
Sexuelle Belästigungen, Übergriffe, Vergewaltigungen – was ist da los an Europas Universitäten, Anke Lipinsky?
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[00:00:01.860] - Anke Lipinsky
Bei sexueller Belästigung ist es zum Beispiel so, dass unter den Beschäftigten sehen wir da eine Prävalenzrate von etwa 36%. Und unter den Studierenden ist es etwas weniger, so um die 30, 31%, die sagen, sie haben das erlebt. Aber ich möchte jetzt noch mal betonen, dass dieser Erfahrungshorizont sich eben auf die Zugehörigkeitsdauer an der Hochschule selbst bezieht. Das heißt, die Studierenden machen diese Erfahrung in einem kürzeren Zeitraum als die Beschäftigten. Es ist ein systemisches Problem in der Wissenschaft und da können auch Hochschulleitungen, da kann auch in der Wissenschaftspolitik eigentlich niemand mehr weggucken. Da ist die Beweislage einfach jetzt zu klar und zu deutlich.
[00:00:45.780] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:01:08.380] - Nadia Kailouli
Universitäten sind Orte des Geistes, der Kultur und des Fortschritts. Aber Universitäten sind auch Orte der Gewalt, der Diskriminierung und der sexuellen Übergriffe. Das sage nicht ich. Das ist das erschütternde Ergebnis einer Studie in gleich 15 europäischen Ländern. Dabei wurde herausgefunden, dass 31% aller Befragten schon einmal an der Uni sexuell belästigt wurde, also ein Drittel aller Studierenden. Insgesamt gaben 62% an, mindestens eine Form von sogenannter geschlechtsbezogener Gewalt erlebt zu haben. Also körperliche, sexuelle oder psychologische Gewalt aufgrund des eigenen Geschlechts. Auch sonst hat die Studie wirklich niederschmetternde Ergebnisse: An Unis scheint es, alle Formen der Gewalt zu geben: Drohungen, Wutausbrüche, respektlose Anreden, Mobbing, Belästigungen, Übergriffe und Vergewaltigung. Was ist da also los im Universitätsbetrieb? Das kann ich heute glücklicherweise mit Anke Lipinski vom Kölner Leibniz Institut für Sozialwissenschaften besprechen. Sie waren nämlich an der Studie beteiligt. Anke Lipinsky, schön, dass du da bist.
[00:02:12.420] - Anke Lipinsky
Vielen Dank, ich freue mich sehr.
[00:02:13.900] - Nadia Kailouli
Wir freuen uns total Wir haben es ja schon lange versucht, irgendwie dich hier bei uns in einem Podcast zu bekommen, aber die ganzen Termine und und und und und. Und jetzt hat es endlich geklappt und wir reden mit dir über eine Studie, die jetzt auch schon ein bisschen älter ist, aber nichtsdestotrotz ist sie immer noch schockierend. Wir reden über Gewalterfahrungen, sexualisierte Gewalt an Universitäten. Was ist da los? Habe ich mich wirklich gefragt, als ich das gelesen habe.
[00:02:38.880] - Anke Lipinsky
Ja, da ist eine ganze Menge los leider und mit dieser Studie UniSAFE ist das Kürzel. Das ist eine europaweite Studie, die wir da gemacht haben zwischen den Jahren 2021 bis 2024 – so ist jetzt fast anderthalb Jahre her, dass das Projekt abgeschlossen wurde und da haben wir zum ersten Mal nachweisen können, wie groß das Problem eigentlich ist von Erfahrungen unterschiedlicher Gewaltformen in der Wissenschaft, nicht nur unter den Beschäftigten, sondern auch unter den Studierenden, und haben da im Rahmen dieser Studie 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen gewinnen können, mit uns zu arbeiten, sodass wir da Erhebungen durchführen konnten, also eine quantitative Befragung durchführen konnten, aber auch qualitativ forschen konnten. Das heißt, auch Interviews durchführen konnten mit gewaltbetroffenen Personen, die sehr, sehr bildlich dann erzählt haben, wie bei ihnen sozusagen die Lage ist, was ihnen passiert ist. Und qualitativ war auch ein Teil dieser Studie, dass wir in den Hochschulen Fallstudien gemacht haben und geschaut haben, was sind eigentlich die institutionellen Antworten auf Fälle rund um psychische Gewalt, sexualisierte Gewaltformen, sexuelle Belästigungen, aber auch ökonomische Gewalt.
[00:03:51.010] - Nadia Kailouli
Kannst du uns einen Einblick geben, was denn so erzählt worden ist während eurer Untersuchung und Befragung? Als Beispiel, wo du sagst: „Puh, das ist ja krass."
[00:04:02.160] - Anke Lipinsky
Genau. Also diese Interviewstudie, die wir da durchgeführt haben, war insofern eindrücklich, als das dann ganz deutlich und ganz klar wurde, wie unterschiedliche Marginalisierungsgründe, also sexuelle Identität, auch Geschlechtsidentität, Rassifizierung und so weiter, auch Behinderung, mit dem Erfahrungshorizont von unterschiedlichen geschlechtsbezogenen Gewaltformen zusammenhängen. Das war sehr, sehr eindrücklich und ganz klar nachzeichnen können wir durch die Interviews eben auch, dass diese Gewaltformen, nach denen wir auch quantitativ gefragt haben, dass sie zusammenhängen. Das heißt, Menschen, die an der Hochschule, am Arbeitsplatz, am Studienort, sexuelle Belästigungen erfahren, dass die zu sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit, also in den allermeisten Fällen, auch psychische Gewalt erfahren haben. Das heißt, dieses Narrativ, was sehr, sehr verbreitet ist von den Einzelfällen und dass sozusagen nur eine Antwort gefunden werden muss auf etwas, was besonders schlimm ist und rechtlich handhabbar ist, ist einfach falsch. Das heißt, psychische Gewalt, Gewalterleben und sexuelle Belästigung hängt ganz eindeutig zusammen und das konnten wir einerseits durch diese Interview-Narrative ganz klar an Beispielen zeigen, aber eben auch quantitativ in der Befragungsstudie nachweisen.
[00:05:23.380] - Nadia Kailouli
Jetzt hast du ja gerade gesagt, diese Studie fand statt zwischen 2021 und 2024. Jetzt sollte man ja eigentlich meinen, ich meine, wir machen diesen Podcast jetzt auch schon seit drei Jahren oder so. Also das ist ein Zeitraum, wo man ja eigentlich meinen sollte, da hat sich eigentlich schon sehr, sehr viel verändert mit der Sensibilität dahingehend, Diskriminierung, psychische Gewalt, Belästigung etc. Und deswegen frage ich mich gerade, sind das Fälle, die in diesem Zeitraum das auch erlebt haben oder sind das Fälle, die das erlebt haben, die 20, 30 Jahre zurückliegen?
[00:05:56.900] - Anke Lipinsky
Sowohl als auch. Wir haben gefragt nach Gewalterfahrungen an der Hochschule, an der diese Befragung stattfindet. Das heißt, letztendlich war der Arbeitsvertrag bei den Beschäftigten oder die Studiendauer bei den Studierenden maßgeblich dafür, diese Prävalenzraten eben auszurechnen. Das heißt, da waren Menschen dabei, die eben aus der Vergangenheit berichtet haben, also in der quantitativen wie auch in der qualitativen Studie, aber auch Sachen, die ganz nahe dran waren und noch gar nicht so lange zurückliegen. Und tatsächlich meine Wahrnehmung ist, dass sich das Feld leider überhaupt nicht verbessert hat, also die Prävalenzlage sich eigentlich nicht wirklich verbessert hat. Was wir sehen, ist aber eine größere Bereitschaft, darüber zu sprechen. Das heißt, diese Tabuisierung, die es auch immer noch gibt, die wir auch immer noch erleben, die ist aber ein bisschen aufgebrochen. Das heißt, und auch gestützt eben durch die große quantitative Datenlage, ist klar, es sind nicht Einzelfälle, sondern es ist ein systemisches Problem in der Wissenschaft. Und da können auch Hochschulleitungen, da kann auch in der Wissenschaftspolitik eigentlich niemand mehr weggucken. Da ist die Beweislage einfach jetzt zu klar und zu deutlich.
[00:07:16.940] - Nadia Kailouli
Okay. Was bedeutet das denn, da kann niemand weggucken? Also wen kann man da, ich will nicht sagen, zur Rechenschaft ziehen, aber an einen Tisch bringen, um zu sagen, wir müssen darüber sprechen, dass sich was verändert?
[00:07:28.940] - Anke Lipinsky
Na ja, also das ist natürlich vielschichtiges Problem, dass Gewalterfahrung nicht nur einzelne Personen besonders schädigen, sondern auch die Wissenschaftskultur insgesamt schädigt. Und deswegen braucht es da auch unterschiedliche Personen, die da an den Tisch kommen und sich darüber Gedanken machen, wie man das Problem wirklich wirksam auch adressieren kann. Das ist natürlich einerseits so, dass die Hochschulleitungen sozusagen Richtlinienkompetenzen haben, um bestimmte Richtlinien und Leitfäden und Maßnahmen auch an der eigenen Hochschule einzusetzen und die auch mit Ressourcen auszustatten. Aus meiner Sicht ist es aber auch so, dass im Kleineren, das heißt bei allen Menschen, die zum Beispiel Personalverantwortung haben, diese Personalverantwortung eben auch tatsächlich mit Verantwortung für die Arbeitskultur, welche Verhaltensweisen sind eigentlich am Arbeitsplatz akzeptabel und welche sind es eben nicht, verantwortlich sind. Die vertreten ja auch sozusagen die Hochschule als Arbeitgeber:in. Und auf der anderen Seite ist es auch eine Frage von nachschauen: Muss eigentlich im rechtlichen Rahmen noch was nachgebessert werden? Welche Handlungsspielräume gibt es eigentlich auf rechtlicher Ebene? Soweit mir das bekannt ist, zumindest zum Beispiel für Deutschland, ist es noch nicht in allen Bundesländern so, dass zum Beispiel die Studierenden den gleichen rechtlichen Schutz auch genießen wie die Beschäftigten. Und das sollte zügigst nachgebessert werden.
[00:08:52.810] - Nadia Kailouli
Inwieweit kann man denn sagen, dass sowohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowohl als auch die Studentinnen und Studenten Betroffen sind? Also ist es gleichauf oder was habt ihr in dieser Studie herausgefunden?
[00:09:06.100] - Anke Lipinsky
Also in dieser quantitativen Befragungsstudie haben wir herausgearbeitet, dass es die Gewaltformen, nach denen wir gefragt haben, es sind sechs Gewaltformen gewesen, eben psychische Gewalt, sexuelle Belästigung, ökonomische Gewalt, Onlinegewalt und wirtschaftliche Gewalt, aber auch körperliche Gewalt. Da gibt es Betroffene, also überall in der Belegschaft, beim Personal, als auch bei den Studierenden. Und das unterscheidet sich insofern, als dass die bestimmte Gewaltform bei den Beschäftigten höhere Prävalenzraten haben. Und bei den Studierenden ist es eben anders gelagert, welche Gewaltformen da eine besondere Rolle spielen. Bei den Beschäftigten ist es so, dass sieben von zehn Personen sagen, sie haben psychische Gewalt am Arbeitsplatz erlebt. Das heißt, angeschrien werden, dass denen über den Mund gefahren wird, dass sie angegangen werden und in einer Art und Weise, dass es auch wirklich als übergriffig erlebt werden, behandelt werden, was selbstverständlich nicht in Ordnung ist. Bei den Studierenden ist immer noch rund die Hälfte, also 50%. Und bei sexueller Belästigung ist es zum Beispiel so, dass unter den Beschäftigten sehen wir da eine Prävalenzrate von etwa 36%. Und unter den Studierenden ist es etwas weniger, so die 30, 31%, die sagen, sie haben das erlebt. Aber ich möchte jetzt noch mal betonen, dass dieser Erfahrungshorizont sich eben auf die Zugehörigkeitsdauer an der Hochschule selbst bezieht. Das heißt, die Studierenden machen diese Erfahrung in einem kürzeren Zeitraum als die Beschäftigten.
[00:10:39.020] - Nadia Kailouli
Okay, genau. Also nur weil die Zahl deswegen niedriger ist, so heißt das nicht, dass es weniger schlimm ist, sondern eben viel in kurzer Zeit schon passiert ist.
[00:10:47.520] - Anke Lipinsky
Ganz genau. Und zum Beispiel bei den Beschäftigten ist es auch so, dass da jede fünfte Person wirtschaftliche, finanzielle Gewalt erlebt hat. Das heißt auch, dass unberechtigterweise Zugang zu bestimmten Ressourcen oder zu Daten oder zu Informationen unterbunden wird oder unterbrochen wird, was nicht in Ordnung ist. Und das ist eine Gewaltform. Also diese wirtschaftliche Gewalt, die spielt unter den Studierenden nicht so eine große Rolle. Und eine große Rolle spielt aber tatsächlich sexualisierte Gewalt, was über sexuelle Belästigung hinausgeht unter den Studierenden und auch körperliche Gewalt. Körperliche Gewalt ist etwas, was wir festgestellt haben, was insbesondere unter männlichen Studierenden vorkommt.
[00:11:27.780] - Nadia Kailouli
Also das heißt, die Studierenden sind dann sind, sowohl nach eurer Studie Täter als auch Opfer gewesen?
[00:11:33.580] - Anke Lipinsky
Ja, genau.
[00:11:34.310] - Nadia Kailouli
Okay. Kann man dann aber, was jetzt zum Beispiel die sexualisierte Gewalt betrifft, auch das geschlechterspezifisch irgendwie abbilden? Also sind mehr weiblich gelesene Menschen betroffen, zum Beispiel?
[00:11:47.060] - Anke Lipinsky
Genau. Also was wir sehen eigentlich in allen sechs Gewaltformen, die wir eben untersucht haben quantitativ, ist es so, dass die kleinste Geschlechtergruppe eben, die der nicht binären Personen von allen Gewaltformen eigentlich am stärksten betroffen ist und wir da die höchsten Prävalenzraten haben. Und ansonsten ist es so, dass eben Frauen eben stärker betroffen sind als Männer. Also das ist nicht überraschend, das haben andere Studien auch schon gezeigt. Und ja, es macht die Situation leider trotzdem nicht besser, dass wir sozusagen auch das noch mal bestätigt haben für den Hochschulbereich, was andere Studien eben auch schon nachgezeigt haben.
[00:12:25.920] - Nadia Kailouli
Wie ist das denn mit der Erkenntnis darüber, dass diese Fälle, die ihr jetzt in der Studie aufgeschlüsselt habt und eben in Zahlen gefasst habt, dass die auch gemeldet wurden? Also ist da eine Tendenz absehbar oder habt ihr das auch befragt, wie viele von z. B. Sexualisierter Gewalt haben das dann auch im Hochschulkontext eben gemeldet?
[00:12:45.740] - Anke Lipinsky
Tatsächlich sind die Melderaten, je jünger die Personen sind, je niedriger sind die Melderaten. Da haben wir einen ganz klaren, ganz linearen Abfall. Am ehesten werden Gewalterfahrungen gemeldet von Personen, die erfahrungsälter sind und die in einer relativ hohen akademischen Position sind. Da reden wir von etwa 24, 25%. Also ist immer nur noch ein Viertel, aber diejenigen Personen sind einerseits sozusagen erfahrungsälter und sagen vielleicht auch, "das lasse ich mir nicht bieten" oder erkennen auch, dass es ein Übergriff ist und wissen dann auch, wo sie sich hinwenden können und haben vielleicht auch nicht so viel zu verlieren. Also die Kosten sind vielleicht weniger hoch als für Personen, die in Abhängigkeit beschäftigt sind. Das heißt, wenn wir sozusagen runterschauen auf die Gruppe der Beschäftigten, die in der Promotion sind, wissenschaftliche Beschäftigte in befristeten Verträgen etc. Da ist die Meldetendenz eher so, dass wir nur noch 14% haben, die sich irgendwie melden. Und unter den Studierenden ist es so, dass es nur noch 7% sind von den Fällen, die gemeldet sind. Also das heißt, es ist wirklich ein ganz linearer Abfall von der höchsten akademischen Position runter zu den Studierenden. Und da gibt es auch noch mal eine Differenzierung zwischen Masterstudium und Bachelorstudium. Die Masterstudierenden sind genau noch eher geneigt dazu, Fälle zu melden, sich an jemanden zu wenden, als die Studierenden im Bachelor.
[00:14:23.000] - Nadia Kailouli
Jetzt ist es natürlich so, dass man sich denkt, um Gottes Willen, das klingt alles gar nicht gut. Du hast aber einmal gesagt, nicht dass dich das nicht überrascht, sondern dass du einfach deutlich machst, dass in diesem Kontext eben genauso viel und nicht weniger sexualisierte Gewalt stattfindet, wie auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenkünften. Ist das jetzt aber nicht dennoch wahnsinnig problematisch, dass gerade im wissenschaftlichen Bereich, im Universitätsbereich, die Zahlen jetzt daliegen, dass da eben auch ein immens großes Problem mit psychischer und sexualisierter Gewalt stattfindet?
[00:14:58.260] - Anke Lipinsky
Das ist ein immens großes Problem, ganz genau. Und es sind tatsächlich irgendwie Zahlen, die deutlich machen, dass bestimmte Verhaltensweisen immer noch akzeptiert werden in diesem akademischen Feld, sogar wenn man Wissenschaft als Beruf versteht oder als Beruf anstrebt. Und das liegt meiner Auffassung nach eben auch daran, dass es sehr informelle Förderstrukturen gibt, dass es eine sehr hohe Abhängigkeit gibt vom Wissensbestand her, vom Zugang zu Netzwerken, also karriereförder-, berufliche Fördermechanismen, die häufig sehr informell funktionieren, dass eben ein Bruch in der sozialen Dynamik, im sozialen Miteinander, da auch stark sanktioniert werden kann. Das heißt, die Kosten… Es ist dramatisch, dass diese Leute sich nicht melden und dass die Leute sich sozusagen nur in seltenen Fällen wirklich auch zur Wehr setzen. Aber das passiert natürlich einerseits in dem Wissen oder beziehungsweise in der Unsicherheit: „Ist das jetzt nur wirklich so schlimm? Ist das jetzt wirklich ein Übergriff gewesen?" Die Deutung von bestimmten Situationen kann sich ja auch noch mal über die Zeit verändern. Und auf der anderen Seite eben genau in dem Wissen und in der Feststellung, wenn ich da jetzt sozusagen Türen zuschlage, dadurch, dass ich mich beschwere, dass ich sage, dass es nicht in Ordnung ist, hat das folgen, die nicht einschätzbar sind, die Leute betrifft, sozusagen in ihrem Wohlbefinden, in ihrem psychischen, psychosozialen Wohlbefinden einerseits, aber auf der anderen Seite eben auch in ihrem beruflichen Weiterkommen, weil es eben so starke Hierarchien gibt und informelle Fördermechanismen gibt.
[00:16:48.120] - Anke Lipinsky
Und es ist tatsächlich auch so, dass selbst noch auf der Ebene der Professur, wenn sozusagen diese Ebene der Vertragsunsicherheit gar keine Rolle mehr spielt, wir aus den Interviews zum Beispiel zeigen konnten, dass die Person, die da geschädigte ist und wirklich viel aushalten musste in ihrer Berufslaufbahn am Arbeitsplatz, das so relativiert und sagt, dass ihr Rückzug auch von den Kolleginnen und Kollegen zum Selbstschutz diente, dass die Person denkt, dass das vielleicht gar nicht so eine große Auswirkung auf ihre akademische Karriere hatte. Aber das ist natürlich, also das ist natürlich so nicht darstellbar, weil sie weiß das letztendlich nicht, welche Chancen, welche Türen vielleicht doch noch aufgegangen wären und welche Möglichkeiten da bestanden hätten. Und dieser Rückzug, auch der soziale Rückzug von den Kolleginnen und Kollegen, passiert halt aus Selbstschutz, was dramatisch ist, dass ich sozusagen selber als Geschädigte dafür verantwortlich bin, mich zu schützen, weil eigentlich ist es Aufgabe der Hochschule, die Angestellten und auch die Studierenden zu schützen.
[00:18:03.060] - Nadia Kailouli
Was wäre denn dein Appell? Also wie gelingt das einer Hochschule, einer Universität, eben seine sowohl Mitarbeitenden, aber auch Studierenden da angemessen zu schützen?
[00:18:14.120] - Anke Lipinsky
Das ist eine total wichtige und letztendlich die große Preisfrage. Und wenn es da eine Maßnahme oder eine Antwort drauf gäbe, wäre uns wirklich schon irgendwie sehr geholfen. Aber das ist halt leider nicht so. Es gibt eine sehr schwache Beweislage zur Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen. Es gibt Einzelfälle. Das heißt, Einzelfallstudien, die bestimmte Wirksamkeitsnachweise erbringen, aber so großflächig gibt es das leider noch nicht als Nachweis. Es gibt aber auf jeden Fall Empfehlungen aus dem Erfahrungsschatz auch der, zum Beispiel, Bundeskonferenz der Frauengleichstellungsbeauftragten an Hochschulen in Deutschland, wo es darum geht, Beratungsstellen einzurichten, Sensibilisierungkampagnen zu fahren und letztendlich diese Aufgabe der Hochschule, präventiv ihre Beschäftigten und die Studierenden eben auch zu schützen, dem sozusagen nachzukommen. Da gibt es auf jeden Fall Empfehlungen. Es gibt im englischsprachigen Bereich auch mittlerweile Erfahrungen und auch Einzelfall Evaluation zur Wirksamkeit von Bystandertrainings. Das heißt, Leute, die bestimmte Situationen eben mitbekommen und die dann sozusagen darauf trainiert werden oder geschult werden, einzuschreiten und dann wirksam diese Situation zu unterbrechen und die Betroffenen eben zu schützen und sich natürlich auch selber zu schützen. Da gibt es auch schon einzelne Nachweise, wie wirksam das ist, aber das erreicht natürlich insbesondere die Personen, die ohnehin sensibilisiert sind, die ohnehin bereit sind, einzuschreiten und denen die Arbeitskultur und das Miteinander in der Studierendenschaft eben auch wichtig ist. Das sind nicht unbedingt Personen, die der Hochschulleitung angehören oder die eben Projekt- oder Personalverantwortung tragen. Da gibt es garantiert auch noch Wege und Mechanismen, also Dinge zu verbessern. Man könnte ja zum Beispiel auch darüber nachdenken, Professuren auszuschreiben mit bestimmten Konditionen und Bedingungen. Nicht nur Exzellenz, das ist ganz klar. Das bringen alle Leute mit, die sich nicht nur darauf bewerben, sondern die auch berufen werden, aber dass bestimmte Kompetenzen und auch eine bestimmte Art von Sensibilisierung und Fürsorge für die Beschäftigten, die dann der Person zugewiesen sind, dass das einfach eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Leute solche Kompetenzen mitbringen und sich auch wiederholt schulen lassen.
[00:20:40.360] - Nadia Kailouli
Was wären das denn für Kompetenzen, die man mitbringen müsste oder was sollte einem beigebracht werden, damit man einen besseren, respektvolleren Umgang eben pflegen kann mit Studentinnen und Studenten zum Beispiel?
[00:20:54.040] - Anke Lipinsky
Na ja, auf der einen Seite geht es darum, zu schauen, also welche Fürsorgepflichten habe ich als Vertretung der Arbeitgeberin und das sozusagen auch wirklich umzusetzen. Das heißt auch sozusagen, dieses Rechtsverständnis zu schulen auf der einen Seite, aber es darf halt da nicht enden. Ganz häufig ist dieser Diskurs, den wir da erleben, rund um sexuelle Belästigung und unterschiedliche Gewaltformen, sehr, sehr verrechtlicht. Und die Hochschulen und auch diejenigen Personen, die sozusagen die Hochschule in ihrer Arbeitgeberinnenfunktion vertreten, berufen sich häufig auf sozusagen diese Rechtskompetenzen. Aber es geht aus meiner Sicht eben auch darum, zu schulen: Wie können wir gut miteinander arbeiten? Wie ist das Nähe- und Distanzverhalten zwischen Studierenden und Beschäftigten? Oder Personen, die da sind, um Studierende anzuleiten? Also sozusagen, da gibt es unterschiedliche Ideen dazu. Also eine Team-Charta kann so ein Instrument sein oder bestimmte Vereinbarungen, die dann wirklich auch in der Praxis gelebt werden, weil was wir natürlich auch sehen, ist, dass es Richtlinien gibt und die auf dem Papier stehen und da aber vom Papier leider nicht wegkommen. Das heißt, nicht wirklich in die Praxis in einer angemessen Form übertragen werden. Und darum geht es ja auch, dass wenn ich zum Beispiel per Richtlinie vorgesetzte Personen, also noch mal das Beispiel Professur, verantwortlich mache für das Arbeitsklima an einem Lehrstuhl, dann muss ich die Leute auch befähigen, diese Verantwortung wahrzunehmen.
[00:22:27.230] - Nadia Kailouli
Nun gibt es ja auch Leute, die sagen: „Die sollen sich jetzt mal alle nicht so anstellen." Nehmen wir jetzt mal das Thema sexualisierte Gewalt außen vor. Ich finde, da braucht man nicht drüber reden, dass man da eben keinen Spielraum hat. Aber wenn wir jetzt zum Beispiel das Thema psychische Gewalt nehmen, vielleicht kannst du uns einmal erklären, wo fängt die an? Weil wenn jetzt eine Studentin oder Student sagt: „Ich komme jetzt hier nicht weiter" und der Professor sagt: „Ja, sorry, aber du musst und wir haben das vereinbart und da ist jetzt Abgabe", oder ich weiß nicht was, und das dann bei eurer Studie als psychische Gewalt darlegt. Da kann man ja darüber streiten: Na ja, ist das jetzt psychische Gewalt oder ist das einfach auch der Job, den man jetzt zu erfüllen hat? Wie findet man da eine Leitlinie, ganz klar zu definieren, wo da Grenzen sind oder was man als psychische Gewalt tatsächlich dann auch so verbuchen kann?
[00:23:23.460] - Anke Lipinsky
Das ist tatsächlich eine gute Frage, weil es geht um das Empfinden der betroffenen Person. Wenn ich Schaden anrichte, das muss ja auch nicht intendiert sein als Schaden, aber trotzdem ein Schaden angerichtet ist, können wir davon ausgehen, dass es Gewalt ist. Selbst die betroffene Person selber muss es nicht als geschlechtsbezogen in irgendeiner Form als Abwertung ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität etc. wahrnehmen, sondern es reicht aus, wenn wir eine statistische Häufung sehen. Das heißt, diese kausale Verbindung, „Das ist mir jetzt passiert" oder „Ich wurde jetzt angeschrien, weil ich eine Frau bin", oder aus anderen Gründen. Das ist gar nicht notwendig. Wenn wir in diesem Studienkontext, und das ist das, wo ich mich in meinem Arbeitsfeld bewege, wenn wir davon ausgehen, ist es nämlich auch so, dass eine statistische Häufung dann auch schon sagen kann: Okay, hier gibt es eine statistische Häufung, das betrifft viel eher Frauen, das betrifft viel eher Männer oder das betrifft viel eher nicht-binäre Personen oder Personen anderen Geschlechts, dann können wir ganz eindeutig davon ausgehen, dass es geschlechtsbezogene Gewalt ist. Und ich weiß, das klingt vielleicht merkwürdig, weil bestimmte Forderungen oder auch eine konflikthafte Situation, das ist was, was unseren Alltag auch bestimmt. Das erleben wir andauernd. Es gibt unterschiedliche Interessen et cetera, aber es gibt eben auch Grenzen dessen, wie ein guter Umgang miteinander funktionieren kann. Und wenn ich erleben muss, dass bestimmte Bemerkungen gemacht werden über den Körper, sexualisierte Witze, Bemerkungen, Beleidigungen, dass mir über den Mund gefahren wird et cetera, dann ist das schlicht und ergreifend nicht in Ordnung.
[00:25:14.440] - Nadia Kailouli
Wir erkennen ja gerade wieder sehr gut durch das, was du schilderst, diese Machtgefälle natürlich halt auch: Die Professur, der Student, die Studentin. Und es gibt natürlich die Studenten, Studentinnen, mit dem arbeitet der Prof vielleicht lieber als mit anderen. Da gibt es Bevorzugungen. Da gibt es die, die werden eher nicht so gesehen, weil sie nicht so nach vorne gehen und so. In welcher Verantwortung stehen da die Hochschulen und auch die Professoren, dahingehend sensibel zu sein und dieses Verhalten eben zu verändern? Oder gibt es dazu Erkenntnisse in deiner Studie, dass es tatsächlich so auch gehandhabt wird?
[00:25:51.320] - Anke Lipinsky
Gehandhabt wird im Sinne von, dass es Bevorzugungen gibt.
[00:25:54.460] - Nadia Kailouli
Genau. Was ja auch dann eine Form von Diskriminierung anderer gegenüber ist, wenn man merkt: „Okay, mich mag man jetzt nicht so und deswegen bin ich jetzt bei dieser Forschungsarbeit nicht mit ausgewählt worden"?
[00:26:06.600] - Anke Lipinsky
Die Frage ist ja: Habe ich einen Anspruch oder einen Anrecht oder gehört es zu meiner Aufgabe, in dieser Forschungsarbeit beteiligt zu werden, ja oder nein? Und wird das auch gewährt, ja oder nein? Dass es bestimmte Entscheidungen gibt, wo dann ein Zutrauen in bestimmte Personen, weil es da einen Interessenschwerpunkt oder einen Kompetenzschwerpunkt gibt, dass dann bestimmten Personen bestimmte Arbeiten zugewiesen werden, das ist nicht per se problematisch, sondern was problematisch ist, wenn es sozusagen zum Arbeitsfeld von Personen gehört, die dann auf einmal keinen Zugang mehr haben zu den Informationen oder aus anderen Gründen auf einem Paper, was sie geschrieben haben, nicht mehr auftauchen. Das ist schlicht und ergreifend problematisch. Und grundsätzlich ist es so, dass diese Frage nach… also dass sozusagen sexuelle Belästigung, aber auch psychische Gewalt, auch als Machtinstrument eingesetzt wird, auch bewusst eingesetzt wird. Das heißt, eben, um Hierarchien zwischen Geschlechtern herzustellen, ganz häufig noch, und um diese Privilegierung, die Personen haben, eben zu manifestieren. Das können wir nur nachzeichnen, eben durch eine sehr quantitativ orientierte Studie und dadurch, dass die große Masse der Fälle, und wir haben in dieser Studie von UniSAFE jetzt in dieser Onlinebefragung über 42.000 Fälle, die wir in die Analyse einbeziehen konnten. Und dann ist es eine ganz klare Sachlage, dass eben bestimmte Gewaltformen, psychische, aber auch sexualisierte Gewaltform, einschließlich auch sexueller Belästigung, dazu genutzt wird, eben Hierarchien zwischen den Geschlechtern beizubehalten und Ausschlussmechanismen zu erzeugen, als auch ein Arbeitsumfeld zu schaffen, was natürlich auch hochkompetitiv sein kann und hochindividualisiert sein kann, aber dass es eben ein Arbeitsumfeld ist, wo bestimmte Personengruppen mit bestimmten auch sozidemografischen Merkmalen sozusagen ihre Privilegien manifestieren.
[00:28:09.620] - Nadia Kailouli
Nun fragt man sich natürlich schon, auf welchem Platz ist denn in Deutschland? Weil es ist ja eine europäische Studie. Also ihr habt das in mehreren europäischen Ländern durchgeführt. Kannst du uns sagen, wo Deutschland da steht? Also wo stehen wir da?
[00:28:22.260] - Anke Lipinsky
Wir haben kein Länder-Ranking gemacht. Das heißt, es ging in dieser Studie eigentlich um die Organisationen. Also es gab keinen Ländervergleich, sondern wir haben nach institutionellen Kriterien geguckt: Gibt es da eigentlich Erklärmuster, die für eine höhere oder eine niedrigere Prävalenz sprechen oder eine höhere oder niedrigere Neigung Vorfälle zu melden und damit sozusagen offener umzugehen und sich Unterstützung einzuholen? Und da kann ich also keinen Platz oder Ranking auch nicht für Deutschland präsentieren oder erzählen, aber was wir sehen, ist, dass in drei Ländern insgesamt, die in unserer Studie eingeschlossen waren, von 15 Ländern in Europa, bei dreien ist es so, dass wir eigentlich ein ganz gutes Management und eine ganz gute Datenlage haben, gut im Sinne von, dass wir den Eindruck haben, dass sozusagen diese Kombination von Umfrage und auch Fallstudie, institutioneller Fallstudie, dass das in der Kombination eigentlich sehr sinnvoll ist und dass sozusagen der politische Rahmen, also der politisch-rechtliche Rahmen, mit den institutionellen Maßnahmen, die da betrieben werden, gut zusammenpassen mit dem, was wir in der Prävalenz und im Meldeverhalten der Personen sehen. Das sind Irland, Spanien und Schweden. Und was ist an diesen Ländern so besonders? Das ist natürlich dann irgendwie die Preisfrage: Welche erklärenden Faktoren gibt es da? Bei Irland ist es so, dass es in den letzten Jahren, bevor die Befragung stattfand, einen Zusammenschluss gab, also eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Forschungs- und Bildungsministerium. Die haben zusammengearbeitet mit den Forschungsfördereinrichtungen, die haben zusammengearbeitet mit den hochschulenden Forschungseinrichtungen im Land. Irland ist ein relativ kleines Land, sodass die auch alle gut an einen Tisch zusammenkommen konnten. Und dann haben die entschieden, wir machen jetzt was gegen sexuelle Belästigung, wir machen jetzt was gegen geschlechtsbezogene Gewalt in der Wissenschaft bei uns. Und dann war das ein sehr abgestimmtes Verfahren und dann haben die sozusagen sehr klar aufeinander abgestimmt, was im Rechtsrahmen steht, wie die Forschungsfördereinrichtungen sich verhalten, eben auch Sanktionsmaßnahmen überlegt. Und die Hochschulen haben halt auch überlegt, irgendwie, welche Strukturen führen wir ein und haben dann zum Beispiel auch gemeinsam, also landesweit, eine Meldestelle eingerichtet, wo anonym Fälle gemeldet werden können. Ja, und dieses abgestimmte Verfahren, dieses gemeinsam an einem Strang ziehen, um das Problem anzugehen, zeigt sich da offensichtlich als sehr, sehr fruchtbar. Und ganz ähnlich ist es in Spanien gewesen. Da gab es nicht so diesen Prozess, den ich gerade für Irland beschrieben habe, aber in Spanien gibt es eine sehr progressive Rechtslage und die hat dann auch dazu geführt, dass in einigen Landesteilen, Katalonien beispielsweise, auch zum Beispiel Fragen rund um Geschlechterstereotype mit auf den Lehrplan gekommen sind und auch Initiativen gegründet worden sind, um sexuelle Belästigung da präventiv zu wirken und zu verhindern. Natürlich gibt es in beiden Ländern und insbesondere auch in Spanien die Situation, dass ganz viel Aktivitäten getrieben von Bottom-up von den Studierenden, aber auch von den Beschäftigten angegangen werden und die dann auch eingebunden werden in das, was die Hochschule so macht. Das heißt, das ist dann so oder so auf Initiative von bestimmten Personengruppen, auch von Betroffenengruppen entstanden. Aber es gibt da, was ich zumindest erlebt habe, auch an den Hochschulen, eine bestimmte Art von Dialogbereitschaft und eine Offenheit, da sozusagen auch Strukturen zu schaffen. Also der Diskurs ist in beiden Ländern nicht so stark verrechtlicht, wie ich den in Deutschland wahrnehme.
[00:32:19.490] - Nadia Kailouli
Okay, verstehe. Und das ist ein gutes Beispiel dafür, dass wenn man was tut, dass das dann eben auch was bringt, indem man das Thema eben nicht unter den Teppich kehrt, sondern sich proaktiv damit beschäftigt. Auf der anderen Seite muss man wahrscheinlich dann auch sagen, gerade wenn du den Fall in Spanien angesprochen hast, wo man aus der Studentenschaft heraus sagt: „Okay, wir wollen aber...", dass das wahrscheinlich vielleicht in anderen Ländern oder in anderen Universitäten, auch sehr individuell, da vielleicht auch eine Angst ist, zu sagen, wenn wir jetzt aber von uns aus sagen: „Ey, wir merken hier läuft was falsch, wir wollen das so nicht", dass man dann natürlich auch wieder Angst vor Konsequenzen hat.
[00:32:53.320] - Anke Lipinsky
Wenn ich es richtig verstehe, sozusagen, es gibt immer auf der Hochschulleitungsseite auch die Befürchtung, wenn wir das Thema jetzt groß machen für uns und wenn wir da sozusagen auch den Initiativen, die in der Studierendenschaft oder unter den Beschäftigten entstehen, wenn wir dem Raum geben, dass wir dann sozusagen „die problematische Hochschule" sind. Das passiert, dass es immer noch so bestimmte Berührungsängste gibt, obwohl, wie gesagt, meine Wahrnehmung, habe ich einstiegs auch gesagt, ist, dass es eine höhere Dialogbereitschaft gibt mittlerweile, irgendwie jetzt zum Beispiel im Vergleich zu dem, was ich aus der Literatur kenne von vor zehn Jahren, bevor Me Too irgendwie ein großes Thema wurde und auch in Film, Funk, Fernsehen, auch in der Theater- und Kunstszene und so. Das ist ja jetzt sozusagen auch ein Teil des Diskurses besprechbar geworden. Das ist auch meine Wahrnehmung an den Hochschulen, dass es da immer weniger Berührungsängste gibt. Aber es gibt natürlich immer auch Menschen, die dann denken: „Oh, wir haben jetzt hier einen Reputationsverlust. Wie stehen wir denn da? Was ist, wenn das an die Presse geht?" Und genau, die sich dann das vielleicht zweimal überlegen oder wo der Prozess einfach dann nicht so schnell verläuft, wie er vielleicht sein könnte.
[00:34:07.420] - Nadia Kailouli
Hast du denn schon oder ihr schon Ergebnisse darüber, wie denn sozusagen die Wissenschaftslandschaft, die Hochschule-, Universitätslandschaft so auf diese Ergebnisse reagiert hat? Also gibt es da mehr Bereitschaft, jetzt zu sagen: „Wir wollen das ändern" oder hat man das einfach so hingenommen und hofft, dass es besser wird, ohne proaktiv was zu tun? Oder welche Reaktion habt ihr darauf erlebt?
[00:34:30.820] - Anke Lipinsky
Also was ich jetzt konkret in meinem Arbeitsalltag erlebe, ist, dass ich ganz viele Anfragen bekomme von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Fachdisziplinen, die ganz gerne mit der Studie, die wir gemacht haben, mit dem Fragebogen, die das sozusagen weiterverarbeiten wollen. Das heißt, in einem bestimmten Kreis von Hochschulen oder an ihrer einzelnen Hochschule auch eine Befragung machen wollen, weil durch unsere Studie, die relativ groß war und da einfach klar wird, okay, die Evidenzlage ist auf jeden Fall ein sehr, sehr gutes Argument, um zu sagen, es muss hier was passieren. Und wenn es gut gemacht ist, wird es eben auch gerne weiter verwendet. Und das ist was, was mich total freut und wo ich die Leute auch ermutige und unterstütze. Der Datensatz selber ist ja auch für Sekundärforschung freigegeben und die Fragebögen können auch verbessert werden, die können nachgenutzt werden. Es freut mich, wenn das sozusagen aufgegriffen wird und sozusagen da was passiert. Das heißt aber auch, wenn Leute aus der Wissenschaft auf mich zukommen und sagen: "Wir würden den Fragebogen nachnutzen. Können wir das und kannst du uns beraten?" Heißt ja auch, die haben irgendwoher Geld bekommen. Das heißt, was ich da sehe, ist auch eine Bereitschaft von Forschungsfördereinrichtungen oder von Hochschulleitungen, zu sagen, okay, wir geben dafür Geld aus, eine Evidenzbasis zu schaffen, um dann auch vielleicht passgenau für unsere Hochschule oder für den Hochschulverbund oder für ein bestimmtes Fachbereich Medizin zum Beispiel, da eine Datengrundlage zu schaffen, die über diesen Bereich sexuelle Belästigung hinausgeht und auch andere Gewaltformen mit behandelt, um das zu machen und dann auch quasi in die Aktivität zu gehen. Also das erlebe ich schon. Und auch Interesse von Seiten des jetzt unbenannten BMBFs, also des Forschungsministeriums, die auch noch mal von mir eine besondere Auswertung in Richtung von Vielfaltsdimensionen haben wollten, um genau zu schauen, wo gibt es eine besonders hohe Betroffenheit? Wo gibt es besonders hohe oder auch niedrige Folgen für die psychosoziale Gesundheit der Beschäftigten beispielsweise, aber auch für den Berufsweg?
[00:36:48.200] - Nadia Kailouli
Anke, das klingt danach, dass diese Studie, die ihr gemacht habt, zum Glück sehr nachhaltig ist und eben andere darüber mehr wissen wollten, so wie wir das auch wollten. Ich danke dir sehr, dass du heute bei uns bei einbiszwei warst und wir einen Einblick in UniSAFE in die Studie bekommen haben. Vielen Dank.
[00:37:04.600] - Anke Lipinsky
Sehr, sehr gerne.
[00:37:08.800] - Nadia Kailouli
Also die UniSAFE Studie. Also wenn ihr jetzt irgendwie an der Universität arbeitet oder studiert, vielleicht guckt ihr euch die mal an. Vielleicht bringt ihr die einfach auch mal mit beim nächsten Treffen, beim nächsten Zusammensitzen und redet darüber und vielleicht sagt ihr: „Hey, bevor es so weit kommt, dass hier Leute eben sich nicht trauen, was zu sagen, was hier falsch läuft, gehen wir - so wie zum Beispiel in Spanien, ich fand das ein super Beispiel -, „proaktiv als Uni, als Studentinnen und Studenten auf die Hochschulleitung zu und sagen: 'Hey, wir wollen proaktiv was dafür tun, dass unsere Universität, unsere Hochschule ein sicherer Ort ist und dass hier psychische und sexualisierte Gewalt eben nicht stattfindet und wenn sie stattfindet, dass wir uns trauen, das auch anzusprechen.'"
[00:37:52.700] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Universitäten sind Orte des Geistes, der Kultur und des Fortschritts. Aber: Universitäten sind auch Orte der Gewalt, der Diskriminierung und der sexuellen Übergriffe. Das ist das erschütternde Ergebnis einer Studie in 15 europäischen Ländern.
Dabei wurde herausgefunden, dass 31 Prozent aller Befragten schon einmal an der Uni sexuell belästigt wurde, also ein Drittel aller Studierenden. Insgesamt gaben 62 Prozent an, mindestens eine Form von sogenannter geschlechtsbezogener Gewalt erlebt zu haben, also körperliche, sexuelle oder psychologische Gewalt aufgrund des eigenen Geschlechts. Auch sonst zeigt die Studie niederschmetternde Ergebnisse: An Unis scheint es alle Formen der Gewalt zu geben – Drohungen, Wutausbrüche, respektlose Anreden, Mobbing, Belästigungen, Übergriffe und Vergewaltigungen.
Anke Lipinsky vom Kölner Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften ist Mitverfasserin der Studie und forscht zu den Themen Gleichstellung, Gender und sexualisierte Gewalt an Hochschulen. Sie kann erklären, wie das Machtgefälle an einer Universität Machtmissbrauch begünstigt.

LINKSAMMLUNG
Studie von Anke Lipinsky zu sexualisierter Gewalt in der Wissenschaft
Studie „Expertise zu sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt in der Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Vielfalt und Intersektionalität” (2024)
Webseite des Projekts zur Beendigung Geschlechtsbezogener Gewalt
UniSAFE – Ending Gender-Based Violence
Das Projekt „UniSAFE” übersichtlich und in deutscher Sprache hier:
CEWS: Das Forschungsprojekt „UniSAFE”
Artikel zur Studie von Anke Lipinsky
SPIEGEL: „Ein Drittel erfährt an der Uni sexuelle Belästigung” (11/22)
Artikel zur Förderung von Frauen in der Forschung
Forschung und Lehre: „Wie gut die Maßnahmen für Gleichstellung wirken” (03/21)
Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (BUKOF)
Kommission „Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt”
