Podcast | Folge: 107 | Dauer: 42:38

Sexuelle Übergriffe durch Psychotherapeut:innen – was passiert in manchen Therapien, Andrea Schleu?

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[00:00:01.380] - Andrea Schleu

Es geht dann los, dass geduzt wird, umarmt wird, berührt wird, geflirtet wird, zweideutige Sachen gesagt werden, dass das Gespräch sexualisiert wird und am Ende werden ein Chat eingeleitet oder es findet regelmäßiger Mailverkehr statt, dann Treffen außerhalb der Praxis oder der Klinikräumlichkeiten, Cafébesuche, Konzertbesuche, Saunabesuche und es endet dann irgendwann beim sexuellen Verkehr.

[00:00:30.890] - Nadia Kailouli

Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.

[00:00:55.140] - Nadia Kailouli

Wer in Therapie geht, sucht Hilfe, legt Schutzmechanismen ab und macht sich verletzlich. Genau diese Offenheit nutzen aber manche Psychotherapeuten aus. Grenzüberschreitungen in der Therapie passieren häufiger, als man denkt. Selten wird jemand angezeigt. Verurteilungen von übergriffigen Therapeuten sind noch viel seltener. Dr. Med. Andrea Schleu kennt genau diese Fälle. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Psychotherapie. Seit 2004 berät sie im Ethikverein Betroffene, die Grenzüberschreitung oder sogar sexualisierte Gewalt durch Therapeuten erlebt haben. Ich freue mich sehr, dass sie heute unser Gast ist. Herzlich willkommen.

[00:01:29.240] - Andrea Schleu

Vielen Dank für die Einladung.

[00:01:30.590] - Nadia Kailouli

Wir reden über ein Thema, wo ich mir gedacht habe: „Ach nein, Leute, jetzt ernsthaft?" Ganz ehrlich, das war mein Gefühl. Und zwar reden wir über Grenzüberschreitungen, Missbrauch in der Psychotherapie. Und wenn ich überlege, wie oft wir hier Menschen sitzen hatten, wo wir so froh und dankbar waren, dass sie den Weg in die Psychotherapie geschafft haben, zu sagen: „Ich habe mir Hilfe geholt, nachdem ich sexuelle Gewalt erlebt habe", denkt man sich so: „Oh, toll, toll. Da gibt es Anlaufstellen, da wird einem geholfen." Und jetzt kommen Sie heute hierhin und erzählen uns, dass auch in der Psychotherapie nicht alles gut läuft.

[00:02:06.210] - Andrea Schleu

Ja, das ist so. Also Patienten vertrauen sich an im guten Sinne und hoffen, dass sie Hilfe finden. Und das ist in aller Regel ja auch der Fall. Aber in wenigen schlimmen Ausnahmenfällen gibt es eben Missbrauch in Psychotherapie und aus meiner Sicht ist jeder einzelne Fall einfach ein Fall zu viel.

[00:02:26.700] - Nadia Kailouli

Da haben Sie vollkommen recht. Jetzt wollen wir natürlich wissen, woher wissen Sie das, dass es dort Fälle gibt?

[00:02:34.260] - Andrea Schleu

Na ja, ich bin damals als Delegierte in die Kassenärztliche Vereinigung gewählt worden und war Ombudsfrau. Und als Ombudsfrau habe ich mit allen Beschwerdefällen zu tun gehabt und habe dann feststellen müssen, wie schwer es Patienten haben, die von solchen Dingen berichten und dass die einen Hürdenlauf machen, gegen Windmühlen anlaufen. Und ich habe mich zusammengefunden mit anderen Kollegen, die ähnliche Erfahrungen berichtet haben. Und damals haben wir dann eine Arbeitsgruppe gegründet und haben gesagt, wir müssen diesen Leuten helfen, weil die können das gar nicht alleine schaffen und haben eine Beratung angefangen aufzubauen. Das war 1998 und wir haben dann vor 20 Jahren ungefähr einen Verein gegründet, den Ethikverein, und haben angefangen, diese Patienten systematisch zu beraten, haben ein Konzept aufgebaut, wie so eine Beratung aussehen muss, haben die Daten dann anonymisiert, wissenschaftlich ausgewertet und wir überblicken jetzt eine Zahl von mehr als dreieinhalbtausend Beratungsfällen, "Fällen" in Anführungsstrichen, und ungefähr ein Viertel dieser Fälle ist sexueller Missbrauch. Und die haben wir eben wissenschaftlich ausgewertet und können eine Menge über diese Fälle sagen.

[00:03:53.160] - Nadia Kailouli

Vielleicht können Sie uns ein paar Beispiele geben: Was sind das für Fälle? Was haben diese Menschen erlebt?

[00:04:02.840] - Andrea Schleu

Was haben diese Menschen erlebt? Also wenn ich ein Beispiel nehme, zum Beispiel - Ich konstruiere jetzt einen Fall wegen der Schweigepflicht, damit diese Daten schön anonym bleiben- eine jüngere Patientin mit einer depressiven Erkrankung, was eine relativ häufige Erkrankung ist, kommt zu einem Therapeuten. Meistens sind es männliche Therapeuten und eben weibliche Patienten, mit denen das stattfindet. Es sind in der Regel 90% Männer und 90% Frauen eben als Opfer. Und es geht dann los, dass geduzt wird, umarmt wird, berührt wird, geflirtet wird, zweideutige Sachen gesagt werden, dass das Gespräch sexualisiert wird und am Ende werden ein Chat eingeleitet, was eine Verletzung der Schweigepflicht ist, oder es findet regelmäßiger Mailverkehr statt, dann treffen außerhalb der Praxis oder der Klinikräumlichkeiten. Dann werden Telefonnummern weitergegeben, private Treffen außerhalb, Cafébesuche, Konzertbesuche, Saunabesuche. Und es endet dann irgendwann beim sexuellen Verkehr.

[00:05:17.890] - Nadia Kailouli

Also findet sozusagen ein Missbrauch dahingehen statt, dass man sich nicht mehr professionell verhält und diese Vertrauensbasis, die die Patientinnen aufbauen, weil sie ja viel… Das ist ja die Grundbasis einer Psychotherapie, dass man sich öffnet, dass man spricht.

[00:05:36.430] - Andrea Schleu

Ohne das funktioniert, eine Psychotherapie, ja gar nicht. Ohne dass man sich anvertraut, ohne dass eine therapeutische professionelle Beziehung entsteht, kann Psychotherapie gar nicht wirken. Und das ist gerade das Perfide eben auch da dran, dass das, was eigentlich hilft zu heilen, benutzt wird, um zu verletzen und zu schädigen.

[00:05:55.150] - Nadia Kailouli

Vielleicht können Sie da noch mal genauer drauf eingehen für diejenigen, die jetzt sagen: "Was ist denn daran so schlimm? Wenn man sich gut versteht, dann kann man sich doch mal verabreden, dann kann man doch ausgehen. Mein Gott, und dann ist da halt vielleicht eine sexuelle Anziehungskraft. Was ist jetzt so verwerflich daran?"

[00:06:11.200] - Andrea Schleu

Es geht hier überhaupt nicht um Moral, sondern es geht genau darum, die professionelle Beziehungsebene, die ja einen Auftrag hat, nämlich einen Patienten gesünder oder gesund zu machen oder zu heilen, benutzt wird, um private Interessen des Therapeuten durchzusetzen. Es ist sogar oft so, dass Patienten sich in einen Therapeuten oder eine Therapeutin verlieben. Das ist sozusagen das Hilfsmittel, damit Heilung passieren kann. Aber der Therapeut oder die Therapeutin müssen professionell damit umgehen und dieses Verliebtsein, diese Öffnung eines Menschen nutzen, damit es dem besser geht, um das therapeutische Ziel zu erreichen. Und wenn sie das nicht tun, vermischen sie eben private und professionelle Ebene. Und das hilft dem Patienten nie. Die sind immer geschädigt hinterher, und zwar schwer geschädigt und oft viele Jahre lang geschädigt. Es gibt Leute, die rufen uns 20 Jahre nach so einem Missbrauch an und leiden immer noch darunter.

[00:07:16.160] - Nadia Kailouli

Weil die... oder vielleicht können Sie das sagen, also erst mal möchte ich ganz kurz noch mal, weil das Verliebtsein bei mir jetzt so drin geblieben ist und ich mir denke, vielleicht muss man das auch noch mal erklären, dieses: "Warum … Na ja, da verliebt man sich in den Therapeuten." Vielleicht können Sie aus therapeutischer Sicht ja auch noch mal erklären, womit sich das erklären lässt. Ich als Hobbytherapeutin, wie man ja so gerne am Küchentisch ist, würde sagen: Na ja klar, da hört dann endlich mal jemand zu, da öffnet man sich das erste Mal…

[00:07:42.660] - Andrea Schleu

Genau. Da hört endlich mal jemand zu, da ist endlich mal jemand aufmerksam, da versteht endlich mal jemand was, was vorher noch nie verstanden worden ist. Und man erzählt vielleicht auch etwas, was man noch nie einem Menschen erzählt hat, weil man sich so schämt oder weil das so ein Geheimnis ist. Und da entsteht eine sehr große Nähe und große Intimität. Und man idealisiert als Patient ja auch einen Therapeuten oder eine Therapeutin: "Der weiß mehr, der kann mehr, der ist der Helfer." Und ich bin ja derjenige, der eben nicht zurechtgekommen bin, der der Hilfe sucht. Das ist ja ein riesen Machtgefälle da drin in dieser Beziehung. Ich wende mich ja an jemanden, der kompetenter ist und der mir helfen soll. Das heißt, ich idealisiere den und ich muss den auch idealisieren, sonst würde ich da ja nicht hingehen. Ich würde ja nicht Lieschen Müller mein Problem erzählen. Das habe ich ja genau 20 Jahre nicht gemacht, in aller Regel, sondern ich erzähle das einem Menschen, von dem ich glaube, der kann viel mehr als ich. Und damit ist eine Verliebtheit oder eine Idealisierung des Therapeuten, den ich als Autorität ja irgendwie anerkenne, sonst würde ich da nicht hingehen. Ich bin schon mal da. Und Ich brauche diese Beziehungsebene aber, damit ich eine Veränderung erzielen kann, die ich in der Psychotherapie erzielen will. Ich habe ja ein Ziel. Ich will ja weg aus meiner Depression oder aus meiner Angsterkrankung, was häufige Störungen sind. Oder ich will endlich mal eine Beziehung führen können im Privaten, die nicht sofort wieder in Schreierei und Kampf endet. Mit solchen Problemen gehe ich ja in eine Psychotherapie und ich will ja, dass das aufhört. Und wenn der Therapeut aber dann das benutzt, meine Bedürftigkeit, meine Hilflosigkeit, meine Inkompetenz möglicherweise auch, um eigene Ziele zu realisieren, nur um Geld zu verdienen, um sich sexuell zu befriedigen, um sich narzisstisch aufzuwerten und seine Machtgefühle irgendwo auszuüben, dann habe ich als Patient ja gar nichts davon.

[00:09:53.470] - Nadia Kailouli

Nein, da wird der Therapeut ja zum Patienten, muss man ja sagen.

[00:09:56.940] - Andrea Schleu

Nein, der wird zum Täter. Er wird zum Täter oder zum Schädiger. Er benutzt das, was positiv wirken könnte, negativ.

[00:10:09.240] - Nadia Kailouli

Jetzt haben Sie ja gerade eben erzählt, dass Sie durchaus auch Fälle kennen, wo man nach 20 Jahren sich erst traut, darüber zu sprechen und zu sagen: „Damals in der Psychotherapie ist mir das und das passiert und ich bin damit heute noch beschäftigt." Was genau schädigt die Menschen? Was ist das Problem, was viele dann nicht verarbeitet bekommen, was sie in der Psychotherapie durch Grenzüberschreitung erlebt haben?

[00:10:37.460] - Andrea Schleu

Viele fühlen sich erst mal sehr verunsichert und sehr verwirrt, weil solche Therapeutinnen und Therapeuten manipulieren die Wahrnehmung ihrer Patienten. Sie geben auch Desinformationen, sie schieben ihnen die Schuld zu und ich habe dann Schuldgefühle, die eigentlich der Täter haben müsste. Und das alles lässt mich ja sehr leiden: Ich schäme mich, weil ich vermeintlich schuldig bin für das, was passiert ist. Das sagt er mir, das suggeriert der mir, der Therapeut, oder er sagt, das ist unser Geheimnis, darüber darf man nicht sprechen, dann bin ich sehr isoliert mit diesem Geheimnis. Ich darf nicht drüber sprechen, weil ich das erst mal annehme in dieser Abhängigkeit, die ich vom Therapeuten habe. Und das Schlimmste ist natürlich, dass ich so enttäuscht bin, dass ich möglicherweise keine anderen Beziehungen mehr eingehen kann danach oder dass ein Kind gezeugt worden ist, was dann den Therapeuten als Vater hat. Will man dieses Kind mit dieser Tatsache belasten, dass es das Ergebnis eines Missbrauchs ist? Das lässt Leute leiden. Es gibt auch Leute, die einfach neue psychische Symptome zusätzlich entwickeln, sich nicht mehr trauen, sich je wieder auf eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung einzulassen, weil sie fürchten, dass sich das wiederholt. Und alles das sind natürlich Dinge, die jedes Einzelne riesen Probleme nach sich zieht, bis von Arbeitslosigkeit bis bis zur Berentung, bis zur Chronifizierung von psychischen Erkrankungen, suizidalen Krisen, stationärer Behandlungsbedürftigkeit. Das sind unter Umständen fatale Lebensläufe, die damit eingeleitet werden.

[00:12:30.070] - Nadia Kailouli

Jetzt möchten wir natürlich nicht, dass unsere Zuhörerinnen und Zuhörer sich fürchten, wenn sie jetzt diese Folge hören und sagen: „Oh Mann, jetzt habe ich mich doch gerade dazu entschieden, den Weg zur Therapie zu gehen, aber ich glaube, ich mache es doch nicht." Das wollen wir natürlich auch nicht hervorrufen, aber wir wollen aufklären, dass natürlich auch in der Psychotherapie – und Sie haben es gerade ja ganz gut gesagt – das ist eben auch ein Machtgefälle: Der, der es besser weiß, der mir hilft und ich, die schwache Person, die mit einem Problem kommt. Es ist ein Machtgefälle und wir wissen, da wo Machtgefälle sind, da kann Missbrauch passieren. Jetzt haben Sie uns ja schon Eindruck gegeben von den Übergriffen, die Ihnen erzählt werden, die Menschen erlebt haben. Wenn die dann den Weg zu Ihnen schaffen, also zum Ethikverein und diesen Bericht abgeben, was da passiert ist, was machen Sie dann damit?

[00:13:18.990] - Andrea Schleu

Das Erste, was wir tun, ist erst mal den Menschen glauben, aufmerksam zuhören und nachfragen und auch durch Fragen, die Situation weiter klären. Manche haben so den Eindruck, sie müssten das ganz schnell sagen. Und dann versuchen wir erst mal in Ruhe mit ihnen gemeinsam, die Situation zu analysieren. Denn es handelt sich meist nicht nur um einen sexuellen Missbrauch, sage ich jetzt mal so, sondern eben auch um ein ganz missbräuchliches Beziehungsmuster insgesamt. Und die Situationen sind dann eben doch alle ein bisschen unterschiedlich und auch die Anliegen der Ratsuchenden sind unterschiedlich. Es gibt welche, die wollen von uns nur hören, das, was sie erlebt haben, hätte nicht passieren dürfen. Und die sind mit dieser Aussage: "Das ist unprofessionell und das ist aus dem und dem Grund unprofessionell", völlig zufrieden und sagen: „Das hilft mir jetzt sehr. Meine Verwirrung ist jetzt wieder weg, meine Verunsicherung ist weg und der hat versucht, mir die Verantwortung oder Schuld zu geben und da bin ich jetzt klar, ich hatte also doch recht und ich gehe da auf jeden Fall weg und das ist für mich jetzt erledigt mit der Geschichte." Es gibt aber auch andere, die sagen: „Das hat mich so viel gekostet. Es kann nicht sein, der macht das garantiert auch mit anderen", und 80% sind Wiederholungstäter, "Ich möchte mich beschweren. Ich möchte, dass der eine Konsequenz hat, dass andere Patienten auch geschützt sind, dass sich das nicht wiederholen kann." Und dann überlegen wir gemeinsam, ob eine Beschwerde bei der Kammer möglich ist, ob eine Beschwerde bei einem Berufsverband möglich ist oder ob sogar eine Strafanzeige möglich ist, also ein Strafverfahren möglich ist. Aber das muss man dann ganz genau und individuell abklären: Gibt es eben Beweise? Gibt es Belege? Oft gibt es keine. Dann würde ich nie ein Strafverfahren empfehlen. Aber trotzdem kann es sinnvoll sein, eine Beschwerde bei der Kammer oder bei einem Berufsverband zu machen, weil zumindest dann wird deutlich und das wird dann auch ein Stück registriert: Da gibt es ein Problem bei diesem Therapeuten oder der Therapeutin. Der muss sich damit auseinandersetzen, der wird zu Stellungnahmen aufgefordert oder es findet auch ein Berufsgerichtsverfahren statt oder ein Schiedsverfahren in dem Verband statt. Was man auch noch überlegen kann, ist, ob man einen Zivilprozess auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld führt. Das hat aber leider die Voraussetzung, dass man das erst mal bezahlen muss und das können viele nicht. Also das muss man auch individuell klären, ob jemand in der Lage ist, so einen Zivilprozess zu führen, weil der ist eigentlich neben den Schiedsverfahren in den Berufsverbänden dasjenige, was Patienten am meisten hilft. Sie haben nämlich dann Geld für Folgetherapien oder um die Schäden irgendwie ein Stück aufzufangen. Und im Schiedsverfahren, in einem Berufsverband, habe ich eine Konfrontation mit dem Täter. Der muss mir in die Augen gucken, der muss sich verantworten vor Fachkollegen und nicht vor Juristen. Das ist ein großer Unterschied. Vor Gericht sitzt da nur ein Jurist, der kann die psychotherapeutische Situation gar nicht beurteilen, aber vor einem Schiedsverfahren in einem Berufsverband, da muss er vor Kollegen sich rechtfertigen. Und das ist eben sehr viel schwieriger, weil die die Fallstricke natürlich kennen. Und da hat ein Patient viel eher eine Form von Genugtuung davon und Klärung: „Ja, das war Unrecht, was der mir getan hat." Aber was ein Patient will, ein ratsuchender Patient, das versuchen wir eben erst mal mit einem Patienten gemeinsam zu klären. Und es gibt andere, die sind auch so geschädigt, die müssen erst mal eine Folgetherapie bekommen, damit sie überhaupt in der Lage wären, ein Beschwerdeverfahren irgendwo in Gang zu bringen. Dann versuchen wir, Folgetherapien zu vermitteln und wir haben ein Netzwerk von Therapeuten, mit denen wir kooperieren bundesweit und wir versuchen, solche Patienten dann an einen sicheren Folgetherapieplatz zu vermitteln. Alles das und manchmal auch noch andere Dinge, moderierte Klärungen oder Mediationen, dass wir mit Schweigepflichtentbindungen, mit einem Beschuldigten oder einem Therapeuten telefonieren. Oder auch manchmal sind es Aus- und Weiterbildungsteilnehmer, die dann Probleme mit ihren Ausbildungsinstituten haben, wo wir versuchen zu klären und zu moderieren. Also sehr unterschiedlich. Die sind sehr unterschiedlich, die Beratungsverläufe.

[00:18:02.600] - Nadia Kailouli

Vielleicht können Sie uns daher vielleicht einmal einen Überblick geben, der Ethikverein. Was ist das genau? Weil als ich das so gehört habe, Ethikverein, da dachte ich jetzt nicht unbedingt, das ist der Ort, wo ich mich hinwende, wenn ich Probleme in der Psychotherapie habe.

[00:18:16.170] - Andrea Schleu

Ja, der Ethikverein ist ein gemeinnütziger Verein. Wir arbeiten ehrenamtlich. Wir sind ein Team aus zwölf Beraterinnen ungefähr immer und haben ein Beratungskonzept entwickelt und wir haben neue Leute die reinkommen in die Beratung, alte, die dann sozusagen die Jungen anleiten, so ein Rolling System. Und wir bilden uns fort, wir haben eine interne Qualitätssicherung und jeder von uns hat seine Telefonzeiten und seine Mailadresse und an die können sich Patienten eben wenden. Und dann entwickelt sich so ein Beratungsprozess, den wir dann anonymisiert, dokumentieren und später dann auswerten in Kooperation mit Professor Strauß.

[00:19:01.820] - Nadia Kailouli

Okay, jetzt frage ich mich aber, wie kommt man zu Ihnen? Also, wie findet man sie, wenn ich jetzt…

[00:19:07.040] - Andrea Schleu

Die meisten Patienten finden uns, ehrlich gesagt, übers Internet. Die sagen, übers Internet. Oder dass auch jemand sie darauf hingewiesen hat, eine Folgetherapie zu uns geschickt hat oder irgendwie Freunde sie zu uns geschickt haben. Das ist sehr erstaunlich. Offensichtlich werden wir bekannter, kann ich nur sagen.

[00:19:29.370] - Nadia Kailouli

Das ist gut. Und heute heute noch mal umso mehr.

[00:19:30.830] - Andrea Schleu

Heute noch mal umso mehr, weil sich auch eigentlich immer mehr Patienten auch mal mit Problemen während einer Therapie schon melden. Während das früher ganz selten war, kommt das heute relativ häufig sogar vor, dass wir sozusagen versuchen, während einer Therapie ein Stück Einfluss zu nehmen und zu lenken und die Patienten auch zu ermutigen, das doch noch mal mit einer Erklärung mit ihrem Therapeuten zu versuchen, weil ja nicht immer sofort Weggehen eine hilfreiche Lösung ist. Man hat ja auch schon eine Menge investiert in so eine Therapie, auch als Patient. Und dann, ja, früher war das eher selten, aber meistens finden die übers Internet zu uns. Oder weil sie das Buch gelesen haben. Es ist erstaunlich, es ist eigentlich ein Buch, was für Kolleginnen und Kollegen geschrieben worden ist und für Studentinnen, aber es wird von Patienten gelesen und dann sagen sie: „Ja, ich habe ihr Buch gefunden. Und da steht genau das, wie es mir gegangen ist."

[00:20:30.590] - Nadia Kailouli

Sehr gut. Jetzt ist ja die Psychotherapie gerade ein Bereich, finde ich, der boomt ja total. Man bekommt kaum noch einen Platz und gerade junge Menschen öffnen sich dem sehr, zu sagen: „Ich hole mir jetzt Hilfe, ich will da mit einer professionellen Person drüber sprechen." Können Sie sagen, worauf man achten sollte, um zu wissen oder zu merken: "Das, was hier gerade passiert, ist eigentlich nicht in Ordnung von meinem Therapeuten?"

[00:20:54.040] - Andrea Schleu

Ja, es gibt schon Zeichen, auf die man achten kann, weil die ersten Grenzüberschreitungen, sage ich jetzt mal, sind in der Regel kleine. Es wird plötzlich angefangen zu duzen und das ist irgendwie komisch. Eigentlich gehört da in Deutschland immer noch ein "Sie" dazu. Wir kennen uns auf einer professionellen Ebene.

[00:21:15.050] - Nadia Kailouli

Darf ich da direkt mal einhaken?

[00:21:17.200] - Andrea Schleu

Ja. Es sei denn bei Kindern, natürlich.

[00:21:19.020] - Nadia Kailouli

Genau, bei Kindern auch wichtig, natürlich. Aber damit wir jetzt sagen, weil wir gerade, denken immer an eine 19-Jährige, die sagt: „Ey, das ist mir zu konservativ. Ich will eine persönliche Ebene zum Therapeuten haben." Können Sie noch mal erläutern, warum dieses Sie" nicht konservativ oder alt spießig, sage ich mal, ist, wenn man in Deutschland sich siezt, sondern dass das wirklich auch auf der Arbeitsebene wichtig ist?

[00:21:42.710] - Andrea Schleu

Na ja, gerade vielleicht, um die professionelle Beziehungsebene auch ein Stück zu markieren, in Deutschland zumindest. In Amerika wäre das was anderes. Da nennen sich alle beim Vornamen, sage ich jetzt mal so. Und trotzdem gibt es auch da einfach den Respekt und die Autorität des Erfahreneren, sage ich jetzt mal so, des Lehrers, des Vorgesetzten oder wie auch immer und hier eben des Arztes oder Therapeuten, der schon einen gewissen Abstand hat eben zu dem, der da jetzt als Hilfesuchender kommt. Also das wäre zumindest das Erste, aber dann geht es eben so Sachen gemeinsame Aktivitäten, Sexualisierung der Dinge, keine korrekte Abwicklung der Stunden, Verkürzungen der Stunden, Verlängerungen der Sitzungstermine oder plötzlich unregelmäßige Termine, Zuzahlungen zu Therapiestunden. Das sind alles so kleine Sachen, wo man denkt: „Das ist doch jetzt hier komisch? Wieso denn das jetzt?" Und Vorgespräche, vielleicht sage ich das mal: Es gibt ja immer Vorgespräche, bevor man dann einen Behandlungsvertrag eingeht und unterschreibt. Die Vorgespräche sind ja auch dazu da, zu prüfen: "Können wir zwei Therapeut-Patient wirklich diesen Weg einer Therapie miteinander gehen? Habe ich das Vertrauen? Erscheint der mir wirklich vertrauenswürdig?" Und die sind dazu da, diese drei Sprechstundentermine und auch die Vorgespräche, um das zu klären: "Passt der zeitliche Rahmen? Ist das Angebot, was ich vom Therapeuten oder der Therapeutin bekomme, für mich passend? Und können wir Missverständnisse klären?" Erst danach beginnt ja eigentlich die eigentliche Therapie. Das ist, glaube ich, schon mal wichtig, auch das noch zu verstehen. Nicht mit der ersten Sitzung, wo ich irgendwo hingehe, habe ich sofort eine Therapie, sondern ich habe erst mal Vorgespräche, damit beide das klären können. Ist ja auch nicht so, dass jeder Therapeut jeden Patienten behandeln könnte oder sollte. Es soll ein Stück passen. Aber wenn dann Dinge eben sind, die nicht korrekt sind: Keine Rechnung, Zuzahlung, Vermischungen von privaten Dingen und therapeutischen Dingen. Das Häufigste, was wir von Patienten hören, dass die Therapeuten über ihr eigenes Privatleben erzählen, das hat in einer Therapiesitzung nichts zu tun. Das gehört da nicht hin. Das ist der Raum, der für den Patienten oder die Patientin da ist und nicht für den Therapeuten, der mir erzählt, was er für Erkrankungen hat, wohin er in Urlaub fährt oder wie sein Garten aussieht oder dass er mit seinem Hund oder seinem Pferd spazieren geht. Da klaut er dem Patienten Zeit, seine Zeit, Patientenzeit. Oder wenn ich immer zu spät komme oder die Stunde zu früh beende als Therapeut, dann stimmt was nicht. Oder wenn der Therapeut während der Sitzung mit dritten Leuten telefoniert.

[00:24:49.660] - Nadia Kailouli

Das ist alles so schon passiert? Das haben Sie so als Berichter schon…

[00:24:53.230] - Andrea Schleu

Das ist alles, was ich gehört habe. Schreien, anschreien, beschimpfen, aber auch, wenn Missverständnisse mit Therapeuten sich nicht klären lassen, das wäre für mich auch ein Warnzeichen, wo ich denke: „Hier stimmt was nicht." Natürlich verstehen wir Menschen uns zwischendurch mal nicht und nicht sofort oder auf Anhieb. Das ist ganz normal. Aber wenn Missverständnisse sich nicht klären lassen, dann wird es problematisch.

[00:25:25.010] - Nadia Kailouli

Was sagen Sie dazu, dass es ja durchaus auch Therapeuten gibt, die ihre Praxisräume privat zu Hause haben? Es gibt ja viele, die einen Praxisraum haben in dem Haus, wo sie wohnen. Ist das okay? Liegt da schon eine Gefahr? Muss man da besonders vorsichtig sein?

[00:25:42.780] - Andrea Schleu

Na ja, es sollte zumindest getrennt sein. In wirklich privaten Räumen, das zu haben, ist nicht in Ordnung. Das ist zum Beispiel auch eine Sache, das fände ich komisch, wenn ich an der Küche oder am Wohnzimmer oder gar am Schlafzimmer meines Therapeuten vorbeilaufen müsste, um zum Therapiezimmer zu kommen. Da würde ich mich nicht wohlfühlen. Also es gibt Wohnungen, da gibt es getrennte Teile oder zwei Türen oder so was. Das kann ja in Ordnung sein. Wenn es eben getrennt ist, aber nicht im Privaten: "Einmal rechts rum, bitte, oder einmal links rum, bitte." Das ist sicher keine gute Lösung.

[00:26:23.960] - Nadia Kailouli

Jetzt hatten Sie gerade Kinder angesprochen, die man natürlich auch duzt, aber gerade Kinder, die zur Therapie gehen sollen. Ja, oft ist es ja nicht so, dass ein fünfjähriges oder siebenjähriges Kind von sich aus sagt: „Ich möchte jetzt gerne mal zur Psychotherapie", sondern da ist was vorgefallen, vielleicht sogar ein Missbrauch, und das Kind soll eine Therapie machen. Da sind ja nun mal Eltern zum Beispiel nicht vertreten, sondern das ist ja auch sehr privat mit dem oder der Therapeutin. Was würden Sie da sagen, wie soll man sich da den besten oder die beste Therapeutin aussuchen, damit es eben nicht gerade bei Kindern dazu kommt, dass man diese Situation ausnutzt, weil Kinder ja noch mal schwächer sind als junge Erwachsene oder Erwachsene?

[00:27:04.510] - Andrea Schleu

Da gilt auch das, was ich eben gesagt habe. Auch Eltern haben ja da Vorgespräche. Und ich meine, sie haben natürlich, wie bei jeder Kindergärtnerin oder jeder Lehrerin, auch, ich vertraue meinen- oder jeder Tagesmutter oder jedem Babysitter, gucke ich mir doch den Menschen an, dem ich mein Kind anvertraue und schaue auch da, ob die Dinge korrekt sind, ob mein Bauchgefühl mir sagt, dieser Mensch ist in Ordnung. Natürlich kann man sich da irren und dann geht es ja auch… Es gibt ja auch an anderen Orten die Situation, dass Missbrauch stattfindet, aber ich muss auf die Signale meines Kindes hören. Wenn mit meinem Kind sich plötzlich Veränderungen zeigen oder das Kind mir sich irgendwie ja ganz anders wird und rumdruckst oder so, dann muss ich halt gucken und fragen und nachschauen und dem Ganzen nach nachgehen. Aber auch da sind Vorgespräche ja dazu da, dass ich als Eltern gucken muss, ob ich diesem Menschen mein Kind anvertraue.

[00:28:10.680] - Nadia Kailouli

Nun haben Sie ja gesagt, Sie haben das alles auch wissenschaftlich ausgearbeitet. Also die Befragungen von Patientinnen und Patienten, die eine Psychotherapie gemacht haben, mit welchen Erfahrungen sie da rausgekommen sind. Und siehe da, ihre Zahlen sprechen für sich, nicht wenige haben dort unschöne, wenn nicht sogar missbräuchliche Erfahrungen eben gemacht. Was machen Sie mit diesen Ergebnissen? Also wie geht man dann damit um? Sie sind auch an der Universität tätig. Sie haben Kontakt mit Menschen, die Psychotherapeuten werden wollen. Kann man die dahin sensibilisieren oder nimmt man das mit in die Lehre oder was macht man dann mit dieser Erkenntnis?

[00:28:49.920] - Andrea Schleu

Das ist eines der Punkte. Wir bringen es wirklich schon ins Studium der angehenden Psychotherapeuten, aber auch in die Aus- und Weiterbildung und auch in die Fortbildung von Psychotherapeuten. Wir veröffentlichen die Dinge und das alles trägt natürlich zur Sensibilisierung und hoffentlich auch irgendwie zur Qualitätsverbesserung in der Psychotherapie bei. Wir nutzen natürlich die Erkenntnisse auch in der Beratung der Patienten selber, weil alles das, was wir aus einem Fall erfahren, können wir in das Beratungskonzept einwirken lassen oder eben auch in Schulungskonzepte einfließen lassen und helfen so den Patienten, die uns heute in einer Beratung begegnen. Wir wissen heute mehr als vor 20 Jahren einfach. Wir haben auch durch jede Beratung gelernt für die nächsten Beratungen. Und das möglichst immer wieder in den Kreislauf einzubringen, diese Erfahrungen. Und vielleicht einfach auch noch mal das ein Stück zu relativieren: Es sind irgendwie ein bis zwei Prozent der Psychotherapeuten, die so was machen. Das heißt, in aller Regel geht es gut. Es ist nicht etwas, dass das jeder macht. So ist es nun nicht. Aber eben diese 1% der Therapeuten, die sich so verhalten, sind trotzdem viele Fällen.

[00:30:15.760] - Nadia Kailouli

Ich finde das ganz wichtig, dass Sie das auch noch mal so sagen, eben, damit wir keine Angst schüren zu sagen: „Um Gottes Willen, der Therapieplatz ist gefährlich", aber er soll eben nun mal grundsätzlich vor allem dort ja ein Safe Space sein, weil man sich dort so öffnet und vulnerabel ist. Deswegen ist es gut, dass Sie das noch mal gesagt haben, dass das in aller Regel gut läuft. Aber nichtsdestotrotz muss man natürlich auch über die Fälle sprechen, wo es nicht gut läuft. Vor allem, weil man natürlich traumatisierte Menschen nicht noch mal auf einer anderen Ebene…

[00:30:46.680] - Andrea Schleu

Nicht noch mal traumatisieren sollte, ja, denn das führt dann zur Chronifizierung von Erkrankungen.

[00:30:52.720] - Nadia Kailouli

Gibt es denn aber auch Fälle, wo Sie sagen: „Ach Mensch, da muss ich Ihnen jetzt leider sagen, dass ist leider eine gängige Frage in der Therapie, da wollte man Ihnen gar nicht zu nahe kommen." Also, dass man ja eine Form von Therapie, von Gesprächstherapie durch Fragen oder Reaktionen falsch versteht und damit für sich verbucht: "Das war grenzüberschreiten." Ich zitiere jetzt mal so Leute, die von Therapie nichts halten, die zum Beispiel sagen: „Das ist aber jetzt auch ein bisschen hypersensibel, wie du reagierst. Mein Gott." Und dass man das so für sich aufnimmt und dann eben als Reaktion sagt: „Das war nicht in Ordnung. Sie dürfen mich so was gar nicht fragen", und dann gleich hier zur Ärztekammer rennt und sagt: „Hier der Therapeut, der benimmt sich nicht korrekt!"

[00:31:41.850] - Andrea Schleu

Also solche Fälle kommen ganz vereinzelt mal vor. Die meisten Fälle, die bei uns anrufen, sind das nicht. Natürlich kann es sein, dass jemand sehr leicht kränkbar ist und auch schon eine Frage als Provokation versteht. Aber bei uns kommen eigentlich eher die Fälle an, wo es wirkliche Beleidigungen und Beschimpfungen geht. Wenn jemand schreit, wohlgemerkt: „Du blöde Kuh" oder „du Schlampe" oder „du Hure", dann gehört das sicher nicht in eine Therapie. Auch wenn jemand sagt, nach einem 20-Minuten-Gespräch: „Sie haben jetzt hier vier Persönlichkeitsstörungen", und dem Patienten sagt: „Und deswegen behandle ich sie nicht." Dann ist das eine Gesprächsführung, die ist einfach unqualifiziert und unprofessionell. Das sind Pathologisierungen von Patienten, für die überhaupt keine ausreichende Diagnostik besteht. Und das sind Entwertungen. Und da macht man jemanden hilflos und sprachlos und sonst gar nichts und benutzt seine diagnostische Macht, die man hat. Und das sind die Dinge, über die Patienten bei uns berichten. Und es ist zunächst mal glaubhaft, was die uns erzählen, weil das sind dann ja so komische Worte, die ein Patient sonst so gar nicht kennt. Und die werden ihnen dann sozusagen um die Ohren gehauen.

[00:33:09.480] - Nadia Kailouli

Jetzt habe ich gerade daran gedacht, wir haben ja den großen Mangel an Therapieplätzen und es gibt ja immer mehr, fast jeder hat jemanden in seinem persönlichen Umfeld, der Coach wird, der eine Coaching-Ausbildung macht und dann eröffnet man eine Privatpraxis und dann meint man, Leuten helfen zu können, die gerade vor Lebenskrisen stehen oder keine Ahnung was. Was halten Sie davon? Weil ich gerade das, was Sie so gesagt haben, mir dachte: Ist das nicht etwas … Also sind das Leute, die wirklich durch eine therapeutische Ausbildung gegangen sind oder sind das Leute, die meinen, sie sind jetzt Coach und können jetzt hier jemanden runter machen, weil das in ihrer Art so okay ist?

[00:33:50.170] - Andrea Schleu

Also in der Regel sind das schon Leute, die eine psychotherapeutische Ausbildung gemacht haben, über die sich Patienten bei uns klagen, sozusagen. Aber vielleicht ist das schon wichtig, auch noch mal zu schauen. Also das Erste, was ein Patient oder ein Patient der Hilfe sucht, prüfen sollte, ist: „Zu wem gehe ich eigentlich? Ist das jemand, der hat eine qualifizierte Ausbildung?" Und es gibt in Deutschland sozusagen zwei Möglichkeiten, Psychotherapeut zu werden, qualifizierter, entweder als Arzt mit einer psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung oder eben als psychologischer Psychotherapeut. Und das sind diese beiden gesetzlich geschützten Begriffe. Ein Coach ist kein gesetzlich geschützter Begriff. Ich kann Coach mich nennen und habe nie was gemacht. Ich kann überhaupt nicht als Patient prüfen, ob das jemand ist, der eine qualifizierte Ausbildung hat, wenn ich nur nach dem Schild gehe. Es gibt nämlich nur die zwei, die ich vorher genannt, eben einen Arzt mit psychotherapeutischer Qualifikation oder ein psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeut, die als gesetzlich geschützte Begriffe da sind. Alle anderen Bezeichnungen sagen mir nichts, gar nichts über die Qualifikation eines Menschen. Und die erste Prüfung wäre wirklich zu gucken: Habe ich einen qualifizierten Therapeuten vor mir? Ein Coach dürfte keine Krankheiten behandeln. Das darf er nicht. Er hat keine Heilberufserlaubnis. Und das wäre das nächste. Coaching ist auch immer sehr begrenzt auf normalerweise 10 bis 15 Sitzungen. Eine psychische Erkrankung braucht eine Behandlungszeit und wenn das nachhaltig wirken soll, dann brauchen wir ungefähr zwei Jahre, um eine nachhaltige Veränderung zu erreichen, weil unser Gehirn verändert sich dadurch. Und damit die Synapsen sich da oben verändern können, braucht das einfach biologisch Zeit. Das funktioniert nicht wie ein Elektroschalter.

[00:36:06.570] - Nadia Kailouli

Können Sie noch mal kurz uns einen Einblick geben, wo Sie aus dem Erfahrungswert der Auswertung sehen können, da sind die Problem-Orte? Also ist es, weil ich hatte ja eben den Praxisraum zu Hause angesprochen, aber wenn wir an Psychotherapie denken und weil Sie gerade das Schreien so mehrmals jetzt angesprochen haben, musste ich direkt so ans Krankenhaus denken, an die Klinik denken, der Stress, der da auch herrscht und, und, und. Also ist die Klinik mehr der Ort? Ist es mehr der private Therapeut in seinem Praxisraum? Kann man das überhaupt so verorten, oder?

[00:36:42.460] - Andrea Schleu

Also letztlich haben wir mehr Beschwerdefälle aus dem ambulanten Bereich, aber die Fälle, die über stationäre Konstellationen berichten, sind oft die schwereren Fälle, wo es um sehr große Schadensfälle sich handelt.

[00:37:03.830] - Nadia Kailouli

Was bedeutet das genau?

[00:37:07.170] - Andrea Schleu

Häufigste Missbrauchshandlungen. Im Augenblick geht gerade ein Tübinger Fall durch die Presse, deswegen kann man darüber auch offen sprechen. Da hat der behandelnde Arzt die Patientin über 50 Mal missbraucht. Er hat sie geschwängert und zur Abtreibung genötigt. Und das ist nun ein Fall im stationären Setting gewesen, wo viele Leute rundherum waren und man sich fragt, wie es sein kann, dass das niemandem aufgefallen ist. Man muss sich das fragen. Im Ambulanten ist es natürlich eine noch viel intimere Situation. Da sind nur zwei Leute normalerweise in einem Raum, es sei denn, es ist eine Gruppentherapie, aber normalerweise sind zwei Menschen in einem Raum. Und von daher ist das einerseits sehr geschützt, andererseits aber natürlich auch immer ein Hochrisikoort. Also Psychotherapie ist ein Risikoort, genauso wie eine Intensivstation. Aber es gibt keinen… Also per Definition würde ich sagen, es kann jeder Ort gefährlich sein oder eben auch ungefährlich sein. Es hängt mehr an der Person, mit der ich es zu tun habe.

[00:38:26.380] - Nadia Kailouli

Das erinnert mich jetzt gerade so an, zum Beispiel den Kindergarten oder die Schule oder der Sportverein, wo man sagt, natürlich geht man da gerne hin. Da will man ja hin, da muss man vielleicht sogar hin. Das können aber eben auch die Orte sein, wo Grenzüberschreitungen stattfinden, wo Missbrauch stattfindet. Jetzt haben wir hier mehr und mehr immer darüber gesprochen. Das ist ja auch teilweise irgendwo verankert, dass es eben Schutzkonzepte gibt. In der Therapie, in der Psychotherapie, wo ja auch Mensch zu Mensch kommt und es eine sehr intime Atmosphäre ist, da gibt es ja keine verankerten Schutzkonzepte, oder?

[00:38:59.770] - Andrea Schleu

In Kliniken muss es Schutzkonzepte geben, das ist auch gesetzlich vorgeschrieben. Und auch in allen anderen Einrichtungen muss es Schutzkonzepte geben, also sprich irgendwelchen betreuten Wohnungseinheiten oder sonst was. Und für die Psychotherapie gibt es die Berufsordnung, sowohl der Ärzte als auch der psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten. Und in der Berufsordnung ist auch genau festgelegt, dass das, was ich jetzt alles mal so aufgezählt habe eben schon und auch genügend benannt habe, glaube ich, dass das nicht passieren darf. Unter dem Begriff „Abstinenz" ist in allen Berufsordnungen in Deutschland festgelegt, dass keine sexuellen Beziehungen zwischen Patienten und Therapeuten stattzufinden haben, dass man nicht Verwandte in Therapie nehmen kann, dass auch keine private und therapeutische Ebene vermischt werden soll und dass der Therapeut seine eigenen Bedürfnisse nicht in der Therapie befriedigen darf. Das ist da alles festgelegt und es ist auch festgelegt, dass diese Abstinenz auch nach dem Ende einer Behandlung weitergilt. Manchmal steht drin für ein oder zwei Jahre, manchmal steht drin, solange eine Behandlungsbedürftigkeit oder Abhängigkeit besteht. Also da gibt es kleine Unterschiede, aber es ist eindeutig in den Berufsordnungen geregelt.

[00:40:27.300] - Nadia Kailouli

Und trotzdem gibt es eben Menschen, die darüber hinausgehen und sagen: "Ist mir doch egal."

[00:40:33.730] - Andrea Schleu

Die sich nicht daran halten.

[00:40:34.990] - Nadia Kailouli

Die halten sich nicht daran und damit werden sie dann auch, wie wir in manchen Fällen von Ihnen heute gehört haben, zu einem Täter. Das soll aber, wie gesagt, nicht abschrecken, sondern eher nur ermuntern, dass man, auch wenn man einen Therapieplatz bekommt, das Recht hat, da gut hinzuschauen, zu sagen: „Fühle ich mich hier wohl? Läuft das alles so, wie es sein soll?"

[00:40:54.020] - Andrea Schleu

Und wenn es nicht läuft, spreche ich es an und wenn es das nicht zu klären ist, dann suche ich lieber weiter, anstatt mich auf einen falschen Therapieplatz oder einen falschen Therapeuten einzulassen.

[00:41:04.620] - Nadia Kailouli

Ja, das nehmen wir hoffentlich alle heute für uns mit. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie heute bei uns waren und wir so offen darüber reden konnten. Vielen, vielen Dank.

[00:41:11.300] - Andrea Schleu

Gerne.

[00:41:12.160] - Nadia Kailouli

Also das, was Frau Schleu uns heute hier so erzählt hat, das soll natürlich niemandem Angst machen, jetzt zur Therapie zu gehen. Das haben wir zwar jetzt im Gespräch schon mal besprochen, aber mir ist ganz wichtig, euch das auch noch mal zu sagen. Also wenn ihr euch für eine Therapie entscheidet, dann ist das erst mal immer ein guter Weg, ein richtiger Weg. Und wenn ihr aber in der Therapie merkt: „Ey, irgendwie fühle ich mich hier unwohl, irgendwie werden hier Sachen zu mir gesagt, die irgendwie komisch sind" oder, oder, oder, also all die Punkte, die Frau Schleu hier angesprochen hat, dann habt auch den Mut, zu sagen: „Nein, das ist nicht in Ordnung. Hier fühle ich mich nicht wohl." Und dann könnt ihr auch einfach wieder gehen und euch einen neuen Therapieplatz suchen. Ja, und ich weiß, es ist alles gar nicht so einfach, aber lieber einen neuen Therapieplatz, ein bisschen drauf warten, als einen schlechten Therapeuten.

[00:42:00.500] - Nadia Kailouli

Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.

Mehr Infos zur Folge

Wer in Therapie geht, sucht Hilfe. Aber der geschützte Raum, in dem Patient:innen sich öffnen sollen, ist nicht immer so sicher, wie erhofft. Vertrauen ist ein Grundpfeiler der Psychotherapie. Wer sich darauf einlässt, legt Schutzmechanismen ab und macht sich verletzlich. Genau diese Bedürftigkeit nutzen manche Psychotherapeut:innen aus.

Grenzüberschreitungen in der Therapie passieren häufiger, als man denkt. Manchmal fängt es klein an – eine WhatsApp-Nachricht, ein Kommentar zum Outfit. Ist das noch professionell? Oder schon zu viel? Für Betroffene schwer einzuschätzen, vor allem am Anfang. Wenn es dann weitergeht, wenn Grenzen überschritten werden, wenn Übergriffe passieren, schweigen viele. Zur Psychotherapie zu gehen, ist sowieso schon stigmatisiert und dann kommt noch die Angst dazu, dass einem nicht geglaubt wird, dass die eigene Wahrnehmung in Frage gestellt wird. Anzeigen sind selten, Verurteilungen von übergriffigen Therapeut:innen noch viel seltener.

Dr. med. Andrea Schleu kennt diese Fälle. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Psychotherapie. Seit 2004 berät sie im Ethikverein Betroffene, die Grenzüberschreitungen oder sogar sexualisierte Gewalt durch Therapeut:innen erlebt haben. Sie forscht und publiziert außerdem zum Thema Grenzverletzungen in der Therapie.

LINKSAMMLUNG

Der deutsche Ethikverein
Ethik in der Psychotherapie – Qualitätssicherung und Forschung zu Ethik in der Psychotherapie

2024 erschienenes Buch von Andrea Schleu und Bernhard Strauß
Grenzverletzungen in der Psychotherapie

Artikel aus dem Deutschen Ärzteblatt (01/18)
Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie: Zerstörtes Vertrauen und Schuld

Interview mit Andrea Schleu bei ZDF Volle Kanne (11/23)
Missbrauch in der Therapie: „Scham macht stumm”

Interview mit Andrea Schleu bei der Stiftung Gesundheit
Engagement für ethische Standards in der Psychotherapie

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

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