Kann eure KI „Lizzy“ wirklich vorhersagen, ob ein Mann wieder zuschlägt, Ba-Linh Le?
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[00:00:01.640] - Ba-Linh Le
Lizzy ist eine KI-gestützte Gefährdungsanalyse bei häuslicher Gewalt, was sehr lange klingt, aber im Prinzip ist es eine Web-App, die hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Es wird niemals plakativ gefragt: „Haben Sie schon mal häusliche Gewalt erlebt?" Sondern immer ganz bestimmt: „Wie oft ist das Folgende in dem letzten Jahr passiert: Sie wurden geschubst, gestoßen, gepackt oder Ihr Partner hat Ihren Internetbrowserverlauf, Ihre Anrufe, Ihre sozialen Netzwerkeüberprüft?" Oder: „Er hat schon einmal einer Ihnen nahestehenden Person mit körperlicher Gewalt gedroht, entweder über Fäuste oder Schusswaffen oder andere Gegenstände."
[00:00:43.100] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missständen und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:01:07.220] - Nadia Kailouli
155 Frauen wurden 2023 von Männern ermordet. Gleichzeitig gab es 133.000 verzeichnete Fälle von Partnerschaftsgewalt. Wer von den 133.000 Tätern geht einen Schritt weiter und ermordet seine Frau oder seine Freundin? Wenn sich diese Frage also schon im Vorfeld klären lässt, wenn man also eine Einschätzung bekommt, was Täter womöglich vorhaben, kann das Leben retten. Die Datenwissenschaftlerin Ba-Linh Le sagt, so eine Risikoanalyse ist machbar. Sie hat dafür eine künstliche Intelligenz entwickelt. Lizzy heißt sie und sie soll die Muster hinter Frauenmorden erkennen. In zehn Bundesländern ist Lizzy bereits im Einsatz und klärt, ob ein Täter erneut gewalttätig wird. Wie das Ganze funktioniert, kann uns am besten die Entwicklerin selbst erzählen, denn sie ist heute bei uns. Herzlich willkommen bei einbiszwei 2 Ba-Linh Le. Schön, dass du da bist.
[00:01:55.640] - Ba-Linh Le
Danke, dass ich hier sein darf.
[00:01:56.940] - Nadia Kailouli
Wir freuen uns total, weil du etwas auf dem Markt gebracht hast, wo man sich denkt: „Wow." Es geht um Lizzy. Lizzy ist ein KI-Tool und am besten erklärst du einfach mal, was kann Lizzy? Wofür ist Lizzy da?
[00:02:09.840] - Ba-Linh Le
Lizzy ist eine KI-gestützte Gefährdungsanalyse bei häuslicher Gewalt, was sehr lange klingt. Aber im Prinzip ist es eine Web-App, die hilft, die richtigen Fragen zu stellen für Fachkräfte im Bereich Häuslicher Gewalt, also Sozialarbeiter:innen und Polizei, um herauszufinden, ob hier jemand wieder viktimisiert wird durch den oder die Partner:in.
[00:02:30.800] - Nadia Kailouli
Jetzt kann man sich das überhaupt nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Wie soll die KI dabei helfen, eine Gefährdungsanalyse sozusagen zu erschaffen für häusliche Gewalt? Wie funktioniert das?
[00:02:41.900] - Ba-Linh Le
Dafür muss ich etwas ein bisschen weiter zurückgehen. Was ist überhaupt eine Gefährdungsanalyse? Eine Gefährdungsanalyse ist ein Prozedere, nach dem bestimmt wird, ob hier beispielsweise eher höhere Risiken oder niedrige Risiken vorliegen. Und das ist sehr wichtig, weil wir dann demzufolge natürlich die auch die Unterstützung bestimmen müssen. Je höher das Risiko, desto mehr Unterstützung, also beispielsweise Fallkonferenz, elektronische Fußfessel, Gefährderansprache oder vielleicht sogar Untersuchungshaft. Und je niedriger das Risiko, desto weniger Unterstützung bekommt die Person. Genau, hier geht es also darum, bedarfsgerecht einfach Unterstützung zu verteilen und gemeinsam einen Plan aufzubauen, der bestmöglichst die betroffene Person hilft. Und KI ist hier wichtig, weil KI hier das Potenzial hat, präziser zu sein oder die Gefährdungsanalyse präziser zu machen, denn das Risiko bleibt immer, dass entweder das Risiko überschätzt wird und man hier Ressourcen verteilt, die gar nicht notwendig sind, oder, schlimmer noch, unterschätzt wird. Das heißt, hier bekommen Personen nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Und das Schlimmste, was hier passieren kann, ist tatsächlich ein Femizid beispielsweise.
[00:03:54.860] - Nadia Kailouli
Vielleicht fangen wir erst mal bei der Anwendung der App an und dann bei der Entwicklung. Damit wir erst mal verstehen, was macht sie, und dann kommen wir dahin: Wie hast du sie überhaupt entwickelt? Es ist ja keine App, ne?
[00:04:06.030] - Ba-Linh Le
Doch, das ist tatsächlich eine App.
[00:04:07.140] - Nadia Kailouli
Man kann es als App. Okay, gut. Dann sind wir da technisch sauber. Also Lizzy ist eine App. Wie wird diese angewendet? Oder fangen wir mal da an, wo wird sie gerade schon angewendet?
[00:04:16.040] - Ba-Linh Le
Derzeit wird sie bereits bei Frauenberatungsstellen, Interventionsstellen, Koodinierungsstellen, Clearingstellen, Frauenhäusern und Schutzunterkünften angewendet von Sozialarbeiter:innen in zehn Bundesländern. Und normalerweise im irgendwann, im Kontext des Beratungsgesprächs, kommt dann die Gefährdungsanalyse auf, um zu schauen, wie gefährlich ist eigentlich die Situation, wie viel Intervention braucht es, oder kann man hier erst mal nur niedrigschwellig anfangen, um langfristig dafür zu sorgen, dass die betroffene Person hier sicher raus kann?
[00:04:47.560] - Nadia Kailouli
Sie wird schon an verschiedenen Einrichtungen angewendet, die sich um Frauen, die Gewalt erlebt haben, häusliche Gewalt erlebt haben, hinwenden können, die sich sozusagen um diese Frauen kümmern. Wie wenden sie denn diese App dann an? Weil Lizzy ist ja keine App, die von den Betroffenen selbst angewendet wird, sondern eben von denen, die sich um die Betroffenen kümmern, richtig?
[00:05:08.460] - Ba-Linh Le
Genau. Die würden dann irgendwann im Beratungskontext dann die App öffnen, entweder auf dem Handy oder auf dem Tablet oder auf dem Laptop. Und es handelt sich tatsächlich dabei einfach nur um eine Webseite, die man dann aufruft und wo man sich dann einloggt. Wir hatten am Anfang uns auch überlegt, tatsächlich eine Software aufzusetzen, die man dann installieren muss und dann relativ schnell festgestellt, dass sehr viele Beratungsstellen noch sehr alte Betriebssysteme funktionieren und es ist einfach sehr schwierig, eine App aufzubauen, die für Windows 7 und Windows 11 und Windows 95 und Vista dann noch funktioniert. Aber einen Browser hat jeder. Deswegen haben wir uns dann für eine Website oder eine Web-App entschieden. Da loggt man sich dann ein und dann klickt man einfach auf „Neue Gefährdungsanalyse". Dann wird ein Fragebogen oder ein neues Fenster öffnet sich mit einem Fragebogen und da geht man einfach dann gemeinsam die Fragen durch. Und am Ende, wenn man den Fragebogen abgeschlossen hat, gibt es dann eine direkte Auswertung, eine automatisierte Auswertung, die dann aufzeigt: Wie hoch sind eigentlich die Risiken für akute körperliche oder sexuelle, digitale, finanzielle und emotionale Gewalt? Wie hoch sind die Risiken für Kinder, entweder emotional, körperlich oder im Sinne der Vernachlässigung? Und wie werden sich diese Risiken voraussichtlich in den nächsten 90 Tagen entwickeln.
[00:06:33.560] - Nadia Kailouli
Was sind das für Fragen, die dann diese Antworten liefern können, wie hoch Risiken sind?
[00:06:40.640] - Ba-Linh Le
Das sind ganz verschiedene Fragen. Wir versuchen tatsächlich, so weit wie möglich das gesamte Spektrum an Gewalt abzudecken. Das heißt, wir schauen uns nicht nur statische Sachen an, wie zum Beispiel Schwangerschaft oder frühere Häusliche Gewalt. Wir schauen uns auch an, was das für frühere Häusliche Gewalt war. War das emotional? Wurde man angeschrien? War das digital? Das heißt, Internetbrowserverlauf wurde überwacht oder war das körperlich und wurde die Person beispielsweise bereits geschubst in der Vergangenheit?
[00:07:10.120] - Nadia Kailouli
Also das sind dann so Fragen. Also die Fragen, die die App-Nutzerin, die sich kümmert, stellt, ist zum Beispiel: „Haben Sie in der Vergangenheit schon Gewalt erlebt? Was für eine Gewalt haben Sie erlebt? Was wurde gemacht?" Oder hast du konkrete Fragen, die diese App stellt?
[00:07:25.540] - Ba-Linh Le
Wir sind tatsächlich, versuchen so möglichst spezifisch oder konkret wie möglich zu sein in unseren Fragestellungen. Das heißt, es wird niemals plakativ gefragt: „Haben Sie schon mal häusliche Gewalt erlebt?" Sondern immer ganz bestimmt: „Wie oft ist das Folgende in dem letzten Jahr passiert: Sie wurden geschubst, gestoßen, gepackt?" Oder: „Ihr Partner hat ihren Internetbrowserverlauf, Ihre Anrufe, ihre sozialen Netzwerke überprüft." Oder: „Er hat schon einmal einer Ihnen nahestehenden Person mit körperlicher Gewalt gedroht, entweder über Fäuste oder Schusswaffen oder andere Gegenstände."
[00:08:02.230] - Nadia Kailouli
Und wie seid ihr auf diese Fragen gekommen? Warum habt ihr genau diese Fragen dann, die dann dabei helfen sollen, eine Gefährdungsanalyse zu ermitteln, erstellt? Wie seid ihr auf diese Fragen gekommen?
[00:08:13.840] - Ba-Linh Le
Das ist der Part, wo dann die künstlich Intelligenz reinkommt. Also das Standardprozedere in der Forschung ist es, erst mal Literaturrecherche zu machen und zu gucken, was von Relevanz sein könnte für die Prognose von häuslicher Gewalt. Dann geht man im zweiten Schritt zum Filtern, also von den vielen, vielen Sachen, die man gefunden hat, welche werden jetzt ausgewählt für die weitere Entwicklung. Im dritten Schritt geht es dann darum, tatsächlich zu testen. Die Risikofaktoren, die wir ausgewählt haben, funktionieren sie tatsächlich in der Prognose von häuslicher Gewalt und das kann man entweder in einer historischen Studie machen. Das heißt, beispielsweise vor 20 Jahren gab es bereits diese Daten und all diese Risikofaktoren, die ich habe, die wurden bereits abgefragt und dann kann ich schauen, ob sich da natürlich die Risiken für die betroffenen Personen realisiert haben oder nicht. Oder ich mache das prospektiv. Das heißt, ich frage das heute ab und weiß aber nicht, wie das Risiko natürlich in den nächsten 90 Tagen ausgeht. Ich werde das einfach abwarten und dann schauen, ob es funktioniert. Das ist der dritte Schritt. Das heißt, ich teste erst mal das, was ich habe und wenn es gut läuft, geht es dann zum vierten Schritt und der vierte Schritt ist dann noch mal testen oder das validieren an einer neuen Stichprobe. Ich hatte jetzt in dem dritten Schritt meine eigene Stichprobe und im vierten Schritt eine neue Stichprobe. Und wenn alles klappt läuft, dann funktioniert meine Gefährdungsanalyse gleich gut bei beiden Stichproben. Also wir sind ungefähr bei vielleicht 70% bei beiden Schritten.
[00:09:43.460] - Nadia Kailouli
Okay, jetzt ist es natürlich für Nicht-Techies, sage ich jetzt mal, total komplex zu verstehen. Wie soll eine KI mir dabei helfen, dass man eine Gefährdungsanalyse schaffen kann, anhand von persönlichen Gesprächen und Fragen einer betroffenen Frau? De facto ist ja einfach nur wichtig, es scheint zu funktionieren. Was funktioniert denn daran so gut? Also was ist das Ergebnis von Lizzy? Und wo hilft Lizzy, also diese App, zu sagen: „Oha, diese Frau läuft Gefahr, in naher Zukunft schwere häusliche Gewalt zum Beispiel zu erleben?"
[00:10:16.520] - Ba-Linh Le
Wo Lizzy beziehungsweise auch die künstliche Intelligenz tatsächlich einen riesigen Unterschied gemacht hat, ist in der Präzision. Das heißt, wir können natürlich mit konventionellen statistischen Methoden herausfinden, was hier jetzt eine hohe Prognosekraft hat oder nicht, aber was KI machen kann, darüber hinaus, ist es, bestimmte Muster zu identifizieren, die wir davor noch nicht wirklich gesehen haben. Das ist tatsächlich ein großer Gewinn aus der Forschung, die wir mit Fördergeldern des Bundeswirtschaftsministeriums machen konnten, ist, herauszufinden, dass Gewalt eigentlich sehr selten isoliert ist oder auftritt. Das heißt, das ist eigentlich immer ein Muster und Geflecht von verschiedenen Gewaltformen. Also es ist nicht nur immer körperlich, sondern meistens körperlich, emotional, digital oder digital, sexuell, emotional und finanziell und so weiter. Und wo KI uns dann geholfen hat, ist zu versuchen, dieses Muster zu isolieren. Das heißt, können wir beispielsweise dieses Muster isolieren, um körperliche Gewalt vorherzusagen, ohne dass wir körperliche Gewalt abfragen müssen, weil das ist tatsächlich etwas, was bei der Risikobewertung sehr schwierig ist. Man möchte nicht zwangsläufig direkt körperliche Gewalt offenbaren, insbesondere weil natürlich die Polizei nach dem Legalitätsprinzip gezwungen wäre, hier zu ermitteln. Und in den meisten Fällen würden wahrscheinlich viele Frauen das einfach für sich behalten, weil sie nicht wissen, was dann passiert. Vielleicht wird dann etwas gestartet, wofür ich noch gar nicht bereit bin. Aber dennoch ist es wichtig herauszufinden, wie groß diese Risiken ist. Was wir uns bei Frontline gefragt haben, ist, können wir das Risiko von körperlicher Gewalt einschätzen, ohne dass wir jetzt fragen müssen: Wurde sie geschlagen oder wurde sie gewürgt oder anderes? Und das Gleiche auch für sexuelle Gewalt. Also Lizzy soll tatsächlich oder ist relativ niedrigschwellig aufgesetzt.
[00:12:04.540] - Nadia Kailouli
Aber ist damit die Fehlerquote nicht wahnsinnig groß? Weil wenn man nicht gezielt fragt, was denn passiert ist, aber dann eine Gefährdungsanalyse bekommt, läuft man nicht Gefahr, etwas voraus zu sagen oder jemandem etwas, weiß ich nicht, anzuhängen – klingt jetzt so doof – aber eine Analyse zu bringen, die vielleicht so gar nicht stattfindet? Also wenn man gar nicht weiß, was ist da eigentlich passiert?
[00:12:28.000] - Ba-Linh Le
Die Fehlerquote ist tatsächlich ziemlich gut. Wir haben ja auch… Also das, was wir in Deutschland derzeit verwenden, sind Gefährdungsanalysen aus Nordamerika. Wir haben Danger Assessment aus dem Jahr 1986 in den USA entwickelt und wir haben ODARA aus dem Jahr 96 bis 2001 aus Kanada entwickelt. Das sind die Gefährdungsanalysen, die wir derzeit in Deutschland verwenden und auf deren Basis wir auch entscheiden: Ist das ein Hochrisikofall oder nicht? Und die Fehlerquoten dort sind weit aus größer. Da sprechen wir von einer Trefferquote von ungefähr 54 bis 58%, was natürlich im Umkehrschluss bedeutet, dass fast jeder zweite Fall eigentlich falsch eingeschätzt wird. Bei Lizzy ist es tatsächlich bei einer Trefferquote von 80%, weil die Fehlerquote ist hier weit aus geringer und das ist das, wo KI tatsächlich sehr bei helfen konnte.
[00:13:21.200] - Nadia Kailouli
Okay, das heißt, die Trefferquote von 80%. Das heißt, es gibt Fälle, wo Lizzy, also die KI, sagen konnte: „Hey, Achtung Gefahr!" Und das stimmte dann. Aber wie konntet ihr herausfinden, dass das stimmt?
[00:13:35.160] - Ba-Linh Le
Genau, da sind wir gerade bei den ursprünglichen Fragen: Wie werden eigentlich Gefährdungsanalyse entwickelt? Wir konnten auf keine historischen Datensätze zurückgreifen, weil es einfach nicht oft emotionale Gewalt oder finanzielle Gewalt oder digitale Gewalt abgefragt wurde. Das sind aber Risikofaktoren, die einfach sehr stark mit körperlicher oder sexueller Gewalt in Zusammenhang stehen. Und was wir deswegen machen mussten, ist es, eine prospektive Studie aufzusetzen. Das heißt, wir haben im Jahr 2023 im Sommer das bei 7.400 Personen abgefragt und dann drei Monate gewartet und da diese Person wieder dazu befragt. Und anhand dieser Studie haben wir dann festgestellt und geschaut, welche Risikofaktoren funktionieren hier und welche nicht, die wir zum Zeitpunkt T1 oder Time 1 abgefragt haben und zum Zeitpunkt T2, also Zeitpunkt 2, auch tatsächlich zu dieser Materialisierung oder Realisierung dieser Risiken geführt hat.
[00:14:35.340] - Nadia Kailouli
Jetzt muss ich mal ganz doof nachfragen, damit wir das auch verstehen. Das heißt, es gab sozusagen Fälle, die haben berichtet: „Ey, da zu Hause, keine Ahnung was, mein Partner macht dies macht das." Die habt ihr befragt und drei Monate später ist dann wirklich was passiert und diese Frau hat dann erzählt: „Ja, es ist dann passiert, wieder passiert, das und das und das ist passiert." Keine Ahnung. Und damit habt ihr sozusagen die KI gefüttert mit diesen Analysen Also habt ihr halt sozusagen die Beweise abgeholt. Irgendwie klingt das ja auch ein bisschen schräg, ne? Weil wenn man hört, ihr habt eine Studie daraus gemacht, dass Frauen Gewalt erlebt haben und ihr habt diese Frau ja schon… Also ihr habt sie getroffen und dann habt ihr sie wieder getroffen und dann ist ihr Gewalt widerfahren und dann macht ihr daraus eine Analyse. Das klingt irgendwie so ein bisschen schräg, finde ich, weil es so heftig ist. Weißt du, wie ich meine? So nach dem Motto: „Wieso konntet ihr die denn nicht direkt da rausholen? Also nicht, dass das jetzt dein Job ist als KI-Tool Entwicklerin, aber du hast ja mit Partnerinnen und Partnern aus, weiß ich nicht, Frauenhäusern, Einrichtungen, Hilfeorganisationen gesprochen und irgendwie ist das ja schon krass, oder?
[00:15:41.520] - Ba-Linh Le
Das ist tatsächlich das, was bei der Forschung schwierig ist. Wenn man so etwas sieht und hört und wenn man die Zahlen und Datenpunkte sieht, versuchen nicht zu intervenieren, weil das natürlich die Forschung behindert. Aber natürlich, hinter jeder Datenpunkt stehen natürlich auch viele Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben. Und wir haben natürlich bei jeder oder nach jeder Befragung immer Unterstützungsangebote dort gelassen und den Hinweis darauf, dass sie nicht allein sind, dass sie das nicht verdienen, mit der Hoffnung, dass sie natürlich dann darauf zugehen. Aber letztendlich wurde das so aufgebaut oder die Datenstichprobe so aufgebaut, dass natürlich diese Personen anonymisiert sind. Sonst hätten sie wahrscheinlich gar nicht in erster Linie diese Daten mit uns geteilt und demzufolge wissen wir auch nicht, wer sie sind und sie wissen auch nicht, wer wir sind.
[00:16:25.930] - Nadia Kailouli
Okay, verstehe. Jetzt gehen wir noch mal dahin zu dem Tool an sich, wo man ja sagt, es gibt ja etliche Einrichtungen schon, die damit arbeiten und das sehr erfolgreich. Was bedeutet erfolgreich? Also was passiert, wenn Lizzy ein Alarm gibt? Was ist dann die Aufgabe dieser Einrichtung danach?
[00:16:45.440] - Ba-Linh Le
Erfolgreich bedeutet, dass hier jemand in ihren eigenen Erfahrungen von häuslicher Gewalt gesehen und anerkannt wird, dass das nicht heruntergespielt wird, dass das vollumfänglich nicht nur in körperlicher, sondern auch in nicht körperliche Gewalt gesehen wird. Und idealerweise führt das dann auch dazu, dass wenn das ein Hochrisikofall ist und dieses Risiko sehr hoch ist, dass hier nochmal körperliche oder sexuelle Gewalt auftaucht, die potenziell sehr, sehr schlimm sein kann, diese Person, die Fachkraft das auch als solches einschätzt und dann im besten Falle eine Fallkonferenz einberufen wird. Und die Fallkonferenz ist ein Prinzip Rundertisch, wo dann Staatsanwaltschaft, Polizei, Sozialarbeiter:innen, Jugendamt, Jobcenter und spezialisierte Dienste bieten, wie zum Beispiel Suchtberatung oder auch der Weiße Ring, dann an einem Tisch zusammenkommen und koordiniert vorgehen und entscheiden, wie können wir diese Personen am besten unterstützen? Und das ist im Vergleich beispielsweise zu bilateral, wo dann beispielsweise die betroffene Person sich selbst organisieren müsste und die Initiative ergreifen müsste: „Okay, ich muss jetzt beim Jobcenter das organisieren, dann müsste ich beim Frauenhaus anrufen und dann bei der Frauenberatungsstelle versuchen, die psychosoziale Unterstützung für den Rechtstermin zu organisieren." Und das ist weiter der Status quo.
[00:18:08.780] - Nadia Kailouli
Okay, aber bräuchte es nicht vor allem erst mal das Go der betroffenen Frau für das Zusammenkommen der verschiedenen Instanzen? Also die Frau muss dem ja erst mal zustimmen, oder? Dass die Staatsanwaltschaft, die Polizei, der Weiße Ring, ich weiß nicht was, sich mit diesem Fall beschäftigen darf, oder?
[00:18:26.200] - Ba-Linh Le
Genau, das ist immer die Grundbedingung.
[00:18:28.440] - Nadia Kailouli
Okay. Das heißt, ich als als Organisation, die sich um betroffene Frauen kümmert. Wenn ich mit einer Frau gesprochen habe, ich muss das jetzt mal so ganz plastisch machen, damit man das gut versteht. Ich habe also sozusagen mein KI-Tool neben mir liegen, stelle die Fragen, trage die da ein, die Antworten und und und. Daraus ergibt sich dann eine Analyse. Wenn diese Analyse mir dann irgendwann sagt: „Die Gefahr, dass Frau XY in den nächsten drei bis fünf Wochen wieder extremer, häuslicher, sexualisierter oder was auch immer Gewalt ausgesetzt wird, ist hoch", dann kontaktiere ich sozusagen die betroffene Frau und sage: „Wir haben hier…" Oder kriegt man das sofort? Ist diese Analyse…?
[00:19:07.700] - Ba-Linh Le
Das kriegt man sofort.
[00:19:08.240] - Nadia Kailouli
Ist sofort nach dem Gespräch. Also es ist nicht so, dass man das irgendwie dann ausrechnet, sondern nach diesem Gespräch ist sofort die Analyse da?
[00:19:15.820] - Ba-Linh Le
Also idealerweise passiert das bereits mitten im Gespräch. Genau, das heißt, man würde wahrscheinlich erst mal ankommen, erst mal ein bisschen erzählen, damit man sich auch natürlich wohlfühlt, damit auch eine Vertrauensbasis sich entwickelt. Und irgendwann dann kommt die Gefährdungsanalyse ins Spiel, einfach nur, um zukünftig einen Sicherheitsplan aufzusetzen und da erst mal ein besseres Bild davon zu haben, wie groß eigentlich die Erfahrung von häuslicher Gewalt ist, wie stark ausgeprägt die Kontrolle ist, die Manipulation, die Isolation. Das hilft natürlich auch der Fachkraft, von der anderen Seite zu schauen: „Okay, muss ich hier vielleicht die Geräte durchleuchten? Braucht sie hier vielleicht einen Therapieplatz irgendwo? Oder ist es direkt ein Frauenhausplatz?" Das heißt, sie muss ihren Ort oder ihre Wohnung oder ihr Haus verlassen. Und für diesen Zweck wird dann die Gefährdungsanalyse aufgesetzt. Das ist tatsächlich wirklich nur ein Fragebogen. Ob das das Lizzy ist oder ODARA oder Danger Assessment, das ist immer ein Fragebogen, wo man gemeinsam durchgeht. Bei ODARA und Danger Assessment muss man das dann manuell berechnen. Also es gibt dann ein Punktesystem und eine Referenztabelle, wo dann steht beispielsweise: „Zwei bis drei Punkte: Risiko liegt bei 20%", oder, „Vier bis fünf Punkte: Risiko liegt bei 40%" und so weiter. Und dann hätte man eben nur diese eine Prozentzahl. Bei Lizzy ist es so, dass wenn man den Fragebogen ausgefüllt hat, man mehrere Prozentzahlen hat, also das Risiko beispielsweise von derzeitiger oder zukünftiger körperlicher Gewalt, von sexualisierter Gewalt, finanzieller, emotionaler und digitaler Gewalt, sowie auch Risiken für Kinder. Und das würde man dann direkt im Gespräch besprechen und schauen beispielsweise: „Okay, wir sehen hier, dass beispielsweise sehr viel digitale Gewalt vorhanden ist und stimmt das beispielsweise mit ihrem eigenen Empfinden überein?" Unser primäres Ziel als Wissenschaftler:innen ist dafür zu sorgen, dass Lizzy möglichst präzise ist, weil je akkurater das Tool, desto mehr Personen bekommen natürlich auch die Unterstützung, die sie brauchen. Was wir uns nicht vorgestellt hatten oder was wir nicht vordergründig im Kopf hatten, ist ein Nebeneffekt, und zwar, dass es betroffenen Frauen hilft, ihre eigenen Risiken anzuerkennen. Uns wird oft gesagt, dass Frauen am Anfang ihre eigene Gewalterfahrung bagatellisieren und herunterspielen und dass sie erst so wirklich begreifen, wie viele der Erfahrungen, die sie gemacht haben, eigentlich Gewalt ist und wie hoch das Risiko ist, dass das noch mal passiert. Nicht in den nächsten fünf Jahren oder in den nächsten zwölf Monaten, weil das natürlich sehr lange Zeiträume sind, sondern ganz direkt innerhalb der nächsten 90 Tage.
[00:21:57.780] - Nadia Kailouli
Warum sind diese 90 Tage so ausschlaggebend?
[00:22:00.320] - Ba-Linh Le
Weil wir nicht die Ressourcen haben, für ein Jahr oder fünf Jahre zu planen. Zum einen, zum anderen, weil je länger man wartet mit irgendwelchen Taten, desto eher verliert natürlich auch die Betroffene das Vertrauen in das System. Und 90 Tage ist tatsächlich aus anderen Forschungen entsprungen, die uns gezeigt haben, dass Betroffene innerhalb der ersten 90 bis 100 Tage am ehesten sich Hilfe suchen. Und diejenigen, die sich früh Hilfe gesucht haben, haben auch eine kürzere Länge ihrer Missbrauchsbeziehungen gehabt. Das heißt, frühe Intervention hilft oder ist am effektivsten, um nachhaltig den Gewaltkreislauf zu durchbrechen.
[00:22:40.600] - Nadia Kailouli
Wie reagieren die Frauen darauf, wenn sie sozusagen das Ergebnis bekommen, wenn Lizzy sagt, die Gefahr ist hier hoch, dass sie mit dem, was sie jetzt geschildert haben und nach diesen Berechnungen sie in den nächsten 90 Tagen wahrscheinlich, mit hoher Wahrscheinlichkeit, wieder eine Form von Gewalt erleben. Wie reagieren die Frauen darauf? Wie ernst nehmen die das und wie sehr lassen sie sich dann helfen?
[00:23:07.620] - Ba-Linh Le
Ich wünschte, ich könnte dir das sagen, aber ich habe tatsächlich nicht selbst mit Betroffenen direkt zu tun, sondern das sind leider die Fachkräfte, die das machen.
[00:23:19.300] - Nadia Kailouli
Okay. Wieso hast du dieses Tool überhaupt entwickelt? Wie bist du auf die Idee gekommen? Man könnte auch meinen, na ja, was soll denn das Ba-Linh machen? Das ist doch Aufgabe der Staatsanwaltschaft oder eben dieser Organisation, die sich eh schon kümmern, sich vielleicht damit auch auseinanderzusetzen, welche Hilfsmittel man braucht, Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen. Wie bist du darauf gekommen, da ein Tool zu entwickeln?
[00:23:44.640] - Ba-Linh Le
Das ist leider meine eigenen Erfahrungen von häuslicher Gewalt gewesen und ich wusste eigentlich immer, dass ich in diesem Bereich irgendwas machen will. Ich wusste nur nicht, wie und das hat sich dann im Kontext meines Masterstudiums ergeben, dass ich zu häuslicher Gewalt für meine Maßarbeit geforscht habe mit einem Kommilitonen und der mich dann am Ende gefragt hat: „Willst du ein Start-up entwickeln, was sich genau das anschaut?" Und zwar häusliche Gewalt, effektive Interventionen und Möglichkeiten, häusliche Gewalt früher zu beenden. Und das war so die Inspiration und die Motivation dahinter. Und ich würde mir tatsächlich wünschen, dass die Staatsanwaltschaft und die Regierung da etwas macht, aber es gibt mittlerweile ein Tool, das im Strafjustizbereich entwickelt wurde. Und dann gibt es noch ein anderes Tool, das auch aus dem privaten Bereich entwickelt wurde. Also kann man da auf jeden Fall noch viel aufholen.
[00:24:43.840] - Nadia Kailouli
Als du gesagt hast: „Okay", und dein Kommilitone gesagt hat: „Hey, wir können doch da was entwickeln", dann ist das ja erst mal nett und schön und man hat Ideen und inspiriert und hat da vielleicht auch schon was entwickelt. Aber der Schritt, dass es dann wirklich auch unterstützt wird, mitfinanziert wird und so, ist ja noch mal ein anderer Schritt. Wie sind Menschen darauf eingegangen, als du dieses Projekt vorgestellt hast? Also wie hast du Unterstützerinnen und Unterstützer für dieses Projekt gefunden?
[00:25:11.020] - Ba-Linh Le
Wir sind erst mal tatsächlich ziemlich pragmatisch daran gegangen und haben uns erst mal nur Gründerförderung angeschaut, weil das ist ja im Prinzip das, was sie machen wollen, irgendwas gründen, was sich dann dem Thema häusliche Gewalt widmen kann. Und da war Berlin ein super Standort, weil es gab das Berliner Start-up-Stipendium und es gab das exist-Gründerstipendium und es gab noch andere Initiativen, wo man sich drauf bewerben konnte. Und diese Initiativen und auch die Unterstützung der jeweiligen Universitäten, die war super hilfreich. Das war die Humboldt-Universität, das auch immer in Alma Marta und auf die ESCP, wo wir einmal für das Berliner Start-up-Stipendium waren und andererseits für das exist-Gründerstipendium. Was natürlich viele etwas gewundert hat, ist, dass wir im Bereich häusliche Gewalt agieren. Ich glaube, das hat viele verwundert, weil sie sich nicht gedacht hatten, wie man ein Unternehmen in diesem Bereich gründen kann. Und wir werden tatsächlich oft gefragt auch, weshalb wir nicht einfach eine e.Vv sind. Und der Grund, weshalb wir keine e.V. Sind, ist, weil wir bereits in vergangenen Projekten gemerkt haben, dass projektbasierte Finanzierung einfach der Tod der sozialen Innovation ist. Man bekommt Förderung, ja, aber eben nur genug Förderung, um einen Prototypen zu erstellen. Und dann will aber niemand diesen Prototypen benutzen, weil das natürlich nur ein Prototyp ist. Dann bewirbt man sich für Anschlussförderung., diese bekommt man nicht, weil es gibt ja bereits dieses Produkt. Und das ist so das Schwierige bei irgendwelchen jeglichen Innovationen im Bereich häusliche Gewalt oder der Gewaltforschung, ist, dass es einfach an Förderung mangelt und es sehr schwierig ist, einfach Forschung nachhaltig zu betreiben. Und das versuchen wir bei Frontline anders zu machen. Wir haben uns als Unternehmen, als Sozialunternehmen aufgestellt, mit dem Ziel, dass Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern und soziale Organisationen nicht dafür zahlen und die versuchen, das dann über die Polizei und Justizbehörden zu machen, weil häusliche Gewalt keine Frauensache ist, sondern ein Problem der inneren Sicherheit.
[00:27:20.020] - Nadia Kailouli
Was heißt das, ihr versucht, das über die zu machen, dass die das sozusagen finanzieren? Oder was bedeutet, wir versuchen das über…
[00:27:25.500] - Ba-Linh Le
Genau.
[00:27:26.220] - Nadia Kailouli
Also nicht, dass die Frauenhäuser mit den eh schon schwachen Mitteln, die sie bekommen, dann auch noch irgendwie diese Datenanalysen irgendwie bezahlen müssen, sondern dass die Justizbehörden und die ja, die Polizeibehörden, dass da eher das Geld dann sozusagen kommt, um das zu unterstützen. Verstehe. Jetzt du als Datenwissenschaftlerin, warum sind Daten am Ende deiner Meinung nach der Schlüssel, um Frauen vor Geweiht zu schützen?
[00:27:51.640] - Ba-Linh Le
Als Datenwissenschaftlerin bin ich natürlich jetzt extrem biased, aber ich bin der Meinung, dass wir nicht viel machen können oder nicht viel evidenzbasierte Forschung machen können ohne Daten. Wir wissen nicht, wie schlimm etwas ist, wenn wir nicht wissen, wie groß es ist. Wir wissen nicht, wie viel schlimmer es werden kann, wenn wir nicht wissen, wie die Datengrundlage ist. Wir stochern eigentlich im Dunkeln herum, wenn wir nicht wissen, wenn wir keine Daten haben. Und ich bin sehr froh, dass es jetzt mittlerweile sehr viele Projekte gibt, die versuchen, das Dunkelfeld ein bisschen heller zu machen und mehr Datengrundlagen zu schaffen, weil die natürlich einerseits uns helfen, zu entscheiden, wo es zukünftig weitergeht und wo es zukünftig auch Potenzial gibt, hier das größer auszubauen. Und andererseits ist es natürlich ein ziemlich hilfreiches Mittel, um dafür öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu machen oder beispielsweise auch bei Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen, den Fall aufzubauen.
[00:28:50.580] - Nadia Kailouli
Jetzt fragt man sich natürlich schon, warum muss es diese Einrichtung dazwischen geben? Warum kann ich als Frau diese App nicht einfach runterladen und mir selber meine Analyse schaffen? Sie ist ja nicht für den privaten Gebrauch gedacht, richtig?
[00:29:05.620] - Ba-Linh Le
Genau. Uns ging es erst mal darum, primär dafür zu sorgen, dass Risikoanalyseinstrumente oder Gefährdungsanalyseinstrumente als solches etabliert werden. Also eigentlich müsste das bereits etabliert sein laut Artikel 51 der Istanbul-Konvention und Artikel 16 und 17 der EU-Gewaltsschutzrichtlinie. Aber es gibt leider noch sehr viele Bundesländer und auch Orte, wo Gefährdungsanalyseinstrumente nicht verwendet werden. Das bedeutet, dass man dem Gutdünken oder der Expertise oder dem Bauchgefühl der Fachkraft im Prinzip ausgeliefert ist. Das kann natürlich eine sehr empathische Person oder eine extrem gut ausgelbildete Person sein, oder ist es jemand, der sich nicht so doll auskennt und auch nicht so viele Erfahrungswerte hat. Und das darf eigentlich und soll eigentlich nicht sein. Rechtlich sind wir verpflichtet, Gefährdungsanalyseinstrumente zu verwenden. Und mit Lizzy versuchen wir erst mal diese Praktik aufzubauen und dafür zu sorgen, dass Gewaltsschutz strukturiert ist. Und das ist es leider tatsächlich sehr oft nicht. Das ist wie im Wilden Westen und man schaut: Ist das jetzt hohes Risiko? Ist das eher weniger hohes Risiko? Machen wir die Gefährderansprache oder lassen wir das erst mal? Oder lassen wir einfach ein Pamphlet dort, wo die Unterstützungsangebote stehen? Das ist tatsächlich sehr lax in der Handhabung und dabei haben wir eigentlich eine Studie sogar, aus dem Polizeipräsidium Rheinland-Pfalz, die aufzeigt, strukturiertes Hochrisikomanagement ist extrem effektiv. Also das kann das Risiko, dass eine Frau erneut Gewalt durch ihren Mann erleidet, halbieren. Und das hat es sogar von 42%, glaube ich, ohne strukturiertes Hochrisikomanagement, auf 20%. Und das ist ein extrem starker Beweis dafür, runter von Gewalt in fast jedem zweiten Fall zu noch in fast jedem fünften Fall. Genau, das war so der Gedanke dabei. Erst mal Risikoanalyseinstrumente etablieren und der zweite Gedanke dahinter war auch, dass wir irgendwie Anschluss an das Unterstützungssystem gewährleisten wollten, dass wenn Personen das ausfüllen, sie jetzt nicht einfach irgendwie zu Hause rumsetzen, sondern eigentlich direkt gegenüber einer Person, die sie dann an die Hand nehmen kann und mit ihr dann konkrete Maßnahmen und Interventionen besprechen kann, die dann auch auf die Gewaltrisiken eingehen.
[00:31:27.740] - Nadia Kailouli
Habt ihr Feedback denn bekommen von Leuten? Weil wenn du das jetzt so beschreibst, dann denke ich, dann leuchten mir so zwei Sachen so sehr konkret ein. Auf der einen Seite gibt ihr der Frau, die betroffen ist und ihre Geschichte sozusagen anhand dieser Fragen erzählt, den sicheren Raum, dass hier eine auf datenbasierte Analyse stattfindet, die eine Gefährdungsanalyse eben abbildet, nach dem Motto: „Wir müssen Sie darüber informieren, dass es wichtig wäre, sich jetzt zu schützen. Wir würden Ihnen Hilfsangebote an die Seite stellen." So, dass die Frau eben nicht ausgeliefert ist, wie du es gerade sagtest, an eine, die sagt: „Jetzt reden Sie noch mal mit Ihrem Mann. Das klingt ja alles gar nicht so.." Auf der Seite. Auf der anderen Seite gibt ihr ja damit auch den Frauen, die sich um die Betroffenen kümmern, ein Hilfsmittel an die Hand, dass sie selber sich nicht mehr unter Druck gesetzt fühlt: „Welche Analyse gebe ich jetzt hier ab? Also wie stufe ich persönlich das jetzt ein?", sondern: „Ich kann mich an dieses Tool halten und dieses Tool sagt mir dann, was ich machen muss." So nach dem Motto: „ Scheiße, ich habe sie gehen lassen und 90 Tage später steht die hier schon wieder, hat aber jetzt das blaue Auge, was sie vor 90 Tagen noch nicht hatte." Und dann macht man sich wahrscheinlich große Vorwürfe: „Scheiße, habe ich da nicht richtig hingehört? Habe ich nicht die richtigen Fragen gestellt?" Also diese zwei Aspekte kommen hier gerade so in den Sinn. Das ist so für beide Seiten so eine Art Sicherheit ist, sich anzuschauen, mit was für einer Situation haben wir es gerade hier zu tun.
[00:32:51.320] - Ba-Linh Le
Ja, das wird uns tatsächlich oft auch als Feedback gegeben.
[00:32:54.280] - Nadia Kailouli
Siehst du mal. Das heißt, man nimmt das auch ernst und ist dankbar darüber, dass sie mit diesem Tool jetzt arbeiten können?
[00:33:00.040] - Ba-Linh Le
Ja, also viele berichten, dass Lizzy einfach hilft, Sicherheit und Halt zu geben, auf Seiten der Fachkraft und auf Seiten der Betroffenen gesehen zu werden.
[00:33:09.200] - Nadia Kailouli
Ja.
[00:33:09.980] - Ba-Linh Le
Weil die anderen Risikoanalysen, die sind sehr, sehr körperliche Gewalt-lastig oder sexuelle Gewalt-lastig.
[00:33:15.230] - Ba-Linh Le
Absolut. Ba-Linh, ich finde das so ein spannender Einblick, den du uns da heute gegeben hast, als eine, die eben ja nicht auf der betroffenen Arbeit irgendwie sitzt, sondern so rein datenschriftlich sich Gedanken gemacht hat: Wie kann man aber Betroffenen anhand von Daten, die es schon gibt, so unterstützen, dass man ziemlich komplex und schnell erfährt, mit was für einer Situation haben wir es hier zu tun? Es ist ein bisschen komplex, wenn man sich mit dieser KI-Welt und wie Datenanalyse und so funktioniert, irgendwie nicht sofort schnell zu kapieren, finde ich. Aber am Ende zählt ja nur, da gibt es etwas, es ist wissenschaftlich untersucht und es scheint zu funktionieren und die Trefferquote, damit richtig zu liegen, ist auch hoch. Und am Ende, wenn Frauen damit geholfen wird, ist das doch gut, dass es das jetzt gibt. Ba-Linh, ich danke dir sehr, dass du uns heute von dem KI-Tool Lizzy erzählt hast und überhaupt, dass du es halt entwickelt hast. Vielen, vielen Dank, dass du heute unser Gast warst.
[00:34:12.210] - Ba-Linh Le
Vielen, vielen Dank auch für die super gute Zusammenfassung. Ich habe immer so die Neigung, zu wissenschaftlich zu werden und muss dann abgemahnt werden. Ich finde, du hast es sehr gut gemacht.
[00:34:21.410] - Nadia Kailouli
Danke schön. Und das von einer Wissenschaftlerin, das nehme ich gerne an. Danke dir. Bis dann.
[00:34:24.980] - Ba-Linh Le
Bis dann.
[00:34:30.000] - Nadia Kailouli
Ja, Leute, was soll ich sagen? Ich bin schwer beeindruckt. Das muss man einfach ja auch mal sagen. Da kommt so eine Datenwissenschaftlerin, hat selbst etwas in ihrem Leben erlebt, wo sie sagt, das ist echt nicht in Ordnung und macht sich dann Gedanken und entwickelt dieses KI was ja tatsächlich hilft. Und wenn uns jetzt hier Leute zuhören, die vielleicht selbst Lizzy schon anwenden in ihrer Beratungsstelle oder so, schreibt uns gerne einfach mal. Also mich würde das total interessieren, wie die Arbeit mit Lizzy für euch läuft und ich finde es einfach super. Das dass es Lizzy gibt.
[00:35:04.420] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
Gewalt in Partnerschaften beginnt oft lange vor der ersten sichtbaren Eskalation. Die KI-gestützte Anwendung „Lizzy” hilft, diese Risiken frühzeitig zu erkennen – bevor es zu spät ist. Entwickelt hat das System die Datenwissenschaftlerin Ba-Linh Le, sie sagt: „Die KI „Lizzy” wurde entwickelt, um Gewalt besser einschätzen zu können – systematisch, datenbasiert und verständlich. Zwar gibt es bereits viele Instrumente, aber oft sind sie veraltet, nicht einheitlich oder stark vom Bauchgefühl der Anwenderinnen und Anwender abhängig. Wir wollten ein Tool schaffen, das wissenschaftlich fundiert, benutzerfreundlich und vor allem für die Betroffenen nachvollziehbar ist.”
„Lizzy” gibt es in zwei Modellkategorien: Die eine Kategorie an Modellen bewertet das Risiko aktueller oder anhaltender Gewalt, die Genauigkeit liegt bei etwa 98 Prozent. Die andere Kategorie blickt auf die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Gewalt. Hier liegt die Trefferquote bei etwa 80 bis 84 Prozent.
Die App wird bereits in Frauenhäusern und Beratungsstellen eingesetzt - aber kann eine KI wirklich vorhersagen, ob jemand erneut gewalttätig wird? Ba-Linh Le erklärt, wie „Lizzy” funktioniert – und wo die Grenzen liegen.
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Frontline GmbH:
KI-gestütztes Tool zur Risikobewertung
Vortrag Ba-Linh Le bei hertiestiftung:
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Post von „der Freitag” zu Ba-Linh Le und „Lizzy“:
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Wie funktioniert die KI „Lizzy“?
Zum Artikel von „verdi publik Die Mitgliederzeitung”
Die Rolle von Frontline GmbH:
Zum Artikel von „Frauenrat NRW”
„Lizzy“ gegen Femizide:
Zum Artikel auf „der Freitag”
Zahlen zu häuslicher Gewalt:
Zu den Zahlen bei der Frauenhauskoordinierung
