Podcast | Folge: 123 | Dauer: 38:49

Wieso reden Männer nicht über Missbrauch, Annika Senne und Clemens Fobian?

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[00:00:01.540] - Clemens Fobian

Der älteste Mann, der bei mir in der Beratung war, der war 77 und der Missbrauch hat, ich weiß nicht mehr ganz, mit sechs oder sieben stattgefunden. Also knapp 70 Jahre hat er mit niemandem darüber gesprochen.

[00:00:12.220] - Annika Senne

Ich habe schon den Eindruck, dass eine explizite Beratungsstelle, die wirklich auch Jungen und Männer gezielt anspricht, wodurch auch das Gefühl entstehen kann von: „Vielleicht bin ich gar nicht alleine. Wenn es eine explizite Beratungsstelle dafür gibt, bin ich vielleicht doch nicht so allein mit dem Thema, wie ich vielleicht jahrelang dachte oder eine lange Zeit lang dachte."

[00:00:31.760] - Nadia Kailouli

Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.

[00:00:55.260] - Nadia Kailouli

Stark sein, sich wehren können, keine Schwäche zeigen. Solche Erfahrungen lasten besonders auf Jungen. Wenn sie sexualisierte Gewalt erleben, suchen viele deshalb keine Hilfe. Sie schweigen aus Scham und aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Täterinnen und Täter nutzen das aus, überschreiten Grenzen Schritt für Schritt. Für die Betroffenen ist oft schwer einzuordnen, was geschieht da eigentlich? Viele sind sprachlos, fühlen sich wie gelähmt. Damit Jungen und Männer mit solchen Erfahrungen nicht alleinbleiben, gibt es in Hamburg die Beratungsstelle basis-praevent. Annika Senne und Clemens Fobian unterstützen dort Betroffene, beziehen auch Angehörige ein und leisten Präventionsarbeit. Wie sie das tun, welche Rolle therapeutisches Boxen dabei spielt und welche Hürden sie in ihrer Arbeit sehen, darüber spreche ich jetzt mit denen.

[00:01:39.560] - Nadia Kailouli

Dann sage ich herzlich willkommen bei einbiszwei, Annika und Clemens. Schön, dass ihr da seid.

[00:01:43.650] - Clemens Fobian

Hallo.

[00:01:44.100] - Annika Senne

Hallo.

[00:01:44.270] - Nadia Kailouli

Hi. Wir haben hier bei einbiszwei schon sehr, sehr oft und sehr, sehr viel über Beratungsstellen gesprochen, die sich gezielt an Frauen richten, die sexualisierte Gewalt, Übergriffe et cetera erlebt haben. Heute sprechen wir mit euch und ihr habt auch eine Beratungsstelle, aber die richtet sich vor allem an Männer. Wie kommt's? Das hört man selten.

[00:02:07.420] - Clemens Fobian

Ja, stimmt. Und ich glaube, das ist wahrscheinlich auch so ungefähr die Begründung, warum wir damals gesagt haben, dass wir eine spezialisierte Beratungsstelle brauchen, weil wir festgestellt haben, dass das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder dann doch häufig noch mit Frauen und Mädchen in Verbindung gebracht wird. Und das ist statistisch gesehen ja auch so. Und gleichwohl gibt es doch gar nicht so wenig betroffene Jungen und für die wollten wir damals ein Angebot schaffen.

[00:02:31.140] - Nadia Kailouli

Jetzt macht das natürlich total Sinn, wenn man alleine nur daran denkt, wer vor allem Betroffene von sexualisierter Gewalt waren oder sind, wenn man an die katholische Kirche zum Beispiel denkt oder an kirchliche Einrichtungen. Da sind ja auch vor allem eben Jungs betroffen gewesen. Aber das war ja wahrscheinlich nicht der Grund, warum ihr gesagt habt, ihr gründet oder ihr macht da jetzt mit bei dieser Beratungsstelle, die da heißt basis-praevent. Was war so für euch wichtig, zu sagen: „Hey, wir müssen uns mal gezielt irgendwie auf Jungs, auf das männliche Geschlecht konzentrieren"?

[00:03:04.960] - Clemens Fobian

Ja, im Grunde, ich habe 2010 zusammen mit meinem damaligen Kollegen Rainer Ulfers basis-praevent gegründet und die Initiative und die Idee dazu, da müsste man jetzt mit meinem damaligen Kollegen drüber sprechen, der mittlerweile in Rente ist, der in Hamburg bei Basis & Woge, das ist ein Jugendhilfeträger, gearbeitet hat und immer wieder mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Jungen in Kontakt gekommen worden ist, kontaktiert worden ist, bei Klienten, da genau dieses Thema war. Und gleichzeitig gab es bundesweit, aber auch in Hamburg, keine Beratungs- oder Hilfsangebote. Und so war damals die Idee für diesen ersten Projektantrag, der dann erfolgreich gewesen ist und wo er mich dann damals eingestellt hat.

[00:03:48.800] - Nadia Kailouli

Okay, jetzt steht ja auf eurer Website die Botschaft: „Bei uns muss über nichts gesprochen werden." Was meint ihr genau damit?

[00:03:57.420] - Annika Senne

Na ja, dass wir erst mal, dass die Personen zu uns kommen können mit den Anliegen, die sie gerade haben. Sie müssen uns gar nicht genau erzählen, was passiert ist. Sie müssen keine Details erzählen. Erst mal ist ja klar, wenn sie als betroffene Person den Weg zu und suchen, mit welchem Thema sie kommen. Und es geht nicht darum, dass sie ins Detail gehen müssen, was ihnen passiert ist, sondern dass wir erst mal zusammen mit ihnen sortieren und schauen, welche Themen liegen gerade oben auf, überhaupt erst mal ein bisschen Sortierung reinzubekommen und einfach gemeinsam zu schauen, was brauchen die Personen gerade.

[00:04:27.210] - Nadia Kailouli

Kannst du uns einen Überblick geben, was so die Themen sind, womit man dann zu euch kommt?

[00:04:32.880] - Annika Senne

Also das ist total unterschiedlich. Bei Kindern zum Beispiel kommen, ja, die kommen natürlich oft in Begleitung, gerade wenn sie noch jünger sind, mit ihren Eltern. Wenn da bekannt ist, dass es Vorfälle von sexualisierter Gewalt gab, da sind die Themen oft erst mal einfach, mit den Kindern in Kontakt zu kommen, spielerisch eine Beziehung aufzubauen. Und dann sind es oft die Themen Gefühle, die Themen Geheimnisse zum Beispiel, weil gerade wenn man sich Täter:innenstrategien anguckt, häufig mit Geheimnissen gearbeitet wird, gemeinsam zu schauen, es gibt gute Geheimnisse, es gibt schlechte Geheimnisse. Und über Geheimnisse, die sich nicht gut anfühlen, dürfen Kinder sprechen. Wie können sie sich Hilfe suchen? Und so einfach erst mal über zum Beispiel auch Kinderbücher in den Kontakt mit den Kindern über diese Themen zu kommen und zu schauen. Und bei erwachsenen Betroffenen sind es ganz verschiedene Themen, von Unterstützungssuche, welche Angebote gibt es? Möchte ich eine Anzeige stellen, ja oder nein? Problem in der Beziehung, in der Partnerschaft, überhaupt das erste Mal zu berichten, was überhaupt passiert ist. Also viele kommen und haben nach Jahren, Jahrzehnten zum Teil noch nie einer Person davon berichtet, was ihnen passiert ist.

[00:05:44.010] - Nadia Kailouli

Warum, denkt ihr, ist es denn dann so wichtig zu sagen, diese Beratungsstelle richtet sich ganz gezielt eben an Jungs und Männer? Also macht das einen Unterschied, wenn ein Junge eben dahin kommt, wo er weiß, „Ey, hier sind auch andere Jungs." Also klar, Ich könnte die gleiche Frage auch einer Beratungsstelle für Frauen stellen, obwohl da die Antwort ganz einfach manchmal ist: Die Täter sind dann eben oft Männer und deswegen soll hier ein geschützter Raum sein, dass hier eben keine Männer sind, zum Beispiel. Ist das bei euch auch so oder was glaubt ihr, warum ist das so wichtig, dass es eine Beratungsstelle gibt oder Beratungsstellen gibt, die sich grundsätzlich wirklich an das männliche Geschlecht richten, die betroffen sind?

[00:06:26.480] - Clemens Fobian

Ich glaube, wenn die Betroffenen in der Beratungsstelle angekommen sind, dann wird es wahrscheinlich eventuell gar keinen ganz großen Unterschied mehr machen, wo sie sind. Ich glaube, den größten Unterschied sehe ich in dem Bereich der Hilfesuche. Also so wie wir ganz am Anfang gesagt haben, dass das Thema sexualisierte Gewalt doch eher mit Mädchen und Frauen in Verbindung gebracht wird. So sind ja auch die meisten Beratungsstellen für Mädchen und Frauen. Und viele Betroffene glauben auch, dass das Thema sexualisierte Gewalt nur etwas mit Mädchen und Frauen zu tun hat. Also einer meiner ersten Klienten, den ich mal gehabt habe, der kam an und hat gesagt: „Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich sagen, ich wäre vergewaltigt worden." Und ich glaube, da ist genauso dieses Thema, dass es nicht immer zusammen gedacht wird. Und das ist deswegen, glaube ich, oder das wäre Mit eine Begründung, weshalb ich sage, das es so ein spezialisiertes Angebot, wie unseres braucht, dass die betroffenen Jungen und Männer das Gefühl haben, sie sind an der richtigen Stelle und sind da, wo sie mit ihren Themen und mit ihren Fragen und Nöten ernstgenommen werden. Und auch allein dieses physische Dazusein. Also da ist eine Beratungsstelle und die hat Flyer und die hat eine Internetseite und die kann ich anrufen und da kann ich hingehen, zeigt auf so eine ganz andere Art und Weise noch mal, dass es eben auch ein Thema ist, mit dem sich junge Männer auseinandersetzen - nicht sollen, aber manchmal eben müssen. Und ich glaube, das macht für Betroffene schon häufig auch so einen ganz großen Unterschied. Und Hilfesysteme sind dann ja doch noch größten Teil sehr weiblich. Fast alle Psychotherapeut:innen sind Psychotherapeutinnen. Da gibt es ganz, ganz wenig Männer. Wir haben so Lehraufträge an den Hochschulen, wenn wir mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern da sitzen, dann sitzen da auch eigentlich nur Frauen. Also dann haben wir gelesen in einem Kurs von 35 Leuten, zwei, die ich als Männer verorten würde. Also das macht dann doch, wenn das ganze Hilfesystem auch noch sehr weiblich ist, das macht an so vielen Stellen Sinn, ein spezialisiertes das Angebot zu haben.

[00:08:31.420] - Nadia Kailouli

Jetzt sieht man aber ja an euch, dass es jetzt nicht so ist, „Männer helfen Männern", sondern du, Annika, bist ja auch dabei als Frau und berätst Männern oder auch Jungs. Ist das grundsätzlich immer noch so eine Problematik, Vielleicht auch, dass Männer und Jungs, also Jungs, die dann zu Männern werden, dahingehend erzogen werden: „Du bist stark, du kannst dich ja wehren, man zeigt keine Schwäche, das hält man schon aus." Oder ich weiß nicht, was es da alles für Erziehungstheorien und auch Methoden gibt. Das hat sich mit Sicherheit heute im Jahre 2025 etwas gebessert, aber nichtsdestotrotz hängen wir noch in diesen sehr, sehr klassischen Geschlechterstrukturen, wie hat ein Junge und dann später ein Mann zu sein und wie eine Frau. Glaubt ihr, das hängt auch damit zusammen, dass sich dann Jungs und Männer besser da aufgehoben fühlen, wo man sich gezielt mit diesem Geschlecht auch auseinandersetzt?

[00:09:22.900] - Annika Senne

Ich würde schon sagen, wo sie auch wirklich auch gezielt angesprochen werden und wissen, da bin ich willkommen. Das ist eine explizite Beratungsstelle. Da traue ich mich vielleicht auch nach Jahren des Schweigens hinzugehen und mal den Kontakt aufzubauen, vor allem weil der Kontakt zu uns ja auch sehr niedrigschwellig möglich ist und viele Betroffene eben doch häufig noch auch sozialisiert sind mit Männlichkeitsbildern von „Männern sind stark, Männer können sich zur Wehr setzen, Männer haben die Kontrolle". Und das Erleben von sexualisierter Gewalt bedeutet eben häufig genau das Gegenteil. Das ist ganz oft Ohnmacht, das ist Kontrollverlust, Hilflosigkeit, ein Gefühl von Erstarren, was viele Betroffene in den Situationen spüren, was nicht selten zu einer großen Scham bei den Betroffenen führt und eben auch dazu Scham führt, wiederum oft zu Schweigen, zum Rückzug, wodurch sich viele Betroffene erst sehr spät Hilfe holen auch. Und ich habe schon den Eindruck, dass eine explizite Beratungsstelle, die wirklich auch jungen Männer gezielt anspricht, wodurch auch das Gefühl entstehen kann von: „Ah, vielleicht bin ich gar nicht alleine. Wenn es eine explizite Beratungsstelle dafür gibt, bin ich vielleicht doch nicht so allein mit dem Thema, wie ich vielleicht jahrelang dachte oder eine lange Zeit lang dachte."

[00:10:36.920] - Nadia Kailouli

Jetzt habt ihr ja eben auch gesagt, dass ihr zum Beispiel auch die Angehörigen mit einbezieht. Also wenn Jungen kommen, dass die Eltern da auch dabei sind. Wie funktioniert da ein gutes Beratungskonzept? Wie geht man da vor?

[00:10:50.560] - Clemens Fobian

Ja. Also wenn der Wunsch schon da ist, dass Kinder zu uns in die Beratung kommen, dann gehen wir im Regel sehr standardisiert vor. Das klingt so blöd, weil ganz so standardisiert ist es nicht. Aber die Idee ist schon, dass wir ein Erstgespräch mit den Eltern führen. Also wir versuchen immer, vor allem wenn die Kinder noch kleiner sind, erst mal auf der Erwachsenebene miteinander da drüber zu sprechen, was aus der Sicht der Eltern die Themen sind, schon noch mal so ein bisschen Hintergründe abzufragen und auch rauszuhören, ob eine Beratung für das betroffene Kind auch überhaupt Sinn macht. Weil auch das erleben wir ganz oft, dass die Eltern und die Kinder manchmal nicht so synchron in der Aufarbeitung sind. Also teilweise kann es sein, dass Eltern ganz andere Themen haben, vielleicht auch an einem ganz anderen Stand sind, weil die Kinder sich vielleicht, vor allem wenn sie ein bisschen ganz bisschen älter sind, schon ein bisschen länger mit dem auseinandergesetzt haben, was passiert ist. Und für die Eltern fängt die sexualisierte Gewalt ja ab dem Moment an, wo das Kind in die Veröffentlichung geht und darüber etwas berichtet. Und dann kann sein, dass da schon ein halbes Jahr vor eine innere Auseinandersetzung bei dem Kind stattgefunden hat, sodass wir auch immer so ein bisschen gucken, wo stehen eigentlich alle? Und dann wenn alle Beteiligten der Meinung sind, das wäre eine gute Idee und auch alle freiwillig zu uns kommen, das ist auch so eine Grundvoraussetzung zu uns, man muss auch zu uns kommen wollen, dann teilen wir auf. Dann würde da eine Person, wir sind drei Personen in der Beratungsstelle, eine Person würde mit dem Kind anfangen zu arbeiten und die andere Person würde dann mit den Eltern meistens weiterarbeiten. Meistens die, die das Erstgespräch führt, bleibt dann auch bei den Eltern, weil da schon ein bisschen Beziehung stattgefunden hat. Ja, und dann würde man eins, zwei, drei Termine miteinander vereinbaren, würde dann das Kind so ein bisschen kennenlernen, würde auch da so ein bisschen gucken, das kommt dann ein bisschen drauf an, was sind die Themen, wie alt ist er. Und dann führen wir gerne auch wieder Elterngespräche. Dann hat ja parallel, im besten Fall auch mit den Eltern, die Arbeit weiter stattgefunden. Das heißt, da gab es dann auch so ein bisschen was. Wir setzen uns natürlich parallel dann immer wieder noch mal ein bisschen zusammen und gucken, was hast du erlebt, was habe ich erlebt. Und dann muss man so ein bisschen gucken. Dann unterscheiden sich die Prozesse. Manchmal ist nach zwei, drei Termine Schluss und manchmal dauert es länger.

[00:13:03.860] - Nadia Kailouli

Was sind denn genau die Prozesse? Also was bietet ihr genau an bei basis-praevent?

[00:13:09.900] - Annika Senne

Also was wir jetzt immer mehr versuchen, ist, weil ja auch Studien in den letzten Jahren, Jahrzehnten immer mehr ergeben haben, dass Trauma auch einfach was Körperliches ist, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, zu versuchen, auch körperbezogene Ansätze immer mehr mit unser Beratungssetting einfließen zu lassen. Da haben wir seit einiger Zeit das therapeutische Boxen, was wir, je nachdem, wenn es zu dem Klienten oder der Klientin, wenn es Bezugspersonen sind, passt, einbeziehen. Das kann in vielen Fällen eine sehr schöne körperliche Methode sein, überhaupt erst mal auch den Körper ein bisschen mitzunehmen, also um den Körper wieder mehr wahrnehmen zu können überhaupt, vielleicht auch Anspannung regulieren zu können, weil das ist etwas, was ganz viele Betroffene, ob Kinder oder erwachsene Personen berichten, dass sie eine ganz hohe Grundanspannung haben und überhaupt ins Fühlen zu kommen, besseren Zugang zu den Emotionen wiederherstellen zu können und da auch zu gucken, was können wir über das klassische Beratungssetting hinaus mit einbeziehen, mit anbieten, auch wie Atemübungen, Erdungsübungen zu gucken, einfach Angebote zu machen und uns gemeinsam mit den Klient:innen auf den Weg zu machen, was kann helfen, was kann auch helfen, das Nervensystem ein bisschen zu regulieren, ins Spüren, in den Körper reinzukommen auch. Genau.

[00:14:28.360] - Nadia Kailouli

Jetzt mit dem Boxen dachte ich jetzt direkt: Ist das nicht jetzt doch sehr klischeehaft? Das ist jetzt eine Beratungsstelle für Männer und für Jungs und da wird dann jetzt geboxt?

[00:14:38.740] - Annika Senne

Ja, dass tatsächlich, was gerade mit männlich Betroffenen sehr schnell assoziiert wird, das Thema Wut oder das Gefühl der Aggression, der Wut. Und auch das kann total hilfreich sein, im therapeutischen Boxen mit einzubeziehen und zu gucken: „Okay, wie kann die Wut nach außen getragen werden? Warum ist die Wut da?" Aber auch Jungen und Männer erleben das Gefühl von Traurigkeit, von Angst, von Hilflosigkeit, von Scham. Und auch da kann es total schön sein, vom Körper ins Spüren zu kommen und über diese körperliche Ebene vielleicht auch Worte für das zu finden, was ihnen widerfahren ist, weil gerade viele Betroffene, auch erst mal sagen, sie sind so wütend, weil Wut noch die Emotion ist, die vielleicht am besten zu dem Männlichkeitsbild passt, mit dem sie sozialisiert worden sind. Also ich hatte erst vor kurzem einen Klienten, der dann nach einer Übung eigentlich da saß und meinte: „Boah, aber eigentlich bin ich total traurig über das, was passiert ist, darüber, wie meine Eltern reagiert haben. Und eigentlich habe ich totale Angst vor der Zukunft und eigentlich habe ich totale Angst, dass ich Sexualität nie mehr richtig genießen kann", um darüber hinaus auch Zugang zu den vielen anderen Gefühlen zu bekommen.

[00:15:46.760] - Nadia Kailouli

Okay, aber da kann man sagen, Boxen ist sozusagen eine Therapieform, eine Anwendung, die aber auch für Frauen sozusagen funktionieren würde?

[00:15:54.680] - Annika Senne

Total, genau. Wir beziehen es mit ein, aber es funktioniert.

[00:15:57.880] - Nadia Kailouli

Genau, es ist jetzt nicht nur, weil sie Jungs sind, sondern weil es eine gute Form ist, zu sagen: „Lass mal alles raus." Jetzt könnt ihr uns vielleicht einen Eindruck geben, ihr kommt aus Hamburg, basis-praevent. Es gibt nicht so viele Beratungsstellen, nur für Männer. Wie ist denn aber die Annahme? Also wie viele kommen zu euch? Könnt ihr sagen, das sind viele, das sind wenige? Könnt ihr sagen, eigentlich bräuchten wir mehr Kapazitäten oder wie kann ich mir das vorstellen?

[00:16:23.700] - Clemens Fobian

Ja, im Grunde kommen eigentlich viel zu viel zu.

[00:16:26.680] - Nadia Kailouli

Okay.

[00:16:28.340] - Clemens Fobian

Genau, wenn man so ein bisschen-

[00:16:29.270] - Nadia Kailouli

Was schade ist.

[00:16:30.000] - Clemens Fobian

Was schade ist, genau. Und gleichzeitig natürlich gut ist, weil es zeigt, dass das Angebot angenommen wird. Wenn man so ein bisschen in die Studienlage reinguckt, dann ist es ja, wie häufig es gar nicht so einfach ist, herauszufinden, wie viel Betroffene gibt es eigentlich, weil es eine hohe Dunkelfeld gibt, das Studien immer sich so ein bisschen hin- und her gucken müssen. Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass ungefähr ein Drittel der Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Kinder-und Jugendalter männlichen Geschlechtes sind, was erst mal auch schon wieder gar nicht ganz so wenig ist, wenn man sich überlegt, wie viel das tatsächlich ist und wenn man sich auch vielleicht überlegt, wie im Ganzen die Beratungslandschaft aufgebaut ist. Und wenn ich das einfach so auf Zahlen runterbreche für uns, dann haben wir uns ein bisschen vorbereitet auf heute und haben mal so in die Statistik für letztes Jahr reingeguckt. Und dann hatten wir bei den Betroffenen, weil es ein bisschen kompliziert in der Finanzierung ist, haben wir im Grunde so zwei Finanzierungsstränge. Die einen sind die Betroffenen im Alter bis 27, wo dann auch Angehörigen und Bezugspersonen dazu sind. Da hatten wir 2024 150 Betroffene, die bei uns in der Beratungsstelle gewesen sind, wo bei Betroffene ja meistens dann noch mehrmals kommen. Und bei denen, die über 27 gewesen sind, waren es 50. Also auch da wieder gar nicht ganz so wenig. Und wenn man das so zusammenrechnet, sind wir, alleine bei uns in der kleinen Beratungsstelle, bei knapp 200 Betroffenen, die angekommen sind. Zum allergrößten Teil kommen sie auch-

[00:17:59.380] - Nadia Kailouli

Und das ist ja nur jetzt für Hamburg?

[00:18:00.200] - Clemens Fobian

Nur für Hamburg, genau. Kommen natürlich einmal ab und zu, in Hamburg sagt man, aus dem Speckgürtel, das sind so die kleineren Dörfer drumherum. Da kommt natürlich auch noch der eine oder andere dazu, aber im allergrößten Teil sind das alles nur die Betroffenen, die aus Hamburg kommen.

[00:18:14.740] - Nadia Kailouli

Okay, Wahnsinn. Und das sind alles oder viele Fälle, oder meistens Fälle, von sexualisierter Gewalt, ja?

[00:18:22.960] - Clemens Fobian

Ja, es sind alles Betroffene von sexualisierter Gewalt und bis auf ganz, ganz, ganz wenige Ausnahmen haben alle die sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. Das heißt, wenn wir über so partnerschaftliche Gewalt reden, wo es ja eigentlich auch noch Fälle geben müsste – klingt so blöd, aber wo es natürlich auch Fälle gibt –, die kommen im Grunde bei uns gar nicht an, weil wenn man auf die Internetseite geht, dann ist sehr klar, dass wir eine Beratungsstelle für diejenigen sind, die das in Kindheit und Jugend erlebt haben. Melden sich natürlich immer noch mal welche, aber auch da ist es ein sehr eingeschränkter Bereich. Und das ist uns auch in der Arbeit so wichtig, dieses Altersunabhängige in der Beratung. Das erleben wir auch immer wieder, dass sexualisierte Gewalt so ein Thema ist, was mitwächst oder wo zu unterschiedlichen Zeitpunkten in dem Leben das Thema noch mal anders um die Ecke kommt. Und wir haben ja gerade gesagt, es gibt gar nicht so viele Beratungsstellen für Jungen oder für Männer in Deutschland. Also jetzt will ich niemandem zu nahe treten, aber mir ist keine andere Beratungsstelle bekannt, die so explizit altersunabhängig berät, wie wir. Es gibt dann in Berlin zum Beispiel Tauwetter, aber die kümmern sich um Männer, die das in Kindheit erlebt haben. Es gibt in vielen Städten Beratungsstellen, die für Jungen und Jugendliche zuständig sind. Aber dieses Altersunabhängige ist dann auch wieder so was, was bei uns sehr speziell ist und was, glaube ich, auch noch mal trotzdem was sehr Entscheidendes ist, für die Betroffenen zu wissen, auch für die Männer zu wissen, das ist ein Ort, wo ich die Gewalt aufarbeiten kann, die ich in meiner Kindheit erlebt habe, weil ich bei jemandem gelandet bin, der sich genau damit auskennt. Das berichten auch die betroffenen Männer, die ja teilweise sehr, sehr lange mit dieser Idee „Ich habe Missbrauch erlebt", herumgelaufen sind. Also der älteste Mann, der bei mir in der Beratung war, der war 77 und der Missbrauch hat, ich weiß nicht mehr ganz, mit sechs oder sieben stattgefunden. Also der ist … Knapp 70 Jahre hat er mit niemandem darüber gesprochen, was er in seiner Kindheit erlebt hat. Und ich glaube, das macht es auch noch mal so was, einfach noch mal wichtig für die Männer, die zu uns kommen, genau diesen Ort zu haben.

[00:20:35.220] - Nadia Kailouli

Jetzt hast du ja gesagt, neben Boxen und so hattest du eben gesagt, arbeitet ihr auch mit Büchern und Clemens, du hast da tatsächlich auch Bücher geschrieben, gemalt, gemacht. Was genau hast du für Kinderbücher auf den Markt gebracht, mit denen ihr auch in der Beratungsstelle arbeitet?

[00:20:49.020] - Clemens Fobian

Ja, wir haben, als wir in der Beratungsstelle immer mehr Kinder bei uns gehabt haben, festgestellt, dass es schon viele Materialien zum Thema sexualisierte Gewalt gibt, aber auch hier wieder festgestellt, dass die allermeisten Bücher Mädchen als Protagonistinnen haben. Und dann haben wir gesagt, es wäre doch auch gut für die Betroffenen, wenn die Themen auch noch mal so herum erzählt wird, dass sie sich repräsentiert, also dass sie sich wieder da drin sehen. Und dann sind in den letzten Jahren mehrere Kinderbücher aus unserer Beratungsstelle entstanden. Eins, wo es um das Thema Gefühle geht, wo wir noch mal mit auch deutlich machen, was sind eigentlich Gefühle und woran erkennt man eigentlich, dass ein Gefühl ein zu Besuch kommt. Und ein Buch, mit dem wir auch ganz viel bei uns in der Beratung arbeiten, das handelt von Geheimnissen und thematisiert, was ist eigentlich ein Geheimnis und was ist ein Geheimnis, was ich lieber gerne für mich behalten darf? Also wenn ich jemandem eine Überraschung machen möchte zum Geburtstag, dann ist das ein gutes Geheimnis, was man auch gerne für sich behalten darf. Aber bei uns in der Beratungsstelle kommen ja eher oder eigentlich nur Kinder an, die erlebt haben, dass sich ein Geheimnis nicht gut anfühlt. Und auch das wird in diesem Buch besprochen und unser Anliegen war es, Bücher zu haben, die keine Angst machen. Das heißt, Bücher, die man im Zweifelfall auch einfach im Kinderzimmer liegen lassen kann, die aber gleichzeitig klar mit einem guten Vielfaltsgedanken das Thema sexualisierte Gewalt thematisieren, ohne es auszusprechen, also in der Prävention, in der wir uns befinden.

[00:22:22.320] - Annika Senne

Zum Beispiel ein Präventionsbuch, wo es darum geht, mit einem Körperumriss zu arbeiten, wo Kinder reinmalen können: „Da ist es okay, angefasst zu werden. An diesem Bereich meines Körpers möchte ich nicht angefasst werden und da darf ich Nein sagen und Stopp sagen. Und wer darf mich da vielleicht doch anfassen und wer nicht?" Da gibt es noch einen Unterschied zwischen engen Bezugspersonen und fremden Menschen, wodurch man auch mit Kindern wirklich gut ins Gespräch darüber kommen kann.

[00:22:45.200] - Nadia Kailouli

Könnt ihr vielleicht noch mal kurz erläutern, „Beratungsstellen" das ist so ein großes Wort und man denkt immer so: „Ach toll, dass es die gibt", aber was passiert denn da? Jetzt habt ihr gesagt, ihr führt die Gespräche, ihr macht dann mal ein Boxtraining und so, aber Ich denke mir da manchmal immer so: „Ja und dann?" Wofür seid ihr da? Ihr seid ja keine, in dem Sinne dann mein persönlicher Psychotherapeut, der mich über Jahre begleitet, oder? Also so ist es ja nicht, oder?

[00:23:10.660] - Clemens Fobian

Manche kommen sehr lange zu uns und manche begleiten wir auch über einen längeren Zeitraum.

[00:23:15.000] - Nadia Kailouli

Genau, vielleicht könnt ihr mir das einmal erklären: Was macht ihr eigentlich genau? Also kann ich selber entscheiden: „Ich fühle mich so wohl bei euch. Ich habe jetzt alles erzählt. Ich komme jetzt einfach mal wieder." Oder könnt ihr dann sagen: „Nein, sorry, jetzt musst du dir mal einen Therapeuten oder eine Therapeutin suchen", oder „Jetzt musst du mal selber auf die Beine kommen", oder „Jetzt haben wir dich beraten, dass du dir vielleicht auch eine rechtliche Hilfe suchen kannst, weil das kannst du zur Anzeige bringen", oder ich weiß nicht was. Also was alles umfasst denn jetzt genau euch basis-praevent?

[00:23:42.280] - Annika Senne

Also genau, wir sind keine Psychotherapeut:innen und wir machen uns zum Beispiel auch mit Betroffenen zusammen auf den Weg und gucken, was kannst du dir, wenn sie sich eine therapeutische Anbindung vorstellen können oder auch eine Anbindung an eine Klinik, dass wir zusammenschauen: Was brauchst du, um diese Schritte gehen zu können? Weil da fängt es ja häufig schon an. Das kostet total viel Energie, überhaupt einen Therapieplatz zu suchen. Dann dauert das zum Teil mehrere Monate, bis ein Therapieplatz gefunden wird. Bei uns sind Termine relativ kurzfristig möglich, weil wir ein niedrigschwelliges Angebot sind und häufig auch dabei unterstützen: Was brauchen die Personen, um überhaupt zu schaffen, da anzurufen? Ich hatte letztens ein Klient auch gesagt: „Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll. Ich weiß gar nicht, wie ich das ausdrücken soll." Bei uns ist so klar, wenn sie zu uns in die Beratungsstelle kommen, wir sind eine Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Da muss das Thema nicht benannt werden. Aber wenn ich jetzt in einer Klinik anrufe oder bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten, muss ja auch erst mal erklärt werden, worum geht es hier eigentlich? Und einfach zu schauen: Was brauchen die Personen, wenn sie überlegen: Anzeige, ja oder nein? Dann können wir auch keine rechtliche Beratung anbieten, dann zu schauen: Wo gibt es die rechtliche Beratung? Aber bei uns kann immer wieder zusammengekommen werden, sortiert werden, geschaut werden, wie soll es weitergehen? Und wir haben auch keine maximale Anzahl an Terminen, die Klient:innen bei uns wahrnehmen können, sondern die können tatsächlich so häufig kommen, wie der Bedarf da ist. Natürlich schauen wir immer wieder zusammen: Haben wir noch ein konkretes Anliegen? Also wir überlegen am Anfang von einem Beratungssetting, geht es immer darum, das Anliegen zu klären, gemeinsam zu schauen: Was bringst du mit? Warum sind die Betroffenen da? Und das kann sein: „Ich möchte überhaupt erst mal erzählen, was passiert ist. Ich möchte das sortieren. Ich möchte erst mal gucken, welche Angebote sind überhaupt möglich." Das kann total individuell sein.

[00:25:32.500] - Clemens Fobian

Ja, und das ist auch der Vorteil, dass wir dadurch keine Diagnosen brauchen. Man könnte auch anonym zu uns in die Beratung kommen. Im Regelfall wird das überhaupt nicht wahrgenommen. Aber die Betroffenen können sich sicher sein, dass keine personenbezogene Daten irgendwo anders hinfließen. Und gerade in der Arbeit mit Kindern erleben wir manchmal auch so eine Unsicherheit: „Gehe ich jetzt mit meinem Kind zu einer Psychotherapeutin, wo eine Diagnose gestellt werden muss, wo unter Umständen dann später Versicherungen, eine Verbeamtung vielleicht nicht mehr so ganz einfach ist?" Das ist ein großer Vorteil von uns.

[00:26:00.960] - Nadia Kailouli

Ist das so?

[00:26:02.180] - Clemens Fobian

Ja, weil wenn man eine Versicherung macht, weiß ich nicht, Berufsunfähigkeitsversicherung, dann muss man ja ankreuzen, ob man in den letzten Jahren Psychotherapie gemacht hat. Und wenn man ankreuzt „Ja", dann könnte es sein, dass die Versicherung das ablehnt. Genau, Verbeamtung, das ist ganz häufig ein Thema, dass angehende Lehrerinnen, wer auch immer, Lehrer, die zu uns kommen und sagen, ganz explizit nachfragen: „Gehen dann die Daten irgendwo anders hin?", weil die in dem Prozess der Verbeamtung sind und das dann da nicht immer ein Thema ist, aber ein Thema sein kann. Und das schürt natürlich, ich würde sagen, zu Recht, dann auch Ängste. Und was ich glaube, was für Beratungsstellen ja auch wichtig ist: Wir haben unterschiedliche Säulen und jetzt reden wir die ganze Zeit über die Beratung und das ist auch die Säule bei uns in der Beratungsstelle, die am meisten Zeit einnimmt, wo wir auch, ich glaube, mit am meisten Energie mit rein tun. Also das ist eine ganz, ganz wichtige Säule. Aber wir haben ja auch andere Säulen. Eine Säule ist bei uns Prävention und die andere ist Fortbildung. Das heißt, Beratungsstellen sind ja auch unterwegs und versuchen, das Thema sexualisierte Gewalt entweder präventiv in, zum Beispiel, Schulklassen, in Kitagruppen zu platzieren und frühzeitig mit Betroffenen und Nichtbetroffenen, also mit Kindern in den Kontakt zu kommen, um es so auch zu ermöglichen, vielleicht sich Hilfe zu suchen oder später auch besser einordnen zu können, dass das, was sie erlebt haben, eine Form von Gewalt ist. Und wir bieten Fortbildungen an, Fortbildungen für Fachkräfte in, wie sagt man immer so schön, psychosozialen Arbeitsfeldern, also Pädagog:innen, Therapeuten, Psycholog:innen, all diejenigen, die mit Jungen, meistens Jungengruppen, arbeiten, in einer Wohngruppe arbeiten, als ambulante Betreuer:in irgendwo arbeiten. Das auch die mit dem Thema sexualisierte Gewalt, sexualisierte Gewalt gegen Jungen, dass da so ein Wissen drüber vorherrscht. Also in den allerersten Fortbildungen, die wir damals gegeben haben, da stand auf der Powerpoint immer: „Man sieht nur, was man kennt." Und das ist ja auch so ein bisschen das, was wir tun, zu versuchen, das Thema sexualisierte Gewalt sprechbar zu machen und auf dem die Möglichkeit es Betroffenen zu ermöglichen, über das zu berichten, was sie erlebt haben. Weil Täterstrategien, Täterinnen und Täter, ja häufig sehr, sehr damit arbeiten, dass die Betroffenen nicht damit ins Gespräch kommen. Es gibt viele innere Gründe, die dagegen sprechen, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, aber es gibt auch so auch häufig ja nicht unbedingt Personen- Bei Geheimnissen muss auch jemand über das Geheimnis sprechen, aber es muss auch jemand nachfragen oder es muss auch jemand zuhören. Und wir eben auch der Meinung sind, wir müssen auf der anderen Seite tätig werden. Und das ist ja auch eine Arbeit von Beratungsstellen, nicht nur in der direkten Begleitung von Betroffenen und Angehörigen tätig zu sein, sondern auch präventiv, Unsicherheiten von Eltern. Also es gibt ja auch Eltern, die anrufen und sagen, ganz häufig benennen sie es so „Bauchgefühl" oder die sagen irgendwas anderes, aber meistens ist es dieses Gefühl, da stimmt gerade was nicht. Und das ist ja kein Ort, wo man dann zur Polizei geht oder wo man zu einer Psychotherapeutin geht, sondern wo man zu Beratungsstellen, den Kontakt aufbaut und in so einer Vermutungs- oder Verdachtsabklärung sich vielleicht auch noch befindet. Mit dieser Idee: „Eigentlich kann es nur sexualisierte Gewalt sein, aber so richtig genau weiß ich das nicht." Und das ist ja auch was, was Betroffene, die Angehörigen ganz häufig haben. Also ich hatte immer eine Mutter, die hat den Laptop ihres neuen Partners aufgeklappt und hat sofort Missbrauchsdarstellungen von ihrem Kind und dem neuen Partner auf diesem Laptop gehabt. Da gab es kein Vertun, aber das ist in 15 Jahren einmal passiert. Ganz, ganz viele Eltern rufen an und sagen, oder auch Fachkräfte rufen an und sagen: „Ich glaube, eigentlich kann es nur sexualisierte Gewalt sein", oder „Ich mache mir gerade so richtig Sorgen, aber ich weiß es nicht." Und das ist ja auch so, wo wir auch ja beraten und Unterstützung anbieten.

[00:30:00.960] - Nadia Kailouli

Was ist denn da die richtige Beratung, zu sagen: „Es kann sein, ich weiß es nicht." Was könnt ihr denn da sagen?

[00:30:06.780] - Annika Senne

Häufig raten wir auch erst mal dazu, die Dinge auf jeden Fall aufzuschreiben und gut zu dokumentieren und vor allem getrennt zu dokumentieren: „Was sehe ich wirklich? Was bekomme ich mit?" Und auf der anderen Seite: „Was sagt mein Bauchgefühl? Wo hatte ich ein unstimmiges Bauchgefühl? Was war mein Gefühl dazu?" Und das auch getrennt voneinander zu dokumentieren, auch mit Datum zu dokumentieren: „Was habe ich wann beobachtet?" Wo hat mir irgendwie mein Bauchgefühl als Mama, als Papa, als andere Bezugsperson gesagt: „Hm, irgendwie habe ich das Gefühl, hier stimmt etwas nicht", weil dann häufig auch besser besprochen werden kann, wenn das einmal alles aufgeschrieben ist: Gehen da auch unsere Alarmglocken zum Beispiel los oder sagen wir, da sollte hingeschaut werden? Dann ist oft die Frage: „Wie gehe ich mit meinem Kind gut ins Gespräch?" Wie kann ich mit meinem Kind gut ins Gespräch gehen, wenn mein Kind zum Beispiel auch was erzählt? Nicht zu sagen: „Wieso hast du mir nicht vorher was erzählt?", sondern das aufzunehmen und auch nicht nachzubohren, sondern aufs Kind zu schauen, zu gucken, was möchte das Kind in dem Moment erzählen und eben auch zum Beispiel nicht zu fragen: „Warum hast du dich nicht gewehrt? Warum hast du keine Hilfe geholt?" Was einem Kind schnell auch eine Mitschuld an dem, was da passiert ist, suggerieren kann. Und da einfach genau auch viele Bezugspersonen haben eben auch genau diese Fragestellung: „Wie spreche ich jetzt mit meinem Kind darüber, über das, was es erzählt hat, oder über das, was mein Bauchgefühl vielleicht sagt und eigentlich hat mein Kind noch gar nichts erzählt. Wie kann ich ins Gespräch kommen?" All solche Fragen, die dann häufig aufkommen.

[00:31:32.360] - Clemens Fobian

Ja, und manchmal einfach auch eine Zeit lang mit auszuhalten oder auch diesen Weg auch mitzugehen. Auch mit dem Wissen, vielleicht wissen wir das noch nicht gleich nächste Woche und wir können die schönsten ersten Ratschläge geben, aber es kann einfach auch gut sein, dass das einen Moment braucht, auch weil für Betroffene über das Geheimnis reden, über die sexualisierte Gewalt zu reden oder auch nicht zu reden, hat ja einen guten Grund. Und es gibt manchmal, so würde ich sagen, auch gute Gründe, vielleicht gar nicht sofort darüber ins Gespräch zu gehen, das vielleicht ein Stück weit auch wertzuschätzen und zu gucken. Aber wir haben schon so die Grundidee, dass es in fast allen Fällen hilfreich ist, über die erlebte Gewalt zu reden. Also ich versuche im Beratungssetting oder in Fortbildung immer so ein bisschen diese Idee zu machen, so eine Tür aufzumachen. Betroffene sehr einzuladen, durch diese Tür zu gehen. Gehen müssen sie dann immer noch freiwillig und auch auszuhalten, wenn vielleicht eine Zeit lang da noch nicht durchgegangen werden kann und dann eventuell noch mal ein bisschen mehr Werbung zu machen und gleichzeitig aber auch zu helfen, zu unterstützen, diese Tür noch ein Stück weit aufrechtzuhalten, weil das dann doch auch ganz viel Kraft kostet.

[00:32:44.680] - Nadia Kailouli

Können ihr denn sagen, aus welchen Bereichen gerade Jungs und Männer am häufigsten von Übergriffen, sexsuellen Übergriffen berichten? Gibt es da eine Erkenntnis für euch?

[00:32:58.400] - Clemens Fobian

Ich wollte jetzt ganz am Platz sagen: Aus allen. Also sexualisierte Gewalt gegen Kinder, gegen Jungen, passiert überall. Es ist nichts, was schichtspezifisch ist, was nur in bestimmten Stadtteilen passiert oder so, sondern es passiert einfach überall. Natürlich gibt es, und da unterscheiden sich die Zahlen oder das Phänomen gar nicht so sehr von Mädchen, gibt es natürlich besondere Bereiche, die sehr risikohaft sind, betroffen von sexualisierter Gewalt zu werden und das ist die Familie. Also 75% der sexualisierten Gewalt passiert im sozialen Nahbereich. Und ich denke dann immer so an die größeren Familienfeste, wo nicht nur Mama, Papa, Oma da ist, sondern vielleicht auch noch der beste Freund des Vaters, die neue Person. Also viele Personen. Und je dichter und je enger Personen an Kindern ran sind und so statistisch gesehen ist, ist das eher der Risikoort, wo sexualisierte Gewalt stattfindet. Und wir natürlich bei uns auch viele Betroffene haben, die sexualisierte Gewalt im Sportverein erlebt haben, im Schwimmen-, Fußball-, Segelclub. Wir kommen aus Hamburg, da gibt es dann auch so was. Genau, also in-

[00:34:06.580] - Annika Senne

Kita, Schule.

[00:34:09.100] - Nadia Kailouli

Gerade der Sport, also ich meine, die prominenten Fälle von sexualisierter Gewalt gegenüber jungen Männern neben der Kirche ist dann eben auch der Sport. Aber könnt ihr zum Beispiel sagen, weil wenn wir von sexualisierter Gewalt sprechen, von sexuellen Übergriffen sprechen, dann sind die Täter oft Männer. Ist das in dem Fall von Betroffene sind Jungs und Männer auch so oder häufen sich da auch die Fälle, dass die Frauen, also dass eine Frau Täterin ist?

[00:34:40.240] - Annika Senne

Ich würde sagen, häufen tun sie sich nicht. Es kommt vor, aber auch bei Jungen und Männern, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, sind Täterpersonen häufig männlich.

[00:34:49.620] - Clemens Fobian

Ja, also es gibt ja diese Zahl, dass ungefähr 80% der Täterinnen und Täter, da denkt man immer nur an zwei Geschlechter in dieser Forschung, also 80% sind männlichen Geschlechtes. Ich finde das auch immer wichtig zu sagen, dass auch immer noch 20% sind Frauen. Also auch da kann die sexualisierte Gewalt stattfinden. Und in den ersten Jahren sind wir immer sehr intensiv evaluiert worden von einer Hochschule aus Hamburg. Und ich habe die Zahl nicht mehr ganz im Kopf, aber wir haben ziemlich genau diese 80, 20% getroffen. Also ich war damals tatsächlich so ein bisschen überrascht, weil das hätte ich so nicht erwartet. Aber wenn man dann mal zweieinhalb Jahre da Statistik macht, dann kommt man eben dann doch auch auf viele weibliche Täterinnen. Und die auch da wieder haben wir das gleiche Bild. Es sind dann Aupairmädchen, es sind Mütter. Also auch da wieder, es sind keine Fremden, sondern es sind Personen, die die Jungen zum Teil seit einfach vielen Jahren und auch zum Teil einfach richtig gut gekannt haben.

[00:35:42.960] - Annika Senne

Und auch da wieder das Thema Scham, was bei vielen Betroffenen dann mit … Genau, wenn ich mit einem Männlichkeitsbild groß geworden bin von: „Ich bin Mann oder Junge, ich kann mich wehren, ich bin stark", und dann ist die Täterperson weiblich. Ich hatte es jetzt zweimal in Beratungssettings. Dann war das Thema Scham und die Betroffen haben sehr lange geschwiegen, bis sie sich getraut haben, sich da irgendwie Hilfe zu holen, mit einer Person ins Gespräch zu gehen und auch da zu erfahren: „Okay, es gibt auch noch anderen Personen, denen das passiert ist und ich bin damit gar nicht alleine." Aber auch da ist das Thema Scham und Scham führt eben häufig zurück zu eher Isolation, als ich gehe in einen Prozess rein.

[00:36:24.950] - Annika Senne

Absolut. Annika und Clemens, ich finde das super, dass ihr uns heute einen Einblick, und zwar einen sehr detaillierten Einblick, gegeben habt in eure Arbeit. Und für mich halte ich so irgendwie zusammen: Euch unterscheidet eigentlich nicht viel von anderen Beratungsstellen, aber es ist dennoch gut, dass ihr euch spezialisiert habt, sozusagen, auf Jungs und Männer, weil unsere Gesellschaft denen auch ein bisschen abverlangt hat: „Weil ihr eben Jungs oder Männer seid, könnte euch das eigentlich gar nicht so passieren", oder „Ihr sprecht da nicht drüber", oder, oder, oder, was es alles für gesellschaftliche Normen gibt und Zwänge gibt. Deswegen ganz gut, dass es euch gibt, dass Jungs und Männer sich bei euch aufgehoben fühlen und sich hinwenden können, ohne dass da mit irgendeinem Klischee oder Vorurteil oder sonst was gegen das Geschlecht gearbeitet wird, sondern zugehört wird. Vielen, vielen Dank, dass ihr heute bei uns wart, bei einbiszwei.

[00:37:14.560] - Annika Senne

Gerne.

[00:37:15.070] - Clemens Fobian

Gerne.

[00:37:18.440] - Nadia Kailouli

Ja, wie toll, dass Annika und Clemens heute bei uns waren und so detailliert darüber gesprochen haben, was so eine Beratungsstelle eigentlich alles macht. Und man muss ja sagen, große Unterschiede zu den anderen Beratungsstellen, die wir jetzt hier bei einbiszwei zum Beispiel schon in Gesprächen hatten, haben die ja gar nicht, außer das Boxen. Das habe ich heute das erste Mal gehört. Aber was ganz klar, glaube ich, rausgekommen ist, ist: Es ist echt wichtig, dass es tatsächlich dann doch auch Beratungsstellen gibt, die sich ganz gezielt an Jungen und Männer richten, damit sie einfach das Vertrauen haben, den Mut haben, sich an Leute zu wenden, wo sie sagen können: „Ich als Junge, ich als Mann, wo mir eigentlich die ganze Zeit vermittelt worden ist, mir könnte so was ja nie passieren oder ich hätte mich ja wehren können, weil ich eben männlichen Geschlechts bin, finden dort eben offene Ohren und eine Beratung." Und deswegen ist doch super, dass es basis-praevent gibt.

Mehr Infos zur Folge

Dass auch Jungen* Betroffene sexuellen Missbrauchs werden, ist mittlerweile zwar bekannt, aber noch längst nicht immer wirklich anerkannt. Zum Teil resultiert das aus der Unsicherheit der Öffentlichkeit über das tatsächliche Ausmaß der sexualisierten Gewalt gegen Jungen. Hinzu kommen falsche Vorstellungen und Klischees. Trotz unterschiedlicher Definitionen und Befragungsmethoden, zeigen internationale Untersuchungen zur sexualisierten Gewalt gegen Jungen übereinstimmend, dass 8-10 % der befragten Männer sexualisierte Gewalt erfahren mussten. Dunkelfeldschätzungen gehen davon aus, dass jeder fünfte bis achte Junge sexualisierte Gewalt erlebt. 

Jungen erzählen wahrscheinlich seltener von sexuellem Missbrauch, weil sie oft glauben, dass Missbrauch mit „Schwäche“ und „Ohnmacht“ in Verbindung gebracht wird. Unsere Gesellschaft erwartet von Jungen und Männern Stärke, sie dürfen also nicht schwach oder ohnmächtig sein. Sind Jungen doch zu Opfern geworden, „hatten sie selber Schuld“, weil sie sich nicht richtig gewehrt haben. Oder es gibt Klischees und Vorurteile: Jungen wollen bspw. den Sexualkontakt und empfinden ihn als angenehm, insbesondere dann, wenn sie von einer Frau missbraucht werden. Werden sie von einem Mann missbraucht, schweigen Jungen und Männer, weil sie nicht als Homosexuelle abgestempelt werden wollen.
Viele Betroffene flüchten sich in ein qualvolles Doppelleben. Sie fürchten, dass ihnen niemand glaubt – oder, dass sie zum schwachen Opfer abgestempelt werden, ausgelacht oder als schwul verhöhnt werden. Sie schämen sich.

Annika Senner und Clemens Fobian von „Basis Praevent“, einer Beratungsstelle für von sexueller Gewalt betroffene Jungen* und Männer*, wollen diese Betroffenen auffangen und sexuelle Gewalt an Jungen* und Männern* präventiv verhindern. Indem sie männliche Betroffene und ihren Angehörigen therapeutisch beraten, Fortbildungen anbieten und Aufklärungsarbeit leisten.

Wie sie das tun, welche Rolle therapeutisches Boxen dabei spielen und welche Hürden sie in ihrer Arbeit sehen, erzählen Annika Senne und Clemens Fobian bei einbiszwei.

LINKSAMMLUNG

Zum Instagram-Account von Basis Praevent:
https://www.instagram.com/basispraevent/

Noch mehr Infos über Basis Praevent:
Zur Basis Praevent Website

Mehr über Clemens Fobian:
Website Clemens Fobian

Weiter Infos über Jungen und Männer als Betroffene:
gegen-missbrauch e.V.: Jungen und Männer als Opfer von Missbrauch und Kinderpornografie

Studie der Leipziger Universität zu sexueller Gewalt an Jungen und Männern (12/24):
Studie zu sexueller Gewalt an Jungen und Männern

Infos zur konzentrativen Bewegungstherapie:
therapie.de: Konzentrative Bewegungstherapie (KBT)

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

einbiszwei@ubskm.bund.de

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