
Ihr kümmert euch um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten – worum geht es da, Lotta Brodt?
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[00:00:01.020] - Lotta Brodt
Ich kenne fast keine Frau, die bei mir in der Beratung war, die nicht in irgendeiner Form sexualisierte Gewalt erlebt hat, von vielleicht in Anführungszeichen milden Formen wie Catcalling oder Ähnliches, bis aber auch zur Vergewaltigung, zum Missbrauch durch einen Partner. Das ist alles schon vorgekommen.
[00:00:20.800] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:43.860] - Nadia Kailouli
Wenn wir über sexuelle Aufklärung sprechen, denken viele an den Unterricht in der Schule, an das unangenehme Gespräch mit den Eltern und an einen Bravo-Artikel zum Beispiel. Aber was ist, wenn man gar nicht so einfach an diese Informationen rankommt? Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist der Zugang Aufklärung, zur Gesundheitsversorgung, überhaupt zur Information über Sexualität, alles andere als einfach. Dabei sagt die UN-Behindertenrechtskonvention ganz klar: Auch Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Mein heutiger Gast ist Lotta Brodt, sie arbeitet seit zehn Jahren bei der Beratungsstelle Liebelle und sie ist Sexual- und Sozialpädagogin und berät nicht nur Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten, sondern auch Betreuer:innen oder Eltern, denn die entscheiden sehr oft mit, was erlaubt ist und was nicht. Zum Beispiel, ob jemand sich verlieben darf, ob jemand über Sexualität sprechen darf. Wie Lotta dafür arbeitet, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten mehr sexuelle Selbstbestimmungen leben können, das erzählt sie uns jetzt.
[00:01:42.840] - Nadia Kailouli
Herzlich willkommen bei einbiszwei Lotta Brodt. Grüß dich. Lotta, wie schön, dass du da bist und wie schön, dass wir heute über das Thema „Liebe, Sexualität und Partnerschaft" sprechen. Du bist nämlich seit zehn Jahren bei der Liebelle, eine Beratungsstelle für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Da fragt man sich natürlich, warum braucht es dann extra eine Beratungsstelle in den Themen Liebe, Sexualität, Partnerschaft für Menschen mit Lernschwierigkeiten?
[00:02:06.920] - Lotta Brodt
Danke für die Einladung auch. Ich freue mich auch, hier zu sein. Warum braucht es uns genau, um das Thema Liebe, Partnerschaft, Sexualität bei Menschen mit Lernschwierigkeiten aus der Tabuzone zu holen. Wir haben gesagt, wir müssen eine Beratungsstelle gründen, um das Thema sichtbar zu machen für den Personenkreis, weil ganz oft den Menschen Sexualität abgesprochen wird, dass immer noch viele Unsicherheiten gibt, darüber zu sprechen und indem wir die Beratungsstelle gegründet haben und nicht einfach in einer, zum Beispiel, Pro-Familia-Beratungsstelle übergegangen sind und das Thema dort auch anbieten, haben wir die eigene Beratungsstelle gegründet.
[00:02:45.480] - Nadia Kailouli
Kann man eigentlich fragen: Was sind denn Menschen mit Lernschwierigkeiten?
[00:02:49.780] - Lotta Brodt
Genau, das kannst du gerne fragen. Menschen mit Lernschwierigkeiten, damit meinen wir Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, also mit kognitiven Beeinträchtigungen. Es gibt sehr, sehr viele Bezeichnungen für den Personenkreis. Wir haben uns entschieden, vor einigen Jahren den Personenkreis Menschen mit Lernschwierigkeiten zu nennen, weil das eine Forderung der Selbstvertretungsorganisationen ist, die sagen, wir empfinden den Begriff geistige Behinderung als diskriminierend. Wir möchten lieber Menschen mit Lernschwierigkeiten genannt werden und da es bei uns um Selbstbestimmung geht, wollen wir eben dieser Forderung auch folgen.
[00:03:22.640] - Nadia Kailouli
Okay, das kann ich verstehen. Jetzt kommen wir mal zu dem, was du eben gesagt hast, eben diese Selbstbestimmtheit zu lernen, wenn es eben um Liebe und Sexualität und Partnerschaft geht. Wie bringt ihr das denn den Menschen bei?
[00:03:36.300] - Lotta Brodt
Ganz unterschiedlich. Wir haben verschiedene Angebote hier in der Beratungsstelle. Das ist einmal die individuelle Beratung. Das heißt, die Menschen melden sich, machen einen Termin aus, kommen mit einem Beratungsanliegen zu uns. Die können ganz, ganz vielfältig sein und wir beraten eben dann zu diesem Thema mit unterschiedlichsten Hilfsmitteln auch zum Beispiel. Das können Bildkarten sein, das können Modelle sein, Aufklärungsmodelle, Bücher, Broschüren et cetera. Und ein weiteres Angebot sind tatsächlich Bildungsangebote in Form von Gruppenangeboten, Kursen rund um das Thema Liebe, Partnerschaft und Sexualität, wo es eben ganz viel die Themen Körperaufklärung, Gefühle, Grenzen, Partnersuche et cetera gehen kann und die Menschen eben gemeinsam in der Gruppe lernen können, neue Informationen bekommen, aber auch gegenseitig von ihren Erfahrungen profitieren können, die die verschiedenen Menschen dann eben mitbringen.
[00:04:28.580] - Nadia Kailouli
Nun definiert man ja eigentlich Liebe, Intimität, Partnerschaft, alles, was dazugehört, als ja ein sehr privates Feld: „Eigentlich geht mich das ja gar nicht so an, was die anderen um mich herum so mögen oder in welchen Beziehungen sie leben." Warum braucht es also dahingehend trotzdem eine Beratungsstelle für Menschen mit Lernschwierigkeit?
[00:04:49.120] - Lotta Brodt
Ja, für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten stellt das Thema doch eine gewisse Herausforderung dar, dadurch, dass sie – und dann das zeigen auch Studien und Befragungen – tatsächlich in ihrer Kindheit und Jugend wenig Aufklärung, Sexualaufklärung rund um das Thema erfahren haben und entsprechend auch wenig Erfahrungen sammeln konnten, zum Beispiel mit Gleichaltrigen et cetera. Und das zeigt sich dann immer wieder auch in Konflikten, in einem Wohneinrichtungen, in der Werkstatt am Arbeitsplatz zum Beispiel. Und eigentlich haben fast alle Menschen auch ein Beratungsanliegen zu dem Thema. Die meisten Menschen können sich aber auch privat selber informieren. Die gehen ins Internet oder recherchieren für sich in Literatur, in Büchern et cetera. Und oft diese Wege stehen Menschen mit Lernschwierigkeiten weniger zur Verfügung. Sie haben wenig Möglichkeiten, verlässliche Informationen zum Beispiel im Internet auch zu erkennen oder überhaupt lesen zu können. Das ist ja unter anderem auch eine Barriere, die Medien auch entsprechend nutzen zu können, wenn man nicht lesen kann. Und dieses private Thema Sexualität wird allerdings auch in Betreuungskontexten eher sichtbar. Also Fachkräfte sind näher dran am Leben der Menschen. Sie können oder haben nicht die Möglichkeit, unbedingt alles zu verbergen, was eigentlich privat sein sollte. Und entsprechend fällt dann auch ein Unterstützungsbedarf eher auf. Und dann kommt gegebenenfalls auch die Anregung von Unterstützungspersonen, vielleicht eine Beratungsstelle aufzusuchen beziehungsweise dann in die Liebelle zu kommen und sich beraten zu lassen.
[00:06:24.180] - Nadia Kailouli
Nun ist es ja grundsätzlich so, dass Menschen, die sich eine Partnerschaft wünschen, nicht unbedingt direkt eine bekommen. Dann leben wir jetzt in einem Zeitalter, wo man sagt: Okay, du musst jetzt nicht nur rausgehen, an die Bar gehen oder irgendwie unterwegs sein, ins Kino gehen oder so und gucken, dass du da Leute kennenlernst, sondern man lädt sich eine Dating-App runter und guckt, dass man dann vielleicht darüber den Partner oder die Partnerin findet, die man sich wünscht. Ist das auch etwas, was man in eurer Beratungsstelle empfiehlt, zu sagen: „Da gibt es so Apps, da kann man sich einen Partner oder eine Partnerin suchen, wenn man möchte."?
[00:06:56.340] - Lotta Brodt
Die Apps sind durchaus Thema in der Beratung. Sie sind allerdings für den Personenkreis relativ hochschwellig. Man muss schon sehr viele Kompetenzen mitbringen, Erfahrungen mitbringen, um die gut nutzen zu können. Man braucht zum Beispiel eine E-Mail-Adresse, um sich überhaupt anmelden zu können. Das haben schon viele gar nicht. Wir haben oft aber auch die Schwierigkeit, dass es dann ein Raum ist, wo sich viele Menschen ohne Behinderungserfahrungen bewegen, Menschen, die vielleicht auch nicht unbedingt immer Nettes im Sinn haben. Also es ist sehr ungeschützt, dieser Raum, dieser Dating-Apps. Deswegen gibt es zum Beispiel auch geschützte Partnervermittlungen extra für Menschen mit Lernschwierigkeiten, wo sichergestellt wird, alle Personen, die auf dieser Vermittlungsplattform unterwegs sind, die haben auch wirklich eine Beeinträchtigung und sind jetzt nicht zum Beispiel darauf aus, Menschen auszubeuten, auszunutzen et cetera.
[00:07:49.500] - Nadia Kailouli
Was sind denn die hauptsächlichen Anliegen, womit Leute zu euch kommen? Kann man das pauschal sagen, was da am meisten eigentlich gefragt wird oder erhofft wird, wenn man sich die Beratung bei euch holt?
[00:08:03.620] - Lotta Brodt
Also die Anliegen sind so vielfältig wie die Menschen selber. Ich würde aber schon sagen, es sind so Trends erkennbar, auch unter den Geschlechtern, unterschiedlichen Geschlechtern. Zum Beispiel sind oft Themen der männlichen Ratsuchenden doch das Thema Partnersuche, Partnerinnensuche, die Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden, jemanden anzusprechen. Das kann ein Thema in der Beratung sein. Und bei den Frauen, da geht es eher oft um Beziehungsthemen. Die sind vielleicht schon in einer Partnerschaft, da geht es um Konflikte, um Abgrenzung etc. Also da merken wir schon einen Unterschied bei den Ratsuchenden.
[00:08:39.980] - Nadia Kailouli
Wenn wir jetzt dahingehen, dass man eben sagt, okay, oder überhaupt über die Beziehung spricht und vielleicht noch gar nicht so das Problem daran erkennt, was vielleicht in dieser Partnerschaft nicht so gut läuft, wie bringt ihr denn bei, dass es Grenzen gibt, dass es Selbstbestimmungen gibt, dass es Sachen gibt, die man nicht machen muss und sagen kann: „Nein, das will ich nicht"? Wie ist da die Handhabe? Wie geht ihr da vor?
[00:09:03.240] - Lotta Brodt
Es ist tatsächlich immer wieder Thema, zum Beispiel auch in unseren Bildungsangeboten in Gruppen, wo wir lange von uns aus über das Thema Grenzen eben sprechen, Übungen dazu machen und so weiter. Und da habe ich auch schon erlebt, dass am Ende dieser Übungen dann Personen gesagt haben: „Ja, aber wenn mein Freund das macht, dann muss ich das erlauben." Also diese Annahme: „Okay, in der Partnerschaft muss man alles mitmachen, egal ob es einem gefällt oder nicht." Das ist natürlich eine schwierige Annahme und wir versuchen das auch aufzuklären. Und in der Beratung nutzen wir eben auch unterschiedliche Methoden, überlegen zum Beispiel mit so einem Ampelsystem: Was sind denn Situationen, die absolut in Ordnung sind in einer Partnerschaft? Die Person kann die benennen. Was sind Situationen, die zu Streit führen, wo es dann schon orange-gelb ist, quasi. Und was sind vielleicht auch Situationen, die sind absolut rote Ampeln? Das wäre ein Grund, zum Beispiel, sich zu trennen, Schluss zu machen und dann eben diese verschiedenen Situationen mit den Personen zu erarbeiten. Wir haben aber auch Möglichkeiten, zum Beispiel Körperschablonen anzulegen, also lebensgroß, die Menschen einmal auf einem großen Papier abzuzeichnen, mit grünen und roten Karten dann zu schauen: Wo sind denn okaye Zonen? Wo darf ich? Wo werde ich gerne berührt? Wo darf man mich berühren? Was sind aber vielleicht auch Tabuzonen? Wie unterscheidet das vielleicht auch sich bei verschiedenen Personen? Was ist mit Fachkräften? Was ist mit dem eigenen Partner? Da eben auch die Differenzierung ein bisschen rauszuarbeiten.
[00:10:30.680] - Nadia Kailouli
Jetzt ist es ja gerade sowieso sehr schwer für viele Menschen überhaupt, über das Thema zu sprechen, ob jetzt mit Lernschwierigkeit oder ohne. Aber es ist natürlich etwas, was sehr intim ist und viele trauen sich ja auch gar nicht, etwas zu fragen oder etwas zu äußern, was ihnen passiert ist. Wie erlebt ihr das in der Beratungsstelle?
[00:10:50.040] - Lotta Brodt
Ja, das ist ganz unterschiedlich. Bevor wir in die Beratung starten, legen wir noch mal die Rahmenbedingungen der Beratung dar. Und das heißt auch, dass wir den Leuten deutlich machen, die Beratung ist absolut vertraulich. Wir sagen nichts weiter, nichts an Unterstützungspersonen, Begleitpersonen, Eltern, Angehörige. Wir legen da, dass man nichts erzählen muss, was man nicht möchte, dass aber alle Themen erlaubt sind. Und meistens ist es wirklich ein guter Türöffner. Also auch das Thema Vertraulichkeit wird bei den Menschen sehr hoch aufgehängt, weil sie tatsächlich in einem großen Unterstützungsumfeld unterwegs sind, wo sehr, sehr viel über sie gesprochen wird, während sie nicht dabei sind in Teamsitzungen und so weiter. Und dass das bei uns nicht der Fall ist, das rechnen sie uns hoch an und das schätzen sie sehr. Und entsprechend legen wir da, glaube ich, schon den Grundstein für eine vertrauliche Zusammenarbeit.
[00:11:43.440] - Nadia Kailouli
Nun gibt es ja durchaus auch Studien schon dazu, dass gerade Frauen mit Lernschwierigkeiten oder auch mit Behinderungen häufiger betroffen sind von sexualisierter Gewalt. Inwieweit spielt das bei euch eine Rolle?
[00:11:57.580] - Lotta Brodt
Tatsächlich ist das auch eine Erfahrung, die ich mache in der Beratung. Ich arbeite jetzt seit zehn Jahren in der Liebelle und ich habe hauptsächlich Frauen beraten. Wir waren geschlechtsparitätisch besetzt im Team. Bis Ende des Jahres habe ich hier mit einem männlichen Kollegen zusammengearbeitet. Der hat dann eben die männlichen Ratsuchenden auch beraten und ich habe schon festgestellt in der Beratung mit den weiblichen Ratsuchenden: Ja, das ist absolut ein Thema. Ich kenne fast keine Frau, die bei mir in der Beratung war, die nicht in irgendeiner Form sexualisierte Gewalt erlebt hat, von vielleicht in Anführungszeichen "milden Formen" wie Cat-Calling oder Ähnliches, bis aber auch zur Vergewaltigung, zum Missbrauch durch einen Partner. Das ist alles schon vorgekommen.
[00:12:41.900] - Nadia Kailouli
Wie geht man dann damit um? Also was berät man denn dann da? Man kann ja jetzt nicht die super Beratung abgeben, was den Schutz betrifft wahrscheinlich. Und gleichzeitig möchte man irgendwie, ich will nicht sagen, öffnen, aber aufklären: Wo sind die Grenzen? Wie kommuniziere ich das? Und Also wie schwierig ist da so diese Zweiseitigkeit, die man so hat, auf der einen Seite mit dem Wunsch: „Eigentlich wünsche ich mir eine Beziehung" und in dem Gespräch kommt dann aber heraus, „und eigentlich habe ich auch sehr schlechte Erfahrungen gemacht mit Sexualität."
[00:13:12.960] - Lotta Brodt
Genau, wir sind eine pädagogische Beratung. Das heißt, wir sind kein therapeutisches Angebot. Wir versuchen aber natürlich in der Beratung, den Selbstwert zu stärken, Selbstbehauptung zu stärken, den Personen entsprechend Selbstbewusstsein wiederzugeben. Und natürlich auch das Nein-sagen, zu stärken, sage ich mal. Aber wir sprechen auch ganz viel über das Ja-sagen. Also: Was gefällt mir denn eigentlich? Was mag ich? Das ist sehr, sehr essentiell, weil ganz oft immer, also gerade bei Frauen, sehr viel signalisiert wird: „Pass auf, pass auf, dass dir nichts passiert. Die Männer, die sind immer übergriffig", oder Ähnliches und oft ist da dann auch schon eine gewisse Angst grundsätzlich da, irgendwas falsch zu machen und auch daran zu arbeiten, auch sexpositiv zu sein, in Anführungszeichen. Das ist eine große Aufgabe, letztendlich. Also eine Erlaubnis auch zu geben, Sexualität leben zu dürfen. Und wenn wir feststellen, eine Erfahrung ist wirklich so prägnant, gerade in der Beratung und auch noch so vordergründig, wo wir sagen, das ist dann vielleicht auch nicht mehr unsere Expertise, dann vermitteln wir auch gerne weiter. Wir haben hier eine gute Kooperation zum Frauennotruf in Mainz, die dann wirklich die Frauen auch noch mal anders auffangen können, als wir das können.
[00:14:30.540] - Nadia Kailouli
Nun ist dieses Nein-sagen ja auch irgendwie so mit in die Wiege gelegt, wahrscheinlich durch die Erziehung: „Pass auf" und so. Das klingt alles so der sehr danach: „Was haben mir Mama und Papa früher immer gesagt?" Und Menschen mit Lernschwierigkeiten leben wahrscheinlich auch tendenziell vielleicht auch länger zu Hause und kriegen das sozusagen erzogen. Und da wird wahrscheinlich weniger darüber gesprochen: „Wünschst du dir einen Freund oder möchtest du vielleicht Erfahrungen sammeln?" Was würdest du dir also wünschen nach diesen zehn Jahren jetzt schon Erfahrung, wie man zu Hause mit diesem Thema umgeht?
[00:15:03.500] - Lotta Brodt
Ja, grundsätzlich würde ich mir mehr Offenheit wünschen bei den Eltern und Angehörigen, wirklich den Blick auch auf die positiven Seiten von Sexualität zu richten, nicht nur auf die Schattenseiten, die Gefahren, weil für alle Menschen eigentlich eine positiv gelebte Sexualität natürlich unheimlich selbstbewusstseinssteigernd ist. Es motiviert einen vielleicht zu neuen Kompetenzen, die Menschen haben vielleicht dann wirklich Lust, mehr zu lernen, was Neues zu lernen und so weiter. Also wirklich dahin zu schauen: Was ist das Positive an Sexualität und wie können wir das unseren Kindern ermöglichen? Ich stelle aber auch fest, das ist tatsächlich jetzt in der neuen Elterngeneration mehr. Also immer wieder bekommen wir Anfragen von Eltern, von Kindern, Jugendlichen, die so auf dem Weg in die Pubertät sind, die wirklich proaktiv sich an uns, an die Beratungsstelle wenden und sagen: „Wir möchten unser Kind gut begleiten. Wie können wir das machen? Wir fühlen uns unsicher. Wir brauchen ein bisschen Unterstützung. Was können wir denn sagen? Was können wir nicht sagen? Was können wir für Material benutzen?" Und so weiter. Also da merke ich schon auch eine Veränderung. Das ist wirklich positiv anzumerken. Und auch an den Schulen tut sich einiges. Auch die Lehrkräfte wenden sich an und sagen: "Wir möchten einen guten Unterricht machen. Wir finden es ein wichtiges Thema und wir hätten gerne professionell einfach noch mal einen Rat, eine Unterstützung, eine Fortbildung."
[00:16:27.020] - Nadia Kailouli
Da sieht man ganz klar eigentlich, wie wichtig ihr seid, weil die Leute ja so proaktiv auch auf euch zukommen. Da muss man dann aber auch vielleicht mal sagen, ihr seid gar nicht so ein sicheres Konzept, denn ihr seid von der Förderung jetzt nicht unbedingt auf der Glanzseite, oder?
[00:16:41.440] - Lotta Brodt
Das stimmt, genau. Uns ist es leider in den zehn Jahren noch nicht gelungen, eine öffentliche Förderung oder eine dauerhafte Finanzierung für die Beratungsstelle zu erreichen. Wir hangeln uns so von Projekt- zu Projektfinanzierung. Da ist ungefähr die Hälfte unserer Stellen drüber gesichert und die andere Hälfte, das sind unsere Eigeneinnahmen, die wir tatsächlich auch generieren, indem wir zum Beispiel Fachkräftefortbildungen kostenpflichtig machen.
[00:17:06.460] - Nadia Kailouli
Also guckt ihr nach Möglichkeiten, wie ihr euch finanziell sozusagen stabil haltet für dieses Projekt?
[00:17:12.400] - Lotta Brodt
Genau, wir sind immer auf der Suche. Also wer eine Idee hat, 2027, brauchen wir wieder neues Geld.
[00:17:21.440] - Nadia Kailouli
Okay, die Botschaft ist auf jeden Fall angekommen. Jetzt seid ihr ja angebunden auch an eine Werkstatt für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Jetzt ist die Frage: Wenn ich in mein Arbeitsumfeld schaue, da kenne ich natürlich auch Kolleginnen und Kollegen, die sich im Job sozusagen kennengelernt haben. Das ist aber eigentlich nicht so sichtbar unter Kolleginnen und Kollegen. Das wird dann im Privaten geteilt. Jetzt kann ich mir vorstellen, dass wenn man eben, ich sage jetzt mal, nicht so die Sensibilität, das Wissen, das Know-how et cetera, was auch alles, so hat, dass man da durchaus vielleicht in Situationen kommt, wo in der Werkstatt Menschen, die sich ineinander verliebt haben, vielleicht in eine Form der Nähe kommen. Ist das sozusagen okay oder sagt ihr, nein, da geht ihr ran, da beratet ihr, dass ihr sagt: „Hey, ihr seid da jetzt sozusagen auf der Arbeit und nicht jeder will sehen, dass ihr euch mögt." Oder so? Oder wie kann man sich das vorstellen?
[00:18:15.160] - Lotta Brodt
Genau. Die Werkstatt ist auch Partnerbörse Nummer eins bei dem Personenkreis Menschen mit Lernschwierigkeiten, das muss man ganz klar so sagen. Viele, viele lernen sich dort kennen und lieben und wechselnde Partnerschaften, sage ich mal, sind da so an der Tagesordnung. Was wir wirklich nicht außer Acht lassen dürfen, für viele Paare ist auch die Werkstatt der einzige Ort, an dem sie sich treffen können. Also wenn sie nach der Werkstatt nach Hause fahren, gegebenenfalls mit einem Fahrdienst wieder in eine Einrichtung oder zu den Eltern nach Hause, dann sind sie nach der Arbeit zu Hause und haben nicht unbedingt die Möglichkeit, sich in der Freizeit am Wochenende noch mal zu treffen, weil in den Einrichtungen vielleicht auch die Personalressourcen fehlen, um eine Person zu begleiten, die vielleicht nicht selbstständig zum Beispiel die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen kann und so weiter. Genau, das heißt, die Partnerschaft wird auch nur in der Werkstatt gelebt. Das bringt Konflikte, das hast du richtig erkannt. Also es gibt Formen von Nähe, die sind natürlich auch in der Werkstatt nicht gerne gesehen. Da reden wir jetzt nicht von einem Küsschen oder von einem Hand in Hand laufen und ein bisschen Kuscheln in der Pause zum Beispiel, sondern da gibt es durchaus Situationen, wo Paare vielleicht beim Sex erwischt werden oder wo dann vielleicht auch schon unterm Pulli gegriffen wird, während alle zusehen. Und das sind natürlich dann die Arten von Nähe, die dann auch dort nicht okay sind. Wir möchten ja gerne auch ein Normalisierungsprinzip. Das heißt, der Arbeitsplatz ist eben der Arbeitsplatz und nicht die Privatsphäre. Und das ist aber tatsächlich eine ganz, ganz schwierige Situation, weil wie erreichen wir denn das? Also wir wissen, es ist der einzige Ort, wo die sich sehen können, wo sie sich lieben können. Und da wäre dann tatsächlich noch mal zu schauen: Gibt es Möglichkeiten, vielleicht die beiden doch auch im Privatleben zusammenzubringen? Muss es da Gespräche vielleicht geben mit der Einrichtung, mit Eltern und Angehörigen? Aber natürlich auch mit dem Einverständnis der beiden, die da vielleicht gerade zusammen sind, nicht über die Köpfe hinweg. Und ja, das kann positiv ausgehen. Für manche ist es aber tatsächlich einfach ein Dauerthema, weil sie vielleicht auch nicht möchten, dass zum Beispiel Angehörige wissen, dass da eine Partnerschaft gelebt wird oder Ähnliches.
[00:20:30.820] - Nadia Kailouli
Ich fand, das klang jetzt irgendwie so traurig. Da lernt man sich auf der Arbeit kennen und man verliebt sich ineinander und dann steigt jeder in seinen Bus, wird nach Hause gebracht und man darf sich dann erst mal nicht sehen. Das klingt so wahnsinnig traurig. Aber da frage ich mich natürlich klar, ich verstehe den Punkt komplett, dass man auch Grenzen setzen muss, wie viel Intimität vor anderen ist okay und wo sind Grenzen, die man auch irgendwie erklären muss. Aber wie kann man denn Räume schaffen für die Menschen, damit sie die sich irgendwie nahe sein können, wenn beide das auch wollen?
[00:21:05.180] - Lotta Brodt
Ja, das ist tatsächlich ein Thema, was wir gerne heiß diskutieren lassen, wenn wir Fachkräftefortbildungen machen. Also gibt es die Möglichkeit, in der Werkstatt am Arbeitsplatz einen Raum der Begegnung zu schaffen, kurz gesagt, Sexraum. Und das ist so ein diffiziles Thema, weil da unheimlich viel mitgedacht werden muss: Also wie kann denn das Paar diesen Raum zugänglich gemacht bekommen? Muss man sich da irgendwo anmelden? Muss man sich in eine Liste eintragen? Wie können wir für Privatsphäre sorgen, dass nicht irgendwie die halbe Werkstatt dann vor dem Raum steht und klatscht, wenn man wieder aus dem Zimmer rauskommt? Wer ist für Hygiene verantwortlich? All diese Dinge, die sich eigentlich sehr, sehr schwer lösen lassen und deswegen gibt es diese Räume in den Werkstätten auch nicht. Und wie gesagt, es ist das Normalisierungsprinzip. Man sagt halt, das ist der Arbeitsplatz, da ist natürlich ein bisschen Raum für Privates, aber nicht in dem Ausmaß, wie sich das einige wünschen würden. Leider treibt das dann eben auch solche Blüten. Es gibt eigentlich fast in jeder Werkstatt, würde ich sagen, irgendeinen Ort, ein offenes Geheimnis, wo sich Paare treffen.
[00:22:16.450] - Nadia Kailouli
Und gleichzeitig dann auch eben der Schutz gewährleistet ist, dass man diese Räumlichkeiten dann natürlich auch nicht ausnutzt, missbraucht und dort Sachen stattfinden, die eigentlich nicht von beiden Seiten dann eben gewollt.
[00:22:28.760] - Lotta Brodt
Genau, also auch die Frage: Ab wann darf ein Paar das Raum nutzen? Müssen die ein Monat, sechs Monate zusammen sein? Darf man da sich auch für einen One-Night-Stand treffen? Das sind einfach Fragen, die können wir eigentlich gar nicht auflösen, um zu sagen, wir haben da einen Schutzraum, letztendlich.
[00:22:45.780] - Nadia Kailouli
Aber ich bin ganz froh, dass wir dennoch darüber reden, weil das ist in unser alltäglichem Leben wahrscheinlich vielen Menschen gar nicht so bewusst, dass es eben Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt, die genau vor dieser Herausforderung stehen, nicht zu wissen, wie und wo sie Partnerschaft leben sollen und auch dürfen. Und deswegen, auch wenn wir jetzt die Antwort darauf nicht haben, finde ich es ganz gut, dass wir das überhaupt mal angesprochen haben, damit wir ein Bewusstsein dafür bekommen, dass das eben nicht jedem Menschen im in gleichem Maße zusteht, seine Liebe und Bedürfnisse so zu teilen, wie man persönlich möchte.
[00:23:20.620] - Lotta Brodt
Ja, also da haben wir auf jeden Fall ein ganz großes strukturelles Problem, würde ich sagen. Also Fachkräftemangel in der Eingliederungshilfe. Die Ressourcen sind auch einfach nicht da um die Menschen adäquat zu begleiten, auch mal eine Einzelbegleitung zu ermöglichen. Also das ist was, wo man wirklich dran arbeiten muss, wo wir eigentlich Lobbyarbeit für leisten müssen. Aber wie das so ist in der Eingliederungshilfe, ist man auch mit Arbeit eben gut ausgelastet, dass das eigentlich fast schwierig ist, da noch nebenbei Aktivismus walten zu lassen.
[00:23:52.820] - Nadia Kailouli
Ja, und jetzt hast du ja eben auch noch gesagt, dass ihr bis 2027 finanziell abgesichert seid, aber ab dann es eigentlich wieder neue Unterstützung braucht und es wäre wahrscheinlich für alle Frieden im Kopf gut, wenn man wüsste, die ist auf jeden Fall jetzt schon gesichert. Macht dir das also sozusagen Angst, zu wissen, dass ihr als Beratungsstelle nicht existenziell gesichert seid, obwohl ihr so wichtig seid?
[00:24:18.240] - Lotta Brodt
Ja, immer mal wieder. Ich muss sagen, ich mache das jetzt zehn Jahre und ich habe mich daran gewöhnt und bisher hat es ja auch immer geklappt. Aber ja, es ärgert mich eigentlich jedes Mal, dass wir wieder irgendwo hin müssen, die Hand aufhalten müssen, unsere Arbeit rechtfertigen müssen, uns eigentlich immer wieder, also wenn wir jetzt in eine Projektarbeit denken, immer wieder ein neues Projekt überlegen müssen, um quasi unsere Arbeit zu sichern, obwohl wir unsere Arbeit, die eigentlich gut läuft, einfach gerne so weitermachen würden. Und das schluckt auch viele Ressourcen, wieder einen neuen Projektantrag zu schreiben, Zwischenberichte zu schreiben, einen Endbericht zu schreiben und so weiter.
[00:25:00.000] - Nadia Kailouli
Die ganze Bürokratie dahinter. Lotta, vielleicht können wir noch mal über das Thema reden. Ihr arbeitet ja so eben sehr, sehr intensiv mit den Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber wie steht es deren Umfeld, die die Menschen die ganze Zeit irgendwie bevormundet haben, immer gesagt haben: "Was darfst du? Was darfst du nicht? Das machst du, das machst du nicht. Bis hierhin und nicht weiter." Also man wurde ja die ganze Zeit wahrscheinlich von vielen in der Erziehung oder auch im Leben, auch in den Werkstätten, ist es ja auch so, da gibt es jemand oder in den Einrichtungen, da geht es ja auch weiter. Es gibt die, die eben eigentlich über mich sozusagen bestimmen. Wären die auch ein Empfänger eurer Maßnahmen, sozusagen zu sagen: Selbstbestimmtheit, Freiheit und so? Oder lässt man die damit in Ruhe?
[00:25:45.660] - Lotta Brodt
Nein, absolut. Also das ist auf jeden Fall auch unsere Zielgruppe. Das sind die Fachkräfte, die mit dem Personenkreis arbeiten. Das sind auch die Eltern und Angehörigen, die ja immer oder bei vielen Menschen noch sehr, sehr nahe dran sind, auch im hohen Erwachsenenalter weiterhin. Die haben wir absolut mit in unserer Zielgruppe drin, weil wir eben genau das sagen: Es ist nicht nachhaltig, die Menschen mit Lernschwierigkeiten über ihre Rechte aufzuklären, ihnen Werkzeuge die Hand zu geben, irgendwie Sexualität positiv zu leben, wenn nicht auch ein unterstützendes Umfeld da ist. Und entsprechend ist ein sehr, sehr großer Anteil unserer Arbeit mittlerweile die Fortbildung von Fachkräften. Also wir sind sehr, sehr viel unterwegs, im Grunde auch deutschlandweit und sind in den Einrichtungen und geben dort eben die Fortbildung auch zu den Rechten der Menschen, die nicht immer allen klar sind. Oder auch in den Einrichtungen ist immer die Frage: Was darf eigentlich eine rechtliche Betreuung bestimmen oder nicht bestimmen? Rechtliche Betreuung liegt sehr oft bei Eltern oder Angehörigen, die ein bisschen manchmal übers Ziel hinaus schießen mit dieser Verantwortung, sage ich mal, und schränken eigentlich mehr ein, als sie dürften.
[00:26:54.360] - Nadia Kailouli
Jetzt habe ich gerade auch noch daran gedacht, es ist natürlich total wichtig, aufzuklären, Grenzen zu setzen, Selbstbestimmtheit zu erlernen und so weiter. Aber inwieweit spielt auch das Thema eine Rolle, dass man selbst nicht zu der oder denjenigen wird, der Grenzen überschreitet?
[00:27:13.740] - Lotta Brodt
Ja, das ist auch tatsächlich häufig ein Thema. Zeigt sich auch bei den männlichen Ratsuchenden ganz oft. Also Anfragen, die wir bekommen, das sind dann in der Regel eher Fallberatungen, also Beratungen für Teams in Einrichtungen zum Beispiel. Da geht es sehr oft um grenzverletzendes Verhalten, zum Großteil von eben männlichen Bewohnern, Werkstattbeschäftigten aus, wo wir versuchen zu unterstützen und eben auch, diese Dinge noch mal zu beleuchten: Wie wird denn auch mit dem Thema Grenzen allgemein umgegangen in der Einrichtung? Haben die Personen denn die Möglichkeit, Grenzen auch selber wahrzunehmen, Grenzen bei den Unterstützungspersonen wahrzunehmen, die ja einen Vorbildcharakter zum Beispiel haben? Wie wird mit einem Nein umgegangen? Wenn zum Beispiel eine Person nicht duschen möchte, wird die Person so lange überredet oder vielleicht sogar am Ende gezwungen oder mit irgendwelchen Maßnahmen dahin gebracht, dann doch zu duschen? Das kann ja schon eine Drohung sein von: Dann gibt es morgen kein Taschengeld oder so was. Also da gucken wir immer sehr genau hin: Wie wird denn mit der Selbstbestimmung auch umgegangen? Weil wenn man das selber nicht erfährt – du hast gerade selber gesagt –, die Menschen werden sehr, sehr viel fremdbestimmt, auch immer noch. Auch wenn man das ungern hören möchte, ist Fremdbestimmung immer noch in einem sehr hohen Maß da, oft unter so einem Deckmantel von Schutz und natürlich auch von reibungslosen Abläufen, sage ich mal, in Einrichtungen. Aber wenn ich die Erfahrung mache, dass andere Leute über mich bestimmen, wie soll ich dann lernen, dass ich nicht über andere Leute bestimmen darf?
[00:28:46.960] - Nadia Kailouli
Verstehe, ja.
[00:28:48.100] - Lotta Brodt
Das ist ein ganz großes Thema tatsächlich. Und natürlich arbeiten wir auch mit den Personen gegebenenfalls in der Einzelberatung dann genau an diesen Themen. Und wie kann man denn Kontakt aufnehmen, zum Beispiel mit Personen, ohne direkt grenzüberschreitend zu sein. Was sind denn eigentlich die Schritte, bevor man anfasst?
[00:29:06.600] - Nadia Kailouli
Ja, absolut. Lotta, ich finde, du hast uns heute einen sehr, sehr tollen Einblick in eure Arbeit gegeben, der Liebelle, und uns sehr, sehr deutlich gemacht, wie wichtig das ist, bei Menschen mit Lernschwierigkeiten darauf zu achten, zu sagen: „Okay, wir stellen hier ein Beratungsangebot, wir unterstützen in Fragen von Liebe, Sexualität und Partnerschaft." In diesem Sinne, vielen, vielen Dank, dass du heute unser Gast warst.
[00:29:28.940] - Lotta Brodt
Vielen Dank für die Einladung. Es hat mich sehr gefreut.
[00:29:34.900] - Nadia Kailouli
Ja Leute, Mensch, wie gut, dass wir darüber auch mal gesprochen haben. Ich muss es ganz ehrlich sagen: Ich hatte eben überhaupt gar kein Gefühl oder Wissen über die Sache, dass natürlich Menschen mit Lernschwierigkeiten auch Bedürfnisse haben und dass das natürlich total wichtig ist, dass man da eben aufklärt, an deren Seite steht. Und wie Lotta schon gesagt hat, ist doch total klar: Wenn die ganze Zeit Leute über dich entscheiden und du sozusagen beigebracht bekommst, andere entscheiden für mich, was ich jetzt darf und was ich nicht darf, wie soll man es dann schaffen, dass man nicht selbst auch zu dem Menschen wird und über andere entscheidet? Und das ist natürlich total gefährlich und deswegen finde ich die Arbeit von Liebelle dahingehend echt super.
[00:30:20.320] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Wenn wir über sexuelle Aufklärung sprechen, denken viele an den Unterricht in der Schule, an das unangenehme Gespräch mit den Eltern und an Bravo-Artikel. Aber was ist, wenn man gar nicht so einfach an diese Informationen rankommt?
Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt klar: auch Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Und dazu gehört nicht nur „dürfen“, sondern auch „können”: Zugang zu Aufklärung, zu Gesundheitsversorgung, zu Informationen, das Recht, Kinder zu bekommen, eine Familie zu gründen und sich zu verlieben.
In der Realität sieht das aber oft anders aus, es scheitert häufig schon an der Aufklärung: Informationen über Sexualität sind nicht in einfacher Sprache verfügbar, Beratungsangebote nicht barrierefrei. Viele Menschen mit Behinderungen bleiben so von Wissen ausgeschlossen, das für andere selbstverständlich zugänglich ist.
Seit zehn Jahren beschäftigt sich die Beratungsstelle „Liebelle” in Mainz mit genau diesen Themen. Sie richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten, Eltern, Angehörige, Betreuer*innen und Lehrer*innen. Es geht um Liebe, Sexualität und Partnerschaft. In den Beratungsgesprächen geht es um ganz unterschiedliche Fragen: Woher weiß ich eigentlich, ob das, was ich empfinde, Freundschaft oder Liebe ist? Wie flirte ich? Wie kann ich mich in einer Beziehung sicher und wohl fühlen? Und es geht auch immer wieder um sexualisierte Gewalt, denn Menschen mit Behinderungen sind – unabhängig vom Geschlecht – deutlich häufiger betroffen. Vor allem Frauen mit Behinderung erleben sexuelle Gewalt zwei- bis dreimal so häufig wie Frauen ohne Behinderung.
Seit der Gründung arbeitet Lotta Brodt bei der „Liebelle”. Sie ist Sexual- und Sozialpädagogin und berät nicht nur Betroffene selbst, sondern auch deren Umfeld. Und das Umfeld spielt oft eine große Rolle: Viele Menschen mit Behinderung sind auf Unterstützung angewiesen – emotional, finanziell, organisatorisch. Oft entscheidet dieses Umfeld mit, was erlaubt ist und was nicht. Ob jemand sich verlieben darf. Ob jemand über Sexualität sprechen oder einen Porno schauen darf.

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Interview mit Lotta bei Chrismon (04/2025)
Sexualität und Behinderung? Ganz normal!
Beitrag zum Thema beim Deutschen Institut für Menschenrechte
Selbstbestimmte Sexualität von Frauen mit Behinderungen
Studie des BMBFSFJ
Studie zu Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen
