doch nicht." Habt ihr für euch eine Herangehensweise, dass ihr sagt: "Bei uns arbeiten nur Leute, wo wir sicher gehen können, dass die sich gegenüber Kindern nicht missbräuchlich verhalten"?
[00:32:39.590] - Claas Löppmann
Auch wenn ich da vielleicht für Ärger kriege, aber ich lege für keine Person meine Hand ins Feuer. Das mache ich nicht. Ich lege aber meine Hand dafür ins Feuer, dass ich bei allen Personen, die ich bisher geschult habe, den Blick darauf hatte, wenn da eine Person dabei wäre, die ähnliches oder die etwas im Schild führt, spätestens dann davon abgelassen hätte, weil sie merkt: "Okay, das wird nichts." Und ich erlebe es zunehmend, dass pädagogische Fachkräfte untereinander sehr gut darin sind, zu kommunizieren, wenn ihnen untereinander was aufgefallen ist. Das heißt, das ist nicht die pädagogische Leitung in meiner Person, die irgendwo im Rathaus sitzt, ich sage es jetzt mal zugespitzt: "Ich könnte was machen, wenn die Person nicht da ist", sondern dass die Menschen auch vor Ort sehr aufmerksam werden und auch bei Dingen, um das ganz Plastisch zu machen, wenn ein Kind gegen seinen Willen sehr kräftig am Arm gerissen wird. Ich sage, es gibt eine Situation, wo das erlaubt ist, ein Kind kräftig am Arm zu reißen. Das ist, wenn das Kind über die Straße rennen will und da fährt eine Laster auf das Kind zu. Alle anderen Situationen ist mir bis heute keiner eingefallen, wo ich das legitimieren könnte. Und das anzusprechen, eine Atmosphäre im Team zu bilden, dass das auch angesprochen werden kann. Genau, an der Stelle ist mir aber auch noch mal wichtig, dass wir unser Einrichtungen tatsächlich auch als Schutzort sehen, um auch Kindern die Möglichkeit zu geben, sich äußern zu können, dass ihnen vielleicht in anderen Kontexten sexualisierte Gewalt widerfährt.
[00:34:02.080] - Nadia Kailouli
Könntest du ein Beispiel geben, was in Kitas mit Schutzkonzept und zum Beispiel in Kitas in Walsrode anders läuft, als in Kitas, die da nicht so sensibilisiert sind und kein Schutzkonzept haben? Wo erkenne ich Unterschiede, zum Beispiel?
[00:34:15.940] - Claas Löppmann
Ich glaube, in der Ansprache untereinander, in dem Team und in der Bewusstheit und auch dem Mut, dieses Thema auch nach außen zu tragen und zu sagen: „Ja, wir haben ein Schutzkonzept" und „Ja, wir wollen auch ein Schutzkonzept geben, weil wir haben verstanden, dass es sexualisierte Gewalt gibt und wir haben verstanden, dass es statistisch unmöglich ist, dass wir kein Kind in unserer Einrichtung haben, dem sexualisierte Gewalt widerfährt."
[00:34:42.870] - Nadia Kailouli
Ich habe gelesen, dass man bei euch zum Beispiel nicht alleine wickelt. Was heißt das genau? Also ich habe kein Kind in der Kita. Ich weiß gar nicht, was bedeutet das?
[00:34:53.640] - Claas Löppmann
Genau, also zumindest, dass die Wickelsituation thematisiert wird. Nicht alleine ist nur bedingt korrekt, aber dass jederzeit die Möglichkeit besteht, dass eine weitere Person in den Raum kommt, unangekündigt, dass der Wickelbereich einsehbar ist und dass dem Kind die Möglichkeit gegeben wird, auszusuchen, von wem möchte ich gewickelt werden und wem nicht. Natürlich nur im Rahmen des Möglichkeiten nennt das Kind eine Person, die an dem Tag nicht da ist, muss ich schauen, welche andere Möglichkeit gibt es? Was können wir dem Kind anbieten?
[00:35:21.940] - Nadia Kailouli
Also einsehbar heißt, dass man das jetzt nicht hinter verschlossenen Türen…
[00:35:25.030] - Claas Löppmann
Genau, es wird niemals eine Tür verschlossen, hinter der ein Kind gewickelt wird. Und es besteht, das ist der optimale Fall, der sagt, es gibt durchaus ältere Kitagebäude, aber im Idealfall sind die Räume so gestaltet, dass es eine Einsichtmöglichkeit auf die Fachkraft gibt, wo ich auch wieder architektonisch sehr gut nachdenken muss, dass das natürlich nicht sein darf, dass von außen jeder das Kind sieht, der gerade gewickelt wird.
[00:35:46.650] - Nadia Kailouli
Ja, stimmt. Das ist auch das. Und ich gehe jetzt noch eine Stufe weiter. Drei Jahre Podcast, man hat einiges gehört.
[00:35:54.830] - Claas Löppmann
Über 100 Folgen.
[00:35:55.870] - Nadia Kailouli
Ja, genau. Und ich denke nämlich gerade so: Moment, ist es dann nicht auffällig, wenn… Weil man kennt ja Täterstrategien und Manipulation. Wenn ein Kind immer von der gleichen Person gewickelt werden möchte, ist das dann auch eine Auffälligkeit, weil man da vielleicht eine Manipulation von dem Täter, der Täterin gegenüber des Kindes sieht? Solche Gedanken kommen dann gleich bei mir in den Kopf.
[00:36:16.360] - Claas Löppmann
Spannend. Ich finde es da entscheidend, dass die Person, in der Kita arbeitet ja kein Mensch alleine, dass es da auffallen würde. Und es geht tatsächlich um die Frage, auf das Kind zuzugehen und zu sagen: "Wer darf dich heute wickeln?" Und wenn das Kind aus freien Stücken immer wieder sich für die gleiche Person entscheidet, ist das ja was sehr Positives. Und da einen Blick zu haben und das traue ich allen unseren Kräften zu: Das stimmt irgendwas nicht oder da schleicht sich jemand immer hin, wenn alle anderen nicht gucken und sagt: „Komm, ich wickle dich eben." Das würde auffallen. Da bin ich mir sehr sicher. Und das würde auch, so würde ich es vermuten, dazu führen, dass das Kind, also kommt es da zu Übergriffen, das Kind sich auch gegen diese Person entscheiden würde. Wobei sexualisierte Gewalt natürlich so perfide sein kann, dass es dem Kind erst mal augenscheinlich keinen körperlichen Schaden zufügt, weil die Berührungen an sich natürlich hochgradig übergriffig strafbar und gewalttätig sind, aber die Berührung an sich, auch im Intimbereich eines Kindes ja erst mal nicht schmerzhaft sein muss. Trotzdessen bin ich mir sicher, dass Kinder da ein sehr gutes Gefühl für haben und dass das ein Mechanismus ist das Kind dann eine andere Person benennen würde.
[00:37:32.500] - Nadia Kailouli
Wir sind uns einig, dass wenn ein Kind von einem Menschen nicht gewickelt werden möchte, dass man das auch akzeptiert und dann das Kind nicht zwingt, dass es jetzt aber von XY in der Kita gewickelt werden muss, obwohl es eine andere Person gäbe, die das machen kann.
[00:37:46.950] - Claas Löppmann
Ja.
[00:37:47.540] - Nadia Kailouli
Sehr gut.
[00:37:48.340] - Claas Löppmann
Da sind wir uns einig. Wir gehen in unseren Einrichtungen so weit, wenn keine Kraft da ist und sich das Kind weigert von den Kräften, die vor Ort sind, weil vielleicht eine Person krank ist, im Urlaub ist, auf Fortbildung ist, dann gehen wir so dass wir an einem gewissen Punkt die Eltern informieren und sagen: „Kommen Sie vorbei und wickeln Ihr Kind."
[00:38:04.760] - Nadia Kailouli
Also das Kind respektieren, wenn es Grenzen aufzeigt, so gut es geht. Claas, ich danke dir an dieser Stelle sehr, dass du heute unser Gast warst.
[00:38:16.300] - Claas Löppmann
Sehr gerne.
[00:38:16.770] - Nadia Kailouli
Dass du uns einen Einblick gegeben hast, wie man Kinderschutzkonzepte, was so ein theoretisches Wort ist – man muss es einfach mal sagen –, wie das in Umsetzung aussehen soll und vor allem, dass man durchaus eine ganze Stadt mobilisieren kann, sich für Kinderschutz stark zu machen. Vielen, vielen Dank, Claas Löppmann.
[00:38:33.460] - Claas Löppmann
Ich danke dir. Herzlichen Dank.
[00:38:35.280] - Nadia Kailouli
Ich finde das ja super, dass Claas das einfach mal ganz konkret gemacht hat, weil Schutzkonzept, das klingt immer so theoretisch. Da denkt man: „Ach, das ist irgendein Papier? Oder was ist das eigentlich genau?" Jetzt haben wir mal alle Punkte von ihm gehört. Und ich glaube, jeder, der ein Kind in die Kita bringt, der hat das Recht zu fragen: „ Haben Sie ein Schutzkonzept?" Und wenn diese Kita sagt Nein, dann kann man durchaus mal fordern: "Wieso haben Sie keines? Vielleicht machen Sie mal eins!" Oder man sucht sich eine andere Kita. Ich weiß, gar nicht so einfach, weil die sind auch total besetzt und man muss ja schon, bevor man schwanger wird, sich um einen Kitaplatz kümmern gefühlt. Aber nichtsdestotrotz: Macht euch da schlau und seid da offen. Ihr macht nichts falsch, wenn ihr Kitas darauf ansprecht, dass sie ein Konzept haben, wie man Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen kann.
[00:39:24.890] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
„Sexuelle Gewalt gegen Kinder muss überall für möglich gehalten werden.” Das sagt Claas Löppmann, Pädagogischer Leiter der Stadt Walsrode und Mitglied des Betroffenenrats bei der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Der Erzieher und Pädagoge setzt sich dafür ein, dass flächendeckend Maßnahmen für den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen ergriffen werden. Wie das geht, zeigt er in den Kitas der Stadt Walsrode, für die er verantwortlich ist.
Wir sprechen mit ihm darüber, wie man Kinder schützen kann, wie man andere dafür begeistert und wie man Eltern klarmacht, dass vor allem sie verantwortlich sind und nicht irgendjemand sonst. Wie das geht, erzählt uns Claas bei einbiszwei.

LINKSAMMLUNG
Claas ist Mitglied im Betroffenenrat bei der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung
Der Betroffenenrat bei der UBSKM
So geht Aktionswoche – hier gibt es die Broschüre:
Walsrode: So geht Aktionswoche
Fernsehbeitrag über die Aktionswoche in Walsrode im NDR
Hinschauen lernen: Gegen sexualisierte Gewalt: Aktionswoche in Walsrode (6/23)
#GoodPractice: Beitrag auf der Kampagnenwebsite von #NichtWegschieben
Walsrode: Aktionswoche gegen sexuelle Gewalt
Claas ist Mitglied der Forschungsgruppe eines Projekts, das Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend untersucht
„Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend”
