Mein Kind ist 2 Jahre alt und fasst sich gerne im Genitalbereich an – ist das normal, Ulli Freund?
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[00:00:01.760] - Ulli Freund
Wenn die Windel mal ab ist, wollen die meisten Kinder sich in diesem Bereich erkunden, anfassen. Sie spüren, dass sich das gut anfühlt. Sie fassen ja auch sonst den ganzen Körper an. Also die kindliche Sexualität ist ja sehr, sehr ganzheitlich. Die machen erst mal keinen großen Unterschied zwischen Ohrläppchen, Zehen und Penis oder Vulva. Aber wenn sie dann eben da hin fassen können, wenn sie immer nackig sind, dann merken sie schon auch, dass das besonders schöne Gefühle macht. Das ist normal.
[00:00:29.220] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst. Die Frau, die ihr gerade gehört habt, die kennt ihr natürlich schon. Das ist unsere Präventionsexpertin Ulli Freund. Ulli ist Diplompädagogin, Referentin im Team der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung und Spezialistin für alles rund um das Thema Erziehung. Sie kommt ab und zu zu uns, zu einbiszwei und beantwortet dann die Fragen, die ihr uns schickt. Zum Beispiel: „Mein Kind ist zwei Jahre alt und fasst sich gerne im Genitalbereich an. Ist das normal?" Diese und noch mehr Fragen beantwortet uns jetzt Ulli Freund.
[00:01:19.020] - Nadia Kailouli
Ich freue mich so sehr und sage: Herzlich willkommen Ulli Freund. Schön, dass du wieder bei uns bist, bei einbiszwei.
[00:01:23.500] - Ulli Freund
Ja, das freut mich auch.
[00:01:24.840] - Nadia Kailouli
Wie geht es dir?
[00:01:25.760] - Ulli Freund
Prima.
[00:01:26.610] - Nadia Kailouli
Ja?
[00:01:26.610] - Ulli Freund
Ja.
[00:01:27.060] - Nadia Kailouli
Obwohl das Thema, mit dem du dich beschäftigst, ja eigentlich immer nichts ist, wo man sagt: „Oh, das ist so fröhlich", oder? Weil klar, du bist diejenige, die irgendwie Präventionsarbeit leistet. Dir ist das Thema sehr, sehr wichtig, wenn es darum geht, sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen und so. Da denkt man sich, so ein Alltag, der muss doch auch schwer sein, oder?
[00:01:45.680] - Ulli Freund
Ich finde den ja nicht schwer. Ich finde den nicht schwer, weil ich finde immer die Prävention, das ist die Sonnenseite des Themas. Da geht es darum, wie können wir in der Zukunft was verändern? Wie müssen nicht mehr so viele Kinder und Jugendliche betroffen sein? Also welche Schalthebel sind zu stellen? Was können wir auch in der die Pädagogik dafür tun? Und ehrlich gesagt, mich macht das glücklich, das zu tun. Also ich mache dieses Thema seit über 30 Jahren und ich mache das gerne. Es brennt mich nicht aus und ich habe das Gefühl, es bewegt sich was. Und das Tolle ist, in den letzten Jahren hat sich so unendlich viel bewegt. Man denkt ja immer, alles wird schlimmer. Und ich finde überhaupt nicht, dass alles immer schlimmer wird. Also seit 2010, seit diesem Missbrauchskandal, hat sich ja rechtlich auch so wahnsinnig viel zum Positiven verändert. Die meisten sagen: „Ach, das ist alles viel zu wenig." Ich finde, das Glas ist halb voll. Also diese sieben Meilenstiefel, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, das ist beachtlich. Ich habe jetzt gestern eine Studie gesehen zur Frage: Wie hat sich das Recht auf gewaltfreie Erziehung vom Jahr 2000, also 25 Jahre später, wie haben sich denn die Haltungen verändert? Und wenn man sich das anguckt, dann kann man sagen, das ist eine Erfolgsgeschichte. Das war nicht nur Symbolpolitik. Also wenn man sich überlegt, dass heute nur noch 30% der Leute sagen, ein Klaps auf dem Po hat noch keinem Kind geschadet, das waren noch 2005, ich glaube, 75%. Also die Haltungen gehen zurück, die Kinderrechte werden viel ernster genommen. Ich bin total positiv, wie du hörst.
[00:03:08.680] - Nadia Kailouli
Ja, ich finde das gut. Und ich möchte an dieser Stelle dich einmal zitieren, Ulli. Du sagst nämlich: „Sexuelle Gewalt ist ein Angriff auf das Vertrauen von Kindern, auf ihr Vertrauen in die Welt." Was können denn Eltern tun, dass das Vertrauen stark genug ist, dass sich die Kinder ihnen, also ihren Eltern, anvertrauen? Was würdest du sagen? Das ist eine große Frage.
[00:03:27.780] - Ulli Freund
Das ist eine riesen Frage. Zunächst einmal müssen Eltern verstehen, dass manche Kinder andere Vertrauenspersonen wählen und sie müssen es aushalten können, dass sie nicht die Nummer Eins sind, aber nicht, weil das Vertrauen zu ihnen nicht da ist, sondern weil Kinder ihre Eltern nicht traurig machen wollen, weil Kinder Angst haben, dass ihre Eltern zusammenklappen, weil sie sie schonen wollen. Und dann ist es manchmal leichter, die Tante oder den Lehrer oder die Schulsozialarbeiterin einzuweihen, zunächst, bevor man den Eltern das antut. Also das ist so das Erste, was Eltern verstehen müssen. Also nicht gekränkt sein, wenn sie nicht die Nummer Eins sind beim Anvertrauen, sondern eher froh sein: Mein Kind hat Ansprechpersonen gefunden und sich dann bedanken, dass man einbezogen wird. Also so herum wird ein Schuh draus. Was können Eltern selber tun? Mehr tun, als zu sagen: „Zu mir kannst du immer kommen." Das muss man leben. Die Kinder müssen mit ihren kleinen und alltäglichen Anliegen und Belastungen kommen dürfen. Sie müssen merken: Meine Eltern nehmen sich Zeit. Da gibt es Momente im Tag, wo wirklich mir die Aufmerksamkeit geschenkt wird, wo Eltern ihr Ohr mir schenken, mich fragen, wie es mir geht, wo ich eben auch sagen kann, was nicht schön war heute, sodass eben dann auch bei den größeren Belastungen das schon wie trainiert ist. Man kann den Eltern sowieso alles sagen. Die wollen ja immer hören, wie es mir geht. Dann gibt es auch eine Chance, dass Kinder sich ihren Eltern anvertrauen. Es muss geübt sein im Alltag an den ganz alltäglichen kleinen, für uns kleinen und für die Kinder große Belastungen, die ihnen so widerfahren.
[00:05:02.900] - Nadia Kailouli
Und wie können Eltern ihren Kindern erklären, dass sie nicht allen Menschen vertrauen können, ohne diesem Kind so das Urvertrauen zu nehmen? Man soll ja selbstsicher, selbstbewusst durchs Leben gehen und so eine gewisse Offenheit ist ja auch eher positiv als negativ. Aber wie vermittelt man Kindern „Vertrau aber nicht jedem"? Ich habe das auch noch so in den Ohr von meinen Eltern: „Vertraut nicht jedem, ihr dürft nicht jedem vertrauen." Und manchmal hat das natürlich auch einem Angst gemacht.
[00:05:30.680] - Ulli Freund
Ja eben, das schafft Angst.
[00:05:31.540] - Nadia Kailouli
Weil dann steht man irgendwann mal alleine an der Bushaltestelle, weil man den Bus verpasst hat und dann kommt jemand und setzt sich neben dich und man denkt...
[00:05:39.080] - Ulli Freund
Man denkt: „Jetzt geht die Welt unter. Jetzt passiert was ganz Schlimmes. Das ist das, wovon meine Eltern mich immer gewarnt haben." Also ich sage immer, Misstrauen ist das falsche Instrument in der Prävention, Misstrauen zu säen, Kindern Angst zu machen, vor Fremden zu warnen. Vor allem, es wird ja immer nur vor Fremden gewarnt. Es wird ja nicht vor den Menschen gewarnt, denen die Kinder eigentlich vertrauen, denen die Eltern vertrauen, nämlich die, aus deren Kreis die häufigsten Täter und Täterinnen kommen. Also Misstrauen auf keinen Fall säen, aber immer sagen: „Erst mal ist die Welt in Ordnung. Erst mal darfst du auf Menschen zugehen. Erst mal darfst du Menschen vertrauen. Wenn du aber ein komisches Gefühl kriegst, wenn du merkst, hier stimmt was nicht, wenn du merkst, du fühlst dich unwohl, dann hör auf dein Gefühl. Dann wende dich ab, dann komm zu uns, dann antworte eben nicht mehr, dann bleib auch nicht höflich." Man muss nicht immer höflich sein gegenüber Fremden oder Menschen, die einen ansprechen, sondern man kann sich auch zurückziehen zum eigenen Schutz. Also eher so dieses Grundvertrauen unterstützen und sagen: „Aber wenn dein Gefühl dir sagt, hier stimmt was nicht, wenn du ein komisches Gefühl kriegst, wenn du dich nicht mehr wohlfühlst, dann schau, dass du dich gut schützt. Und wenn das nicht gelingt, dann sprich darüber, wenn das nicht gelungen ist."
[00:06:49.950] - Nadia Kailouli
Ich glaube, damit können viele was anfangen. Aber wie du schon gesagt hast, man muss es auch eben ins Leben integrieren. Es ist nicht nur, man sagt es dann einmal: „Vertrau, hör auf dein Gefühl und so", sondern immer wieder in Situationen das Thema mal holen und das in den Alltag, ich will nicht sagen, immer integrieren. Man möchte ja damit nicht jeden Tag konfrontiert werden, aber es ist halt nicht damit getan, dass man es einmal so als Grundregelmanifest auf dem Küchentisch legt.
[00:07:13.580] - Ulli Freund
Nein, das darf keine Theorie bleiben. Das muss im Alltag angewendet werden. Und viele Kinder merken eben, wenn sie von ihren Gefühlen sprechen, die den Eltern nicht so recht sind, dann haben sie auch wenig Raum dafür. Also wenn Kinder zum Beispiel erzählen, wie es in der Schule war und dass da irgendeine Lehrerin oder ein Lehrer sich mit einem Kommentar so und so geäußert hat und dass ihnen das arg war, dann das nicht wegzuwischen und zu sagen: „Die werden schon wissen, was sie tun." Sondern hinzuhören und zu sagen: „Ich kann mir vorstellen, dass sich das blöd für dich angefühlt hat", oder „Das würde ich auch nicht hören wollen. Und was machen wir jetzt damit?" Die meisten Kinder wollen ja nicht, dass damit was gemacht wird, aber den Gefühlen Raum geben und das nicht wegdiskutieren. Und bei den ganz Kleinen, dann fängt es ja damit an, dass man ihnen erzählt: „Das Essen schmeckt, die Schrumpfhose kratzt nicht, die Spritze tut nicht weh." Also wo man immer an den Gefühlen herum manipuliert, weil die folgen: Man weiß nicht, was macht man denn, wenn die Strumpfhose wirklich kratzt, wenn die Spritze wehtut? Ja, was mache ich dann? Es heißt nicht, dass das alles nicht stattfindet. Also das heißt, dass die Impfung nicht ausfällt deswegen. Aber das heißt, wir gehen mit deinen Gefühlen mit und wir schauen, wie du das durchstehst, trotz schlechter Gefühle, trotz Angst.
[00:08:18.500] - Nadia Kailouli
Ich finde es gut, dass du das jetzt so an Beispielen festmachst, die jetzt mit, ich sage mal, Übergriffen und Gewalt erst mal nichts zu tun haben, aber aufgrund dessen man lernt, diese Selbstbestimmung zu haben, auf sein Gefühl zu hören, sich zu trauen, zu sagen: „Aber ich habe Angst davor", oder „Aber es tut mir jetzt weh, und so mit der Strumpfhose, mit der Spritze." Da war jetzt kein Onkel oder kein Lehrer, der übergriffig geworden ist.
[00:08:40.940] - Ulli Freund
Die Präventionsthemen haben erst mal gar nichts mit sexueller Gewalt zu tun. Bei Prävention geht es darum, Kinder, so ab dem Schulalter über sexuellen Missbrauch, aufzuklären, das ist das eine. Aber das andere ist die Haltung: Wie erziehe ich? Und das hat wahnsinnig wenig mit sexueller Gewalt zu tun. Da geht es darum, eben Gefühle ernst zu nehmen, Raum zu geben, Selbstbestimmung zu betonen, aber eben auch zu leben und eben nicht den Kindern zu erzählen: „Deine Strumpfhose kratzt nicht. Die ist neu. Die Spritze tut nicht weh. Habe dich nicht so." Sondern eben dann den Raum zu geben: Wie können wir damit umgehen, dass die kratzt? Vielleicht Wollwaschmittel oder doch eine andere Qualität kaufen oder eben bei der Impfung an das Eis danach denken oder was auch immer, dass man das aushält, mit schlechten Gefühlen zu leben. Schlechte Gefühle heißt nicht, dass wir sie ab jetzt vermeiden können. Das gehört zum Leben. Das Leben ist manchmal sehr bitter, aber die Kinder damit begleiten.
[00:09:31.040] - Nadia Kailouli
Ich finde, das ist ein ganz toller Satz, der nicht nur für Kinder gilt, sondern auch für Erwachsene, liebe Ulli. Jetzt kommen wir dazu, dass wir immer aufrufen dazu, dass wir Fragen bekommen von unseren Zuhörerinnen und Zuhörern, die wir dann an dich richten und uns interessiert, wie du das siehst oder welche Tipps du eventuell geben kannst. Und uns hat eine Frage erreicht zum Thema Übergriffe unter Geschwistern. Und zwar schreibt uns Sonja, sie schreibt: „Ich habe zwei Söhne, die sich ein Zimmer teilen. Der eine ist 13, der andere 10. Mein kleiner Sohn hat letztens erzählt, dass er mitbekommen hat, wie sich sein Bruder im Bett selbstbefriedigt hat. Der Kleine war daraufhin total irritiert und ich bin es jetzt auch. Wie spreche ich mit den beiden darüber? Ich bin etwas überfordert und freue mich über Rat." Von Sonja.
[00:10:18.240] - Ulli Freund
Also zunächst ist es natürlich toll, dass der Kleine so viel Vertrauen hat, dass er darüber spricht und dass er das nicht in sich aufnimmt und verkapselt und dann nicht weiß, was ist diese Sache mit der Selbstbefriedigung und irgendwie merkt, da ist es ihm unangenehm das zu sehen. Er hat einen Raum gefunden, die Mutter hat ihm offenbar zugehört. Und die fragt sich jetzt: „Was kann ich für meinen Kleinen tun? Was muss ich auch für den Großen tun?" Und ich würde denken, für den Großen muss klar sein, ein gemeinsames Zimmer heißt nicht, eine gemeinsame Intimsphäre zu leben, sondern Selbstbefriedigung, sie selbst stimulieren, alle sexuellen Aktivitäten, die Kinder mit sich oder Jugendliche mit sich machen, gehören in einen privaten Raum. Und leider gibt es für diesen 13-Jährigen keinen ganz privaten Raum. Also sein Schlafzimmer, sein Kinderzimmer, Zimmer, das er teilt, ist nicht so privat, dass er das tun könnte, während der Kleine da ist. Dem muss man als Mutter oder als Vater eben sagen: „Was du da machst, ist natürlich in Ordnung. Machen Jugendliche, machen manchmal sogar schon Kinder, machen auch viel Erwachsene. Ist überhaupt nicht schlecht, aber es hat was mit Intimität zu tun. Man darf die Schamgrenzen von anderen nicht verletzen dadurch. Und da musst du dir überlegen: Wann in welchen Momenten ist dir das möglich? Wann ist dein kleiner Bruder nicht im Zimmer? Wann bist du allein im Bad? Such dir Orte, such dir Gelegenheiten, wo dich keiner beobachtet, wo keiner das mitbekommt. Das ist privat." Also Schamgefühl, also Schamgrenzen anderer respektieren, aber auch eigene Schamgefühle entwickeln, zu merken, das ist eine Sache, die geht anderen nichts an, denn Schamgefühl schützt ja auch. Schamgefühl ist ja die Hüterin der Privatsphäre, sagt man. Schamgefühl ist etwas, was dazu führt, dass Menschen in einem sexuellen Bereich nicht einfach beobachten, bewerten, kontrollieren können.
[00:12:02.500] - Nadia Kailouli
Weißt du, was ich gerade denke, dass ich das so gut finde, dass du sagst, okay, es braucht andere Räume für dich, weil es gibt ja jetzt nicht den Raum wahrscheinlich für diese Familie zu sagen: „Na ja, haben wir mal schnell ein zweites Kinderzimmer."
[00:12:14.920] - Ulli Freund
Offenbar nicht. Das wäre das Beste.
[00:12:17.180] - Nadia Kailouli
Das wäre natürlich das Beste, aber wenn wir uns zum Beispiel jetzt angucken, wie viele Familien ja in Wohnsituationen sind, wo die Kinder sich Zimmer teilen, ist das wahrscheinlich, ist Sonja einfach so ein kleines Beispiel für ganz viele. Es ist kein Einzelfall, weil es so viele Familien gibt, wo sich Kinder Zimmer teilen, manchmal sogar drei Kinder in einem Zimmer unterschiedlichen Alters. Und deswegen ist es, glaube ich, auch so wichtig, da eine Sensibilisierung für zu haben, zu sagen: „Okay, dann guck, dass du dann alleine bist, wenn deine Geschwister vielleicht gerade draußen spielen", oder sagt: „Du gehst jetzt mal ins Badezimmer." Es ist natürlich auch verrückt, so einem Kind dann zu raten, wo dieser Ort ist, aber am Ende ist es ja so: Du willst ja nicht, dass der 13-Jährige denkt, er hätte was falsch gemacht, weil er seinen Körper entdeckt.
[00:12:58.720] - Ulli Freund
Das ist wichtig. Er darf nicht hören: Pfui, das macht man nicht", sondern „das machst du besser nicht, wenn andere dabei sind." Das ist die Botschaft. Und dieser Vorschlag mit dem Badezimmer vielleicht ist der auch nicht so ideal. Vielleicht findet der Junge einen ganz anderen Ort. Aber eben zu ermutigen, zu sagen: „Mach das, wo du dich alleine fühlst, wo du den Eindruck hast, hier kriegt das keiner mit." Und diese beengten Wohnverhältnisse, will ich noch mal sagen, das gilt ja auch für Elternschlafzimmer. Da, wo Kinder mit den Eltern im Schlafzimmer schlafen und Eltern meinen, die Sexualität braucht auch ihren Platz und wo sozusagen vor den Augen der Kinder Sex stattfindet. Das ist auch übergriffig. Das ist auch für die Kinder viel zu viel. Also auch das geht nicht.
[00:13:37.860] - Nadia Kailouli
Wie würdest du es jetzt in diesem Fall von Sonja bewerten? Weil am Ende hat ja der Jüngere etwas gesehen, was eigentlich für ihn noch zur Irritation geführt hat, hat sich zum Glück seiner Mutter anvertraut und so. Würdest du sagen, dass dieser zehnjährige Junge einen Übergriff seines älteren Bruders erlebt hat?
[00:13:55.080] - Ulli Freund
Ich habe jetzt nicht gehört, dass der große Bruder das absichtlich gemacht hat, damit er das mitkriegt. Wäre es so, hätte der große Bruder sich gesagt: „Den beschähme ich jetzt. Ich onaniere hier und dann soll dem das schön eklig sein und ich stöne ganz laut und dann kriegt der Kleine das mit und dann kann ich dem sozusagen seine Gefühle manipulieren, nämlich zum Beispiel Widerwillen, Scham, Abwehr herstellen." Dann hätten wir einen Übergriff. Aber das ist bei der Selbstbefriedigung oder bei den autoerotischen Aktivitäten so: Die sind normalerweise kein Übergriff. Erst wenn sie gezielt eingesetzt werden, nicht, um sich zu stimulieren, nicht um mit sich diese sexuellen Erfahrungen zu machen, sondern um mit der eigenen Sexualität andere zu beschämen, dann wird das ein Übergriff. Also wenn ich jetzt in der Kita, ich habe das ganz häufig in der Kita, da wird ja auch oft gefragt: „Ist das normal, dass Kinder beim Mittagsschlaf oder in der Situation beim Vorlesen sich selbst die Hand in die Hose tun und dann so rumjuckeln oder sich auf ein Kuscheltier setzen, die Mädchen, und dann rumjuckeln." Dann sage ich immer, es kommt drauf an, ob es ein Übergriff ist. Machen die das, um die anderen zu ärgern? Also geht jetzt der Vierjährige in die Puppenecke, weil er weiß, die Mädchen schreien, wenn er seinen Penis rausholt und daran herumzuppelt? Oder macht er es einfach selbstvergessen, weil er an sich denkt? Dieses Selbstvergessen, um sich zu drehen mit seiner sexuellen, autoerotischen Aktivität, Das ist immer Aktivität und trotzdem kann ich dann als Erzieherin, als Mutter sagen: „Du denkst zwar nur an dich und du willst die anderen damit nicht ärgern, aber bitte respektiere, dass andere das nicht sehen wollen." Da sind wir wieder bei dem Thema Intimsphäre. Also ich kann durchaus in der Vorlesesituation wenn da Kinder sich selbst befriedigen währenddessen, die Kinder darauf aufmerksam machen, dass das jetzt nicht passt, dass das die anderen ablenkt und vielleicht auch stört und einen vielleicht auch selber stört, dass man sagt: „Kannst du machen, aber nicht jetzt."
[00:15:43.170] - Nadia Kailouli
Nun haben sich Geschwister ja auch wahnsinnig gern, oft.
[00:15:46.160] - Ulli Freund
Manchmal.
[00:15:46.860] - Nadia Kailouli
Manchmal. Manchmal streiten die sich, aber so im Kern, gehen wir jetzt mal davon aus, mögen die sich ja auch. Und wie du ja schon anfangs sagtest, dieses, man möchte den Eltern nichts zumuten, man möchte den Eltern vielleicht etwas nicht erzählen, Nicht, weil man denen nicht vertraut, sondern weil man die Eltern nicht in eine blöde Situation bringen will.
[00:16:03.960] - Ulli Freund
Nicht traurig machen will.
[00:16:04.820] - Nadia Kailouli
Nicht traurig machen will. Wie gehen denn Eltern am besten damit um, Geschwistern, also beiden Kindern, in der Erziehung zu vermitteln: „Ihr tut euch bitte nicht… ? Ich will nicht sagen, „nicht weh", weil man kloppt sich. Das ist auch noch mal ein anderes Thema.
[00:16:20.160] - Ulli Freund
Auch nicht schön.
[00:16:21.600] - Nadia Kailouli
Auch nicht schön, aber ich kenne, glaube ich, keine Geschwister, die ich jemals auf dem Spielplatz oder sonst wo gesehen habe, die sich dann sagen: „Die Schippe, gib her" und zack, ist die Schippe auf dem Kopf. Aber wenn es jetzt darum geht, wie zum Beispiel jetzt, wir gehen davon aus, es ist jetzt kein beabsichtigter Übergriff gewesen, sondern der Junge hat sich einfach kennengelernt, der andere kriegt es mit. Geht man von vornherein in die Erziehung mit Geschwistern mit dem Thema irgendwie so um, dass man eine Sensibilität schafft oder wartet man auf die Momente, wo was passiert, was nicht gut ist? Aber dann, nicht jeder traut sich ja, wie jetzt im Fall von Sonja zu seinen Eltern zu gehen, weil ich mir gerade denke, bei vielen Geschwistern kommt es doch vielleicht dann dazu, also zu vermeintlichen Übergriffen.
[00:17:01.460] - Ulli Freund
Na ja, man kann als Eltern schon vorbeugen und auch Brücken bauen. Also vorbeugen würde heißen, der 13-Jährige, der kommt ja nicht seit heute in die Pubertät. Das geht ja schon ein bisschen länger, dass man eben angesichts dessen auch mal mit ihm spricht. Auch wenn es keine Situation gab, wo er masturbiert hat, sondern dass man sagt: „Du kommst in die Pubertät und dann will man sich auch erkunden und so weiter. Du weißt schon, dass dein kleiner Bruder daran nicht teilhaben darf. Ist dir das klar? Also wenn du das Gefühl hast, du möchtest dich selber erkunden, dann achte einfach drauf." Man kann das durchaus ansprechen und indem ich es anspreche, wird für den Älteren auch klar: „Meine Eltern wissen was über Sexualität. Meinen Eltern, denen ist das gar nicht so peinlich." Und sie machen offenbar was sehr sexualfreundliches. Sie sagen nämlich: „Das kann kommen. Das gehört dazu. Das finden wir total okay. Aber wir wollen dich darum bitten, dass du deinen kleinen Bruder da raushältst." Und bei dem Kleinen, da würde ich denken, jetzt ist der Zehn, der andere ist 13. Natürlich kann man auch mal ohne Anlass so einen Zehnjährigen fragen: „Wie ist es eigentlich mit deinem großen Bruder im gleichen Zimmer? Geht es dir damit immer gut? Gibt es denn Sachen, die dich freuen? Gibt es denn Sachen, die du doof findest?" Und immer auch sagen: „Und wenn du da was erzählen willst, ist das kein Petzen. Wenn es was gibt, was dich bedrückt oder was nicht so gut ist, dann sag's mir, dann gucken wir, wie wir es ändern können." Also viele Kinder haben ja Angst, dass sie ihre Geschwister verpfeifen oder andere Kinder verpfeifen, wenn sie das sagen, also verpetzen. Was man immer sehr deutlich macht: „Das hat nichts mit Petzen zu tun, sondern es geht darum, dass wir eine Situation schaffen, in der es dir besser geht und da hast du ein Recht drauf."
[00:18:35.280] - Nadia Kailouli
Ich muss jetzt gerade an eine Situation denken, aus meinem privaten Umfeld und da gebe ich mal die Frage an dich weiter. Patchwork, Vater getrennt von der Mutter, mit neuer Partnerin, leben gemeinsam mit dem Sohn, der immer mal wieder beim Vater ist, zwölf Jahre alt. Der Sohn umarmt die neue Partnerin des Vaters, gutes Verhältnis umarmt sie und der Sohn, der Junge, merkt, dass sein Penis steif wird und sagt dann zu der Stiefmutter, nennen wir sie jetzt mal so: „Oh", und sie war damit total überfordert: Was soll sie jetzt machen? Was soll sie sagen? Und dann hat sie es dem Vater eben erzählt, hat gesagt: „Hör mal zu, das und das ist passiert", und so. Und dann war der Vater aber überfordert und wusste nicht: „Soll ich den jetzt darauf ansprechen?", weil dann denkt er ja so: „Oh Mann, meine Stiefmutter hat es meinem Vater gepetzt", oder so. Und dann haben wir mal darüber gesprochen und keiner wusste so richtig: Ja, was macht man jetzt? Ignoriert man das? Thematisiert man das? Wenn man das thematisiert, also sie als Stiefmutter fühlte sich überhaupt gar nicht dafür. Ich will nicht sagen, verantwortlich, aber sie dachte: „Was soll ich dem denn sagen? Das ist ja nicht mein Sohn. Ich kann dem doch nicht sagen, was da passiert." Und jetzt bin ich gespannt, was du sagst. Was macht man dann, wenn man merkt, man lebt in einer, zum Beispiel, Patchwork-Familie und der Junge kommt halt in die Pubertät und dann wird einfach mal der Penis steif im Alltag bei einer Umarmung?
[00:19:52.860] - Ulli Freund
Ich verstehe die Frage noch nicht. So ist es einfach. So was kann passieren. Und gerade so zu Beginn der Pubertät und bei manchen auch relativ lange, passiert das sehr schnell. Das ist einfach eine physikalische Reaktion auf Wärme, auf Körpernähe, manchmal auch einfach auf den visuellen Reiz eines Gegenübers, der Penis irrigiert, ziemlich zügig.
[00:20:13.680] - Nadia Kailouli
Aber spricht man das an? Versucht man das dann zu erklären?
[00:20:15.880] - Ulli Freund
Der Junge, der gesagt hat: „Oh", hat ja offenbar verstanden, was los ist. Und er hat es ja nicht für sich behalten, sondern er hat es auch transparent gemacht auf seine Art. Ich weiß nicht, ob es ihm unangenehm war. Ich vermute es. Denn wäre es ihm nicht unangenehm, hätte er sich gedacht: „Oh, fein, hier passiert was mit der Stiefmutter", dann würde ich sagen, dann sind wir in einem ganz anderen Feld. Nein, es war eher ein Versehen. Es war ihm selbst unangenehm. Und dann ist es doch gut, wenn der schon so, sage ich mal, so offen ist und dieses „Oh" äußert, also zugibt: „Oh, hier ist was passiert, das gehört eigentlich nicht in unser Verhältnis." Was spricht dagegen, auch mit dem Vater darüber zu sprechen? Warum soll der nicht sagen: „Du, meine Partnerin, deine Stiefmutter, wie auch immer die sich nennen, hat mir das erzählt, dass dir das neulich passiert ist. Wie ging es dir denn damit? Also wir sind ja da nicht böse, sondern wir wissen, dass so was kann mal passieren. Also wie ging es dir damit? War es dir arg? Oder wie hat sie denn reagiert? War das für dich in Ordnung? Du weißt schon, dass du dann einfach in Zukunft mit der Nähe ein bisschen aufpasst, weil es könnte ihr auch dann unangenehm werden auf Dauer, wenn so was immer wieder passiert. Das möchte ja eine Frau nicht erleben." Aber ich denke, sein „Oh" ist schon mal ein guter Einladung, ins Gespräch zu kommen. Und was heißt „Verpetzen"? Er hat ja nichts falsches gemacht. Es ist ihm passiert, wie es eben so passiert. Und da braucht er eigentlich eher einen Vater, der sagt: „So was passiert Jungs. Und bei Mädchen passiert so was auch, nur da sieht man es halt nicht so stark. Dass auch die erregt werden aufgrund von Umarmungen oder Nähe oder schönem Aussehen oder so weiter. Aber das ist halt nicht so stark sichtbar. Wir Männer, wir haben das Problem, dass man sofort sieht."
[00:21:57.310] - Nadia Kailouli
Genau. Okay, wir kommen zu einem Thema, und zwar Geschlechtsidentität. Da haben wir eine Nachricht von Mo geschrieben. Erst mal vielen Dank, Mo, denn er lobt unseren Podcast. Das hört man natürlich auch gerne und sagt, wir machen das ganz toll hier. Also Mo, danke dafür und danke auch für deine Frage. Und jetzt kommt es. Seine Frage Frage ist, in Bezug auf den Umgang mit dem Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt: „Kürzlich gab es in meinem privaten Umfeld eine Situation, in der ein 6- und ein 9-Jähriger meine Beziehungsperson, also Paarbeziehungsperson, transmaskulin kennengelernt haben. Sie waren irritiert, da sie einerseits den Namen nicht einschätzen konnten und Lou andererseits noch eine sehr weibliche klingende Stimme hat und ein Brustansatz zu sehen ist. Sie haben mich dann gefragt, ob Lou ein Mann oder eine Frau sei, wo ich zunächst antwortete: Ein Mann. Als sie dann ihre Unsicherheiten äußerten, stimmte ich ihnen zu und sagte, dass Lou im Körper von einer Frau geboren wurde, aber sich als Mann fühlt."
[00:22:54.440] - Ulli Freund
Alles richtig gemacht, würdet ihr schon mal sagen.
[00:22:56.320] - Nadia Kailouli
Bis dahin alles richtig gemacht. Alles richtig gemacht. Okay, cool. Das ist doch schon mal gut. „Das war für die dann erst mal auch okay, so." Also alles richtig gemacht. Sehr gut. „Abends habe ich das der Mutter der Kinder erzählt, dass es dieses Gespräch gab, die daraufhin alles andere als begeistert war. Schließlich hatte sie mir explizit vorher gesagt, dass ich mit den Kindern nicht darüber sprechen soll, dass das für Kinder in dem Alter noch nichts sei. Ab wann und wie bespricht man mit Kindern das Trans-Thema?"
[00:23:22.060] - Ulli Freund
Na, spätestens dann, wenn es in meiner eigenen Lebenswelt vorkommt. Ich weiß nicht, ob er mit Sechsjährigen ausführlich über das Trans-Thema sprechen muss theoretisch, aber wenn es da eine Beziehungsperson gibt, die trans ist, habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich verstecke die oder ich verstecke die Person nicht. Die Kinder haben Kontakt mit ihr und dann gebe ich Antwort auf ihre Irritation. Die Kinder waren noch irritiert. Soll ich denn sagen: „Da ist nichts. Ihr täuscht euch. Das ist ein Mann, ihr täuscht euch. Da ist nichts." Soll ich ihnen ihre Wahrnehmung ausreden? Also die Person, die hier geschrieben hat, hat das alles richtig gemacht. Sie hat gesagt, wie es ist. Sie ist ein Mann, die Person. Dann waren die Kinder irritiert und dann hat er noch mehr erklärt. Das ist nämlich ursprünglich der Körper einer Frau, ihm gehörte und dass er jetzt in der Transition ist. Ja.
[00:24:08.120] - Nadia Kailouli
Also ist das Problem eher die Mutter, die Angst davor hat, dass man ihren Kindern zu viel zumutet, obwohl die Kinder Neugier geäußert haben und eigentlich aufgeklärt worden sind?
[00:24:16.500] - Ulli Freund
Lebensweltlich aufgeklärt worden sind. Also es ist immer so wichtig, dass man Kinder nicht mit Themen überfrachtet, die weit, weit weg sind von ihrer Lebenswelt, aber in dieser Lebenswelt kam das Thema vor und deswegen muss ich doch dazu was sagen. Oder ich muss die Person verstecken und das ist doch keine Lösung.
[00:24:30.460] - Nadia Kailouli
Nein, oh Gott.
[00:24:31.380] - Ulli Freund
Ja, also eine Alternative zeigt sich für mich überhaupt nicht. Oder ich belüge die Kinder und rede ihnen die Wahrnehmung aus. Wenn das die Mutter wollte, dann haben wir ein Problem.
[00:24:40.840] - Nadia Kailouli
Also muss Mo eigentlich mit der Mutter...
[00:24:43.480] - Ulli Freund
Mit der Mutter sprechen.
[00:24:44.240] - Nadia Kailouli
Mit der Mutter sprechen und sich …
[00:24:46.140] - Ulli Freund
Was hätte sie sich gewünscht? Hätte sie sich gewünscht, dass es zu diesem Kontakt gar nicht kommt, dann würde ich mir an seiner Stelle überlegen, ob ich diese Kinder betreue, wenn ich meine Partnerin, meinen Partner verstecken muss. Oder hätte sie sich gewünscht, dass wenn man die Wahrnehmung der Kinder übergeht, ihn ausredet und sagt: „Nein, nein, nein, nein, nein, das ist tatsächlich ein Mann. Ihr täuscht euch." Was hätte sie gewollt? Was war denn ihr Wunsch? Ich glaube, dass die Mutter vielleicht Angst hatte, also das ist eine reine Vermutung –, dass aufgrund der Situation dieses Paares, die sich jetzt berufen fühlen, mal so grundsätzlich das ganze Thema aufzurollen. Und vielleicht wollte sie das nicht, vielleicht hatte sie Angst, es ist zu früh. Es gibt ja manchmal auch Erwachsene, die so sehr, sehr ambitioniert sind in sexuellen Themen, sexuelle Bildungsthemen, die auch weit über das Interesse der Kinder hinausgehen mit den Details. Da wäre ich auch mal sehr vorsichtig. Ich würde nicht zu viel immer mitteilen. Nicht zu viel mitteilen, was Kinder nicht fragen. Aber manchmal ist eine Frage Anlass, um dann eben doch ein bisschen ins Detail zu gehen, damit die Kinder eine wirkliche Vorstellung bekommen und sich ihre Antworten nicht woanders holen müssen. Ist ja die Frage immer: Wo wollen diese Kinder eines Tages, oder wo wollen die denn ihr Wissen über Transsexualität herbekommen, wenn nicht von dieser Betreuungsperson, die da mittendrin ist und total viel zu sagen hat?
[00:26:03.030] - Nadia Kailouli
Ja, und es klingt ja auch so, dass die Kinder dann erst mal auch keine weiteren Fragen hatten, sondern: „Ach so, ja okay", dann ist okay, dann haben sie irgendwie ihre Frage beantwortet bekommen. Darüber hinaus gibt es dann einfach keine Fragen und sie wissen, so richtig verstehen muss ich das noch nicht, aber jetzt weiß ich wenigstens, dass ich jetzt nicht total bescheuert bin, eine Frau zu sehen und gleichzeitig einen Mann kennenzulernen oder so was auch immer, sondern es wurde einfach ganz klar eine Frage von Kindern beantwortet.
[00:26:26.510] - Ulli Freund
Ja, Kinder leben ja in dieser binären Welt. Die wissen, es gibt Frauen, es gibt Männer und wenn sich da irgendwas schiebt, wenn es irgendwas trans-mäßiges gibt, dann sind sie irritiert. Und vielleicht ist es deswegen auch gut, eben auch jungen Kindern schon zu sagen: „Ja, die meisten Menschen sind so oder so, und dann gibt es noch welche, die sind ein bisschen dazwischen." Das kann man auch jungen Kindern schon erzählen. Nur darf man da nicht zu ambitioniert werden und zu viele theoretische Details präsentieren, weil dann gibt es Verwirrung. Erst mal muss man verstehen, dass es im Prinzip zwei Geschlechter gibt, aber dann eben doch noch ein paar mehr. Ich möchte bei der Gelegenheit mal sagen, es gibt ein ganz tolles Kinderbuch zu diesem Thema.
[00:26:58.370] - Ulli Freund
Ah, sag.
[00:26:59.120] - Ulli Freund
Das heißt: „Was sich auch ändert, das Herz bleibt das Gleiche" [gemeint ist: „Egal was sich auch ändert, das Herz bleibt genau dasselbe"].
[00:27:02.660] - Ulli Freund
Schön.
[00:27:03.100] - Ulli Freund
Und da geht es um einen kleinen Jungen, glaube ich, dessen Mama diese Transition hat und am Ende ein Mann ist und wie dieses Kind das erlebt. Und ja, die Hauptaussage ist eben: Für das Kind ändert sich nichts. Es ist der gleiche Mensch und dieser Mensch liebt mich.
[00:27:18.640] - Nadia Kailouli
Das nehmen wir doch mal als Buchtipp mit. Vielen Dank. Kommen wir zu Silvia. Sie hat eine Frage zur Therapie. Sie schreibt, dass sie sehr schlechte Erfahrungen mit Therapeut:innen gemacht hat, wenn es um sexuelle Gewalt ging, die sie erlebt hatte. Silvia schreibt uns, was Therapeut:innen zu ihr gesagt haben. Ich lese es mal vor. Und zwar: „Wenn Sie nicht gewollt hätten, hätte es der Täter nicht schaffen können", oder „Sie strahlen zu wenig Weiblichkeit aus, darum rufen sie bei den Tätern keinen Beschützerinstinkt hervor." Und Silvia fragt sich, wie und wo sie fähige Therapeut;innen findet. Und das ist jetzt für dich natürlich total schwierig zu beantworten, aber diese Reaktionen gehen nicht, oder?
[00:27:54.920] - Ulli Freund
Die gehen gar nicht. Diese Therapeutin ist fachlich unterirdisch. Also nichts davon, was sie gesagt hat, darf gesagt werden und sollte auch als Therapeutin nicht gedacht werden, denn offenbar gibt es da kein Fachwissen zum Thema.
[00:28:09.680] - Nadia Kailouli
Punkt.
[00:28:10.150] - Ulli Freund
Punkt.
[00:28:10.550] - Nadia Kailouli
Einfach keine gute Therapeutin.
[00:28:12.360] - Ulli Freund
Therapeutin wechseln, vielleicht dem Ethikverein mal Bescheid sagen, was hier passiert ist, denn das ist ja tatsächlich zusätzlich belastend zu dem, was diese Frau erlebt hat, musste sie sich in der Therapie auch noch Dinge anhören, die ihr die Schuld zugeschoben haben. Also die sie verantwortlich gemacht haben, sie ist nicht weiblich genug, deswegen kein Beschützerinstinkt und was da für ein Quatsch war. Die kann alles brauchen, aber keine zusätzliche Belastung. Diese Therapeutin macht ihren Job sehr, sehr schlecht. Sie sollte ihn nicht machen.
[00:28:40.360] - Nadia Kailouli
Deswegen der Tipp, das eher zu melden, vielleicht auch, weil das eigentlich nicht der Job eines Therapeuten ist, jemandem noch Schuld zuzuweisen, wenn man mit einem Problem kommt. Ja. Sehr gut. Okay. Eine Hörerin hat uns geschrieben: „Mein Kind, zwei Jahre, fasst sich gerne im Genitalbereich an und zupft darin herum. Ist das normal?"
[00:29:02.060] - Ulli Freund
Ja. Wenn die Windel mal ab ist, wollen die meisten Kinder sich in diesem Bereich erkunden, anfassen. Sie spüren, dass sich das gut anfühlt. Sie fassen ja auch sonst den ganzen Körper an. Also die kindliche Sexualität ist ja sehr, sehr ganzheitlich. Die machen erst mal keinen großen Unterschied zwischen Ohrläppchen, Zehen und Penis oder Vulva. Aber wenn sie dann eben da hin fassen können, wenn sie immer nackig sind, dann merken sie schon auch, dass das besonders schöne Gefühle macht. Und ja, das ist normal.
[00:29:29.030] - Nadia Kailouli
Das ist normal. Jetzt geht ja eher dann auch darum, wo darf man das Normale im öffentlichen Raum irgendwie leben? Du hast sehr, sehr viel mit Kindern zu tun und wenn man selbst irgendwie im Alltag mal Kinder sieht, dann umso wohler die sich fühlen, desto sicherer fühlen die sich und desto freier, dann merken sie gar nicht mehr, dass da eigentlich gerade eine Party ist und die da vielleicht einfach in einer Position gerade sitzen, wo man sagt: „Jetzt setze dich vielleicht mal anders hin", oder so. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wir hatten da sogar schon mal drüber geredet, aber es ist eine never ending Story: Wie vermittelt man Kindern diese Balance zu finden zwischen: „Es ist normal, dich zu erkunden, aber es ist nicht okay, das überall zu tun"?
[00:30:08.380] - Ulli Freund
Ja, bei Zweijährigen wird das schwierig. Also dass dieses Kind seine Impulse so kontrolliert und steuert und das dann lässt, da hat man einen langen Weg vor sich. Aber es muss kontinuierlich sein und immer mit dieser sexualfreundlichen Grundhaltung: „Das ist schön, das machst du gerne, das sehe ich. Das mögen viele Kinder." Und auch immer gern dieser Hinweis: „Das mögen übrigens auch viele Erwachsene, aber guck mal, das macht niemand vor anderen. Und wenn du älter wirst, lernst du das, dass du das auch nicht vor den anderen machst. Das wollen gar nicht alle sehen." Man hat das ja auch, weiß ich nicht, die Großeltern kommen zu Besuch und das Kind sitzt auf dem Sofa und stimuliert sich mit zwei Jahren. Da sagt man ja auch so: „Jetzt ziehst du mal deine Hose an, die Großeltern kommen. Das passt jetzt nicht, das wollen wir nicht sehen." Ja.
[00:30:57.600] - Nadia Kailouli
Und so lernt man es dann einfach?
[00:30:59.480] - Nadia Kailouli
So lernt man es. Erst mal wollen Kinder ja auch ihren Eltern es recht machen. Die wollen ja nicht widerständig jetzt trotzdem sich selbst stimulieren, sondern „Ach so? So ist es?" Sie lernen was und man traut ihnen zu, weil sie größer werden, dass sie sich jetzt kontrollieren und dann wollen die sich auch kontrollieren. Das ist kein Hexenwerk.
[00:31:20.840] - Nadia Kailouli
Eine andere Hörerin hat uns geschrieben, und zwar: „Meine Tochter, anderthalb Jahre, möchte manchmal nicht gewickelt werden und hält demonstrativ die Hand vor ihrem Genitalbereich. Zeigt sie damit ihre Grenze auf und möchte nicht angefasst werden? Oder wie gehe ich damit um?"
[00:31:36.160] - Ulli Freund
Die Windel ist schon ab, oder nicht?
[00:31:38.460] - Nadia Kailouli
Nein, anscheinend nicht, weil sie möchte… Sie wird ja noch gewickelt. Beim Wickeln demonstriert sie: „Ich will nicht", und hält dann die Hand davor. Vielleicht dann einfach nicht mehr wickeln? Ich weiß nicht, ich habe gar kein Bild gerade. Geht man mit anderthalb Jahren schon aufs Klo? Ich weiß es nicht.
[00:31:53.660] - Ulli Freund
Nein, meistens noch nicht.
[00:31:55.120] - Nadia Kailouli
Ist noch klein, oder?
[00:31:55.400] - Ulli Freund
Ja, ja. Manche gehen dann schon mal aufs Töpfchen, aber trocken ist mit anderthalb eigentlich niemand, dem jedenfalls nicht emotionale Gewalt angetan wurde durch frühes Trockenwerden. Das gibt es ja auch, dass man die Kinder viel zu früh zwingt, sich da zu kontrollieren. Man kann das Wickeln nicht ewig aufschieben. Man muss ja, um das Kind nicht zu vernachlässigen, es trockenlegen. Also man kann die Windeln nicht ewig dranlassen. Pampers kann man länger dranlassen als eine Stoffwindel. Aber Stoffwindeln sind ja auch wieder ziemlich en vogue, insofern… Also man muss sie irgendwann wechseln, weil die Kinder werden wund. Und vielleicht gibt es Möglichkeiten, dass man dem Kind anbietet, dass es selbst die Windel aufmachen darf, dass man ihm vielleicht auch mal das Feuchti oder den Waschlappen, den man da hat, selbst in die Hand gibt und sagt: „Magst du mal selber machen? Komm, ich helfe dir ein bisschen."
[00:32:45.620] - Nadia Kailouli
Würdest du sagen, es ist ein Zeichen dafür, dass dieses Kind etwas erlebt hat und sich damit schützt?
[00:32:52.080] - Ulli Freund
Um Himmels willen, da wäre ich sehr vorsichtig.
[00:32:54.050] - Nadia Kailouli
Okay, weil ich gerade denke, okay, sie hält die Hand davor, dann beim Wickeln. Das heißt, es geht ja wahrscheinlich um dieses: „Ich will nicht, dass du mich jetzt abwischst oder so mit einem Feuchttuch." Jetzt gerade dachte ich, ist das so ein erstes Warnsignal? Da ist was passiert mit jemand anderem oder so?
[00:33:10.000] - Ulli Freund
Davon würde ich jetzt erst mal nicht ausgehen. Ich würde viel sprechen beim Wickeln. Das ist immer wichtig, dass man nicht stumpf vor sich hinwickelt, sondern mit den Kindern auch bespricht: „Was mache ich jetzt und jetzt machen wir die Windel auf und jetzt hole ich mal den Waschlappen, den mache ich feucht und dann wischen wir da vorne an der Vulva ein bisschen und hinten am Poloch. Guck mal, da ist noch ein bisschen Kaka, das wischen wir jetzt weg." Also reden, reden, reden und nicht die Kinder stumm behandeln, dass die Kinder mitgehen können, dass das eben eine ganz privat, aber auch vertraute Situation ist und eine sprachlich fassbare, nicht etwas, was man aushält, sprachlos. Ich glaube, viel reden, gut zureden und zu sagen: „Ist der Waschlappen zu kalt? Ist der zu heiß? Hast du das gerne? Magst du selber den Waschlappen mal nehmen?" Also auch versuchen, dem Kind eine Beteiligung zu ermöglichen. Ich meine, am Ende muss man schon gucken, dass alles sauber wird und alles trocken wird, aber das Kind einbeziehen und nicht über seinen Kopf hinweg und sprachlos darum fuhrwerken. Also zugewandt bleiben. Und wenn ich da keinerlei andere Hinweise habe, würde ich nicht darauf kommen, dass da was vorgefallen sein muss. Nein, nein.
[00:34:13.460] - Nadia Kailouli
Okay. Also sich der Situation stellen ein Kind mit einbeziehen, wird wahrscheinlich ein bisschen rum … Ja, das denke ich mir, dann schreit das Kind vielleicht auch mal herum und macht Theater und so. Und dann ist das dann schon Gewalt, wenn man dann das Kind in diese Windel zwingt?
[00:34:26.500] - Ulli Freund
Die Frage ist, wie eilig habe ich es? Kann ich es nicht einfach auch mal aushalten, zu sagen: „ „Weißt du was? Jetzt machen wir mal eine Pause. Die Windel ist schon ab. Du magst gar nicht. Jetzt spielst du noch mal eine Runde", oder „komm, wir machen noch was in der Küche und nachher windeln wir weiter, wenn wir uns wieder beruhigt haben." Und dann geht eben vielleicht mal was daneben und dann wird es halt weggewischt. Also dass man sich nicht so durchsetzt, dass man erst mal zeigt, man ist auch ein bisschen bereit, zu verhandeln. Aber am Ende ist es so, dass man dann auch sagen muss: „Jetzt haben wir lange genug gewartet. Mehr Zeit habe ich auch nicht. Ich muss dir jetzt die Windel anmachen." Aber auch wieder, nicht sprachlos. Und es muss klar sein: „Das ist eine Ausnahme, dass ich jetzt gegen deinen Willen da unten noch mal was mache. Es geht nicht anders, wir müssen das so machen. Aber ich merke", da wieder das Gefühl ernst nehmen, „Ich merke, du magst das heute gar nicht. Oh, das tut mir leid. Ich fände das auch besser, wenn wir uns einig sind beim Windeln."
[00:35:17.300] - Nadia Kailouli
Weißt du, mir wird gerade so bewusst, so mit Geduld. Mit Geduld funktioniert so viel, so viel besser. Und dann denke ich mir so, wenn man sich den Alltag anguckt, in dem wir leben, wie viele Leute haben noch Zeit und Geduld? Man muss sich das richtig erarbeiten. Ja, aber wenn du halt, keine Ahnung, ich denke jetzt an eine alleinerziehende Mutter oder eine, die sagt so: „Okay, ich muss jetzt aber um neun den Bus kriegen, um zur Arbeit zu kommen und dich vorher in die Kita bringen. Und wenn ich dich da ohne Windel hinbringe, dann gibt es…"
[00:35:40.920] - Ulli Freund
Das wird nichts.
[00:35:42.480] - Nadia Kailouli
Das ist echt so ein Dilemma manchmal.
[00:35:44.280] - Ulli Freund
Man muss manchmal auch über den Willen des Kindes hinweggehen. Das ist nicht die Frage, aber das muss eine Ausnahme bleiben. Es darf nicht die tägliche Routine sein. Noch morgens wird mit Gewalt gewickelt, damit ich pünktlich im Büro bin, sondern dann muss ich mit dem Kind überlegen: „Weißt du was? Das dauert jetzt morgens immer so lange bei uns, weil du nicht willst und ich habe es ja so eilig, du, wir stehen früher auf."
[00:36:02.230] - Nadia Kailouli
Und die Wochenenden dann ein bisschen entschleunigen und da wieder zeigen...
[00:36:06.200] - Ulli Freund
Ja, wo es immer auch geht, dem Kind diese Mitsprache zu ermöglichen, wo es nicht geht, sagen: „Ich mache es jetzt anders, als du dir das wünschst." Heißt nämlich: „Ich habe gesehen, was du dir gewünscht." Und das ist das Entscheidende, das Gefühl hat, dann wieder Platz. Das heißt nicht, dass man sich jedem Wunsch beugen muss. Manche Abläufe müssen einfach durchgezogen werden, aber ich muss schon auch gucken, wie kann ich im Alltag Routinen entwickeln, die weniger Durchsetzungskraft von den Erziehungspersonen, von den Eltern verlangen. Ja.
[00:36:35.800] - Nadia Kailouli
Sarah hat uns geschrieben: „Wenn mich mein Sohn, drei Jahre alt, nackt sieht, fasst er mich gerne an der Brust an. Wie vermittle ich ihm meine Grenzen oder bringe ihm generell bei, dass jede Person selbst bestimmt, ob sie in diesem Bereich angefasst werden möchte oder nicht? Trotzdem möchte ich Nacktheit nicht als etwas Böses vermitteln, sondern als etwas Natürliches. Wie findet man da die Balance?"
[00:36:57.020] - Ulli Freund
Ich muss lachen oder lächeln, weil ich finde, diese Mutter sagt ja schon alles, was wichtig ist. Sie möchte Nacktheit nicht verteufeln. Es muss möglich sein, für sie, wenn es für ihr Schamgefühl passt, vor dem Kind nackt zu sein. Und trotzdem ist es ihr gutes Recht, ihren Körper die Grenzen aufzuzeigen und zu sagen: „Ich möchte nicht, dass du meine Brust anfässt, weil es nämlich meine ist. Und das gilt für uns alle Menschen, das gilt für dich auch. Du darfst auch entscheiden, wer dich anfässt." Und eine Mutter, der das nichts ausmacht, sich an der Brust berühren zu lassen, kann das anders handhaben. Aber die Kinder lernen ja davon, dass Erwachsen ihre Grenzen aufzeigen. In Freundlichkeit, aber Bestimmtheit, weil das sind ihre Vorbilder: „Wenn meine Mama sich abgrenzen darf, dann darf ich das ja auch." Und das muss natürlich auch erlaubt sein. Also Mütter, meistens sind es Mütter, seltener Väter, die alles mit sich machen lassen: „Ach, ich bin ja Mutter. Mein Körper gehört meinen Kindern." Die erweisen ihren Kindern einen sehr schlechten Dienst, denn sie zeigen, man ist verfügbar. Eine Mutter ist verfügbar und für die Kinder, also die weiblichen Kinder, die Mädchen, ist es die Lehre: „Ich muss verfügbar sein." Und für die Jungen ist es: „Frauen sind verfügbar." Also es sind sehr schlechte Lehren und gerade als Mutter, aber bitte auch als Vater, sollte man sehr deutlich sagen: „Wo sind meine Grenzen?" Und wenn Kinder den Genitalbereich der Eltern anfassen wollen, insbesondere die Vulva der Mutter untersuchen wollen, den Penis des Vaters, da würde ich schon aus Kinderschutzgründen sagen: Stopp, hier muss man sich abgrenzen. Da haben Kinder nichts verloren. Denn wenn Kinder das gewohnt sind, in diesem Bereich Erwachsene anzufassen, ihre Eltern, ihren Vater, ihrer Mutter, woher sollen sie denn wissen, dass es bei Onkel Peter nicht in Ordnung ist?
[00:38:39.480] - Nadia Kailouli
Ja, guter Hinweis.
[00:38:41.290] - Ulli Freund
Ja, auch da müssen erwachsene Vorbilder sein. Ich finde, die Brust der Mutter, gerade wenn Kinder lange gestillt werden, die ist einfach noch mal so eine besondere Welt. Da grenzen sich viele Mütter auch nicht sehr früh ab, aber Genitalbereich ist absolut tabu. Da sollen Kinder Erwachsene nicht anfassen, denn sonst lernen sie, das ist normal. Das kann man machen. Das können auch Erwachsene von einem verlangen.
[00:39:03.340] - Nadia Kailouli
Jemand schreibt: „Meine Tochter Lisa, vier Jahre, kam heute aus der Kita und erzählte, dass sie ihren Kitafreund Jonas auf den Mund geküsst hat und alle auch die Erzieherin gelacht haben. Das Lachen hat sie offensichtlich irritiert und etwas verletzt. Wie soll ich das bewerten?" Man kann sich das ja so vorstellen.
[00:39:20.100] - Ulli Freund
Ich habe da ein Bild, die anderen lachen, vielleicht unausgesprochen oder leise ausgesprochen, dann auch mit solchen Kommentaren: „Ach, die ist ja früh dran." Oder so. Die Kinder merken, dass das nicht wohlwollend ist, sondern dass das so bewertet wird. Das Mädchen hat offenbar eine Bewertung gespürt und nicht ein zustimmendes Lächeln: „Ach schön, die beiden mögen sich und die probieren mal einen Kuss auf dem Mund", sondern irgendwas, was eben nicht zu ihren Empfindungen passte. Deswegen sagte ich, was oft nicht ausgesprochen wird oder wenn es schlimm kommt, wirklich ausgesprochen wird, dass das sexualisiert wird, was die Kinder da machen. Also dass da sozusagen schon so eine Perspektive draufgelegt wird, als ob das ein Kuss wie zwischen Erwachsenen wäre. Und wenn man dann noch solche Sachen sagt, wie: „Ach, ihr wollt wohl mal heiraten?" Dann ist das für die Kinder auch irritierend. Warum dürfen die sich nicht einfach, ohne ausgelacht oder belächelt zu werden, einen Kuss auf dem Mund geben. Also die ist verletzt worden. Das hat ihrem Gefühl nicht entsprochen. Die hatte wahrscheinlich ein ganz schönes, nahes Gefühl zu dem Freund, wollte den mal so küssen. Ich hoffe, er wollt das auch. Und die anderen machen sich mehr oder weniger darüber lustig. Das ist was, worunter Kinder sehr leiden, wenn man sich über sie lustig macht und was auch niedlich aussieht und wo man als Erwachsener eben so seine … Ja, sich da schnell mal einfach auch falsch verhält, weil man es so niedlich findet. Für Kinder ist ausgelacht werden, bewertet werden in solchen Situation beschämend.
[00:40:46.740] - Nadia Kailouli
Ist das dann aber so, dass zum Beispiel Kinder… Also woher weiß Lisa, dass man jemanden auf den Mund küsst? Das sieht man vielleicht bei den Eltern zu Hause oder vielleicht küssen ja auch die Eltern Lisa auf den Mund. Ist es in Ordnung, Kinder auf den Mund zu Küssen?
[00:41:02.560] - Ulli Freund
Von Erwachsenen?
[00:41:03.320] - Nadia Kailouli
Von Erwachsenen.
[00:41:05.380] - Ulli Freund
Da scheiden sich die Geister. Es gibt Familien, die küssen sich auf den Mund. Auch wenn die Kinder schon älter werden, auch Jugendliche, auch Erwachsene, die sich auf den Mund küssen, das gibt es in manchen Familien. Das habe ich übrigens gar nicht als so eine Familienkultur, aber nicht so eine an sich kulturelle Frage. Mich persönlich irritiert das ein bisschen, weil ich eben schon finde, dass die Lippen auch eine sehr erogene Zone sind. Ich würde, glaube ich, wenn man mich fragen würde, wenn ich Erziehungsberaterin wäre, würde ich sagen: „Mit der Pubertät würde ich damit mal aufhören, weil es eben doch eine Zone ist, die erogen ist und die dann tendenziell für andere reserviert ist." Wenn sich Kinder auf den Mund küssen und das sind eben Küsse und keine Zungenküsse - da habe ich ein Problem -, also sondern wirklich so ein Schmatz auf dem Mund. Warum sollen sie das nicht tun? Also da sehe ich kein Problem.
[00:41:56.970] - Nadia Kailouli
Dass Kinder das untereinander tun.
[00:41:58.140] - Ulli Freund
Untereinander, das ist gar kein Problem. Und dass Erwachsene ihre Kleinkinder auf dem Mund küssen und vielleicht auch noch länger, ja, steht mir nicht an, das zu beurteilen. Ich würde immer dazu raten, so mit der Pubertät dann langsam mal aufzuhören. Aber auch die Eltern und erwachsene Kinder, die sich immer noch auf den Mund küssen, die machen ja nichts falsch, wenn beide Seiten einverstanden sind und dass da keine erotische Komponente gibt.
[00:42:22.220] - Nadia Kailouli
Weiß nicht, ich hatte auch noch einmal hat die Tochter eines Freundes, Ex-Freundes, so sagen wir es, wie es ist, mich auf den Mund geküsst, als ich sie abgeholt habe und auf den Arm genommen habe, nach der Kita auf den Arm: „Ha, schön", und so. Und dann zack, hatte ich ein Küsschen von ihr auf dem Mund. Ich fand das irritierend. Ich mochte das nicht so gerne.
[00:42:40.720] - Ulli Freund
Hast du es ihr gesagt?
[00:42:41.740] - Nadia Kailouli
Nein, habe ich nicht. Habe ich mich nicht getraut.
[00:42:44.100] - Ulli Freund
Darfst du.
[00:42:44.770] - Nadia Kailouli
Ja, weil die sich so gefreut hat. Sie hat sich so gefreut, mich zu sehen.
[00:42:47.660] - Ulli Freund
Aber das kann ich doch auch sagen: „Mensch, ich freue mich auch so, dich zu sehen, aber ich mag nicht auf den Mund geküsst werden. Das machen wir nicht."
[00:42:54.520] - Nadia Kailouli
Okay, ja. Da hat man so Angst, weil man dieses Kind dann nicht irgendwie verletzen will. Ich habe mir dann einfach gedacht, in Zukunft wenn ich sie abhole und auf den Arm nehme, hänge ich gleich die Wange hin und nicht das Gesicht.
[00:43:04.310] - Ulli Freund
Aber dann wird ja unausgesprochen gezeigt: „Ich grenze mich ab." Warum nicht die Gelegenheit ergreifen und sagen: „Du, ich mag’s nicht"?
[00:43:09.900] - Nadia Kailouli
Ja, ich hatte in dem Moment da total die Scheu.
[00:43:13.220] - Ulli Freund
Aber du sagst, sie hat sich so gefreut, du wolltest sie nicht verletzen. Teil doch ihre Freude. Sag: „Mensch, ich freue mich auch so dolle dich zu sehen, aber auf dem Mund küssen mag ich einfach nicht." Das ist wieder wie mit: „Ich mag nicht an die Brust gefasst werden." Also wie will ich denn einem Kind sagen, dass man sich abgrenzen darf? Und du musst auch als Mutter, als Partnerin des Vaters oder wer auch immer, du musst deinen Mund nicht zur Verfügung stellen. Und dann so eine Ausweichpolitik: „Ich halte mal nur die Wange hin." Das Kind spürt doch. Die Kinder spüren doch, hier ist was. Aber man hat es nicht gesagt und dann hat man auch eine Chance verpasst, ihm was beizubringen. Und wenn du mit dem noch zusammen wärst und das Kind noch da wäre, also wenn es solche Situationen noch gäbe, könnte man das auch noch mal aufgreifen, könnte man sagen: „Weißt du noch, als du kleiner warst, da hast du manchmal versucht, mich auf den Mund zu küssen. Weißt du auch, dass ich das gar nicht mochte? Ich habe das mich damals nicht getraut zu sagen. Ich habe gedacht, dann bist du traurig, aber wir verstehen uns doch immer noch." Solange man freundlich ist und nicht barsch, können Kinder so was wunderbar aushalten. Man kann es eben auch nachholen und auch erklären, dass man vielleicht damals sich besser abgegrenzt hätte, weil es hätte unserer Freundschaft, unserer Sympathie keinen Abbruch getan. Man kann sie auch anders begrüßen, wenn man sich ganz dolle freut.
[00:44:31.160] - Nadia Kailouli
Also sollte ich jemals noch mal in die Situation kommen, wo ein Kind mich auf den Mund küssen möchte, werde ich an deine Worte denken.
[00:44:37.250] - Ulli Freund
Schön.
[00:44:38.680] - Nadia Kailouli
Eine weitere Nachricht, die uns erreicht hat: „Ich frage mich, wieso es manchmal zum Problem gemacht wird, wenn zwei Kindergartenkinder sich gegenseitig ihren Intimbereich zeigen?" Ja.
[00:44:48.780] - Ulli Freund
Ja, warum wird das zum Problem gemacht?
[00:44:50.660] - Nadia Kailouli
Vor allem von wem? Wenn wir jetzt an die Geschichte vorher denken, mit den Zweien, die sich geküsst haben und die Erzieher:innen dann angefangen haben zu lachen, das ist ja auch nicht so cool.
[00:44:59.100] - Ulli Freund
Nein.
[00:45:00.000] - Nadia Kailouli
Und dann, wie geht man damit jetzt um?
[00:45:03.140] - Ulli Freund
Na ja, bei dem Kuss, da wird gelacht. Und wenn sich zwei Kinder untersuchen, angucken, also die sogenannten Doktorspiele oder wie ich sage, sexuelle Aktivitäten miteinander machen, da wird dann meistens überhaupt nicht gelacht. Da wird es bitter ernst. Die Erwachsenen bekommen häufig Angst. Sie denken, jetzt machen die Kinder hier Sex oder was und dafür sind die ja viel zu jung und dafür muss man einfach einige grundsätzliche Dinge wissen. Es gehört zur sexuellen Entwicklung von Kindern dazu, sich selbst zu erkunden, und zwar den ganzen Körper, und nicht ab dem Bauchnabel aufzuhören, sondern auch diesen Bereich, der besonders verdeckt ist und deswegen auch besonders spannend, auch den erkunden zu dürfen und eben auch beim Gegenüber nachzugucken, zu fragen: „Darf ich mal hinfassen?" Das ist das Normalste auf der Welt. Das ist die kindliche sexuelle Entwicklung. Das hat nichts mit Sex zu tun. Kinder begehren einander ja nicht, wenn sie sich es so angucken. Die wollen sich auch nicht beglücken in diesen Momenten. Die wollen einfach ihre Neugier stillen.
[00:45:59.080] - Nadia Kailouli
Und vielleicht ist es dann da genauso wie in dem Kinderzimmer, einfach zu vermitteln.
[00:46:03.460] - Ulli Freund
Können sie machen.
[00:46:04.340] - Nadia Kailouli
Aber nicht vor allen.
[00:46:05.940] - Ulli Freund
Aber vielleicht nicht gerade in der Abholsituation, wo alle Erwachsene dazukommen, könnt euch zurückziehen. Und natürlich müssen auch die Kinder wissen, wenn sie solche Erkundungen machen, dass es Regeln gibt. Es gibt kein Spiel ohne Regeln. Und dieses Spiel hat einfach die Regel: Das macht man nur, wenn beide das wollen oder alle, die dabei sind, das auch wollen. Das spielt man auch nicht mit viel Kleineren oder mit viel Größeren. Erwachsene haben da gar nichts zu suchen bei diesen Spielen. Deswegen ist es auch nicht gut, permanent hinter den Vorhang zu gucken, wo die Kinder sind und sie zu beobachten.
[00:46:37.550] - Nadia Kailouli
Ja, okay.
[00:46:38.620] - Ulli Freund
Weil was heißt denn das? Wenn ich immer den Blick dahinwerfe, heißt auch, Erwachsene dürfen dabei sein. Die dürfen zugucken. Das ist ja im Prinzip eine Einladung für interessierte, pädosexuell motivierte Erzieher, Erzieherinnen, diese Situation für sich zu nutzen, auf seine Kosten zu kommen. Also diese ständige Kontrolle von sogenannten Doktorspielen halte ich für ein großes Problem. Wichtig ist eher, dass man den Kindern diese Werte mitgibt, diese Leitplanken, was sind denn unsere Regeln, und dass alle Kinder wissen, zu den Regeln gehört auch, wenn einer nicht aufhört oder immer weitermacht und ich will das nicht, dann darf ich sofort Bescheid sagen? Und dann wird die Erzieherin, der Erzieher nicht mich schimpfen, weil ich was gesagt habe oder weil ich da in der Kuschelecke war oder auf der Hochebene oder wo auch immer, sondern ich weiß genau, die geht dann dem nach und die tröstet mich, dass das passiert ist und die wird sagen: „Ein Glück, dass du mir das gesagt hast", aber ich werde nicht Ärger kriegen, weil ich mich für so was interessiert habe. Das heißt, diese Doktorspiele, diese sexuellen Aktivitäten sollten in einem sexualfreundlichen Konzept erlaubt sein, aber die Regeln müssen bekannt werden, sodass wenn es da zu Übergriffen kommt, dass dann klar ist, wie man damit umgehen kann und dass die Kinder auch wissen, es ist überhaupt kein Problem, was zu sagen, wenn sich einer hier nicht an die Regeln hält.
[00:47:57.940] - Nadia Kailouli
Jetzt arbeitest du ja viel mit Einrichtungen zusammen, wo Kinder eben sind, hast viel Kontakt zu Erzieherinnen und Erziehern. Ich finde das so wichtig, dass du das sagst, weil ich will nicht sagen, jedes Kind macht das irgendwann, diese sogenannten Doktorspiele. Aber manche Kinder, viele Kinder machen das und von, weiß ich nicht, Generationen an war das
Mehr Infos zur Folge
Präventionsexpertin Ulli Freund war schön häufig bei uns zu Gast. Ulli ist Diplom-Pädagogin, Referentin im Team der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung und Spezialistin für alles rund um das Thema Erziehung. Sie kommt ab und zu hier bei einbiszwei vorbei und beantwortet dann die Fragen, die ihr uns schickt. Zum Beispiel: Mein Kind ist 2 Jahre alt und fasst sich gerne im Genitalbereich an – ist das normal? – Ihr fragt, Ulli antwortet. In dieser Folge von #einbiszwei.
LINKSAMMLUNG
Kinderbuch-Tipp von Ulli zum Thema Transition von Eltern oder anderen Familienmitgliedern:
Buch: Egal was sich auch ändert, das Herz bleibt genau dasselbe
