PODCAST | Folge 32 | Dirk Bange
Bei einbiszwei erklärt der Erziehungswissenschaftler Dr. Dirk Bange, wie man mit Kindern darüber sprechen kann, wenn sie sexuelle Gewalt erlebt haben, wie man Kinder schützen kann und was sexueller Missbrauch des eigenen Kindes für Eltern bedeutet.
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Dirk Bange [00:00:01] Aber es gibt auch Eltern, die, ich sage mal, die deutlichsten Hinweise nicht wahrnehmen. Und die müssen sich natürlich dann im Nachhinein, werden sich in der Regel ja auch im Nachhinein die Frage stellen, was habe ich da eigentlich gemacht oder was habe ich nicht gemacht?
Nadia Kailouli [00:00:14] Hallo, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über sexuelle Gewalt. Ich bin Nadia Kailouli und hier spreche ich mit Kinderschutz-Expertinnen und Experten, mit Menschen, die sich gegen sexuelle Belästigung wehren und sexuell missbraucht wurden und jetzt anderen Mut machen. Hier ist einbiszwei - damit sich was ändert.
Nadia Kailouli [00:00:39] Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema sexuelle Gewalt, hat in Beratungsstellen gearbeitet und viele Standardwerke zum Thema geschrieben: Dr. Dirk Bange. Der Erziehungswissenschaftler gehört zu denen, die schon sehr früh darauf aufmerksam gemacht haben, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht nur in Einzelfällen vorkommt, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Schon vor 20 Jahren hat er das Handwörterbuch Sexueller Missbrauch verfasst, bereits in den 90er Jahren hat er sich mit dem Missbrauch von Jungen beschäftigt. Dirk Bange sagt, dass gerade Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, besser geschult werden müssen. Seitdem beschäftigt er sich damit, wie vor allem Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen können, wenn sie sexuelle Gewalt erlebt haben, wie Prävention aussehen könnte und welche Auswirkungen sexuelle Gewalt hat. Ich sage herzlich willkommen, Dirk Bange, bei einbiszwei, schön, dass sie da sind.
Dirk Bange [00:01:28] Ja, ich freue mich auch sehr. Danke für die Einladung.
Nadia Kailouli [00:01:30] Herr Bange, sie sind Erziehungswissenschaftler und sie haben schon sehr, sehr viel gemacht rund um Aufklärung, Prävention, um sexuellen Kindesmissbrauch. Heute wollen wir mit ihnen aber über die Eltern sprechen von Kindern, die eben sexuellen Missbrauch erlebt haben. Und wir haben das bei einbiszwei schon ganz oft erlebt, dass wir mit Missbrauchsopfern gesprochen haben, die uns wirklich in den meisten Fällen immer erzählt haben, dass der schwierigste Weg der Weg zu den Eltern war, um denen das zu erzählen, was ihnen passiert ist. Können sie uns vielleicht sagen, warum das so ist? Warum es Kindern so schwer fällt, ihren Eltern zu erzählen, was passiert ist?
Dirk Bange [00:02:07] Also es fällt Kindern, die sexuelle Gewalt erlebt haben, oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, generell in der Regel schwer, anderen davon zu erzählen. Die Kinder schämen sich in der Regel dafür, sie haben Schuldgefühle, vielleicht denken sie, sie haben was falsch gemacht und deswegen sind sie relativ verhalten damit, anderen Menschen das zu erzählen. Und sie gucken sich auch dann erst mal an, wie andere Menschen reagieren. Sie geben so kleinere Hinweise und wenn ich dann unsensibel reagiere, ziehen sich die Kinder wieder zurück und dann gucken sie vielleicht bei einer anderen Person oder sie versuchen es nochmal. Das ist also erst mal ganz normal. Bei den Eltern ist es so, es ist natürlich unterschiedlich, kommt auch drauf an, welche Formen der sexualisierten Gewalt es gegeben hat. Bei innerfamiliärem Missbrauch, zum Beispiel durch einen Vater, ist es natürlich sehr schwierig für das Kind, die Mutter einzubeziehen, weil sie natürlich auch Angst haben muss. Wie reagiert Mama dann darauf, wenn ich ihr das erzähle, müssen wir ausziehen und solche Geschichten also. Oder muss Papa ausziehen? Und je kleiner die Kinder sind, um so schwerer ist diese Situation natürlich für die Kinder, das können sie sich, glaube ich, leicht vorstellen. Bei außer-familialem Missbrauch ist es aber auch nicht leicht für die Kinder, weil sie oft denken, sie haben was falsch gemacht. Wieso bin ich da hingegangen, warum habe ich mich nicht gewehrt und solche Geschichten. Und auch da fällt es den Kindern häufig schwer, ihre Eltern einzubeziehen. Also das ist was ganz Normales und die Kinder müssen sich keine Vorwürfe machen, sie erzählen das dann, wenn sie das können. Und sie haben auch nichts falsch gemacht, wenn das ein bisschen länger dauert. Die Studien zeigen, dass die Aufdeckung von Missbrauch eigentlich immer ein Prozess ist und nicht von heute auf morgen geschieht.
Nadia Kailouli [00:03:44] Jetzt haben sie gerade das Wort Schuldgefühle angesprochen, die die Kinder dann haben und deswegen sich oft nicht trauen, ihren Eltern was davon zu erzählen. Wir wollen uns ja heute eher auf die Eltern konzentrieren, die es dann eben erfahren haben durch einen längeren Prozess oder eben, dass es dann irgendwann rausgekommen ist. Da können wir ja gleich noch mal darauf eingehen, wann es Eltern denn eigentlich erfahren. Aber das Thema Schuldgefühle betrifft ja dann auch viele Eltern, die es dann erfahren.
Dirk Bange [00:04:08] Also ja, nicht nur, also genau, wenn die Eltern es erfahren, fragen sich die Eltern natürlich auch in der Regel, warum habe ich das nicht eigentlich gemerkt? Ich kenne doch mein Kind, ich sehe mein Kind. Hätte ich das nicht merken müssen, dass das Kind sich verändert? Hat das Kind vielleicht kleine Hinweise gegeben, die ich nicht mitgekriegt habe oder wo ich falsch reagiert habe, sodass die Eltern natürlich sich auch fragen, habe ich da was falsch gemacht? Und aus Sicht der Kinder oder vieler Kinder haben die Eltern auch was falsch gemacht, weil die Kinder immer erwarten, dass die Eltern merken, wenn mit ihnen was nicht stimmt oder wenn sie sich erhoffen auf kleinere Hinweise reagieren die Eltern, so dass es da durchaus tiefe Verletzungen auch auf Seiten der Kinder gibt über die Reaktion oder Nicht-Reaktion von Mama, Papa oder auch Geschwisterkinder.
Nadia Kailouli [00:04:56] Ist das denn berechtigt, diese Angst?
Dirk Bange [00:04:59] Ja, je nachdem. Es gibt Eltern, die merken das und die adressieren das auch, also sprechen die Kinder auch an, wenn sie so was sehen und es gibt Studien, die zeigen, dass viel Missbrauch aufgedeckt wird, dadurch, dass Eltern irgendwas komisch vorkommt, so kann man das sagen. Diese Eltern müssen sich natürlich in dem Sinne keine Vorwürfe machen, können sich natürlich fragen, hätte ich es noch mehr oder noch früher merken müssen oder nicht? Aber es gibt auch Eltern, die, ich sage mal, die deutlichsten Hinweise nicht wahrnehmen. Und die müssen sich natürlich dann im Nachhinein, werden sich in der Regel ja auch im Nachhinein die Frage stellen, was habe ich da eigentlich gemacht oder was habe ich nicht gemacht?
Nadia Kailouli [00:05:36] Können sie uns sagen, was das für Hinweise sind in erster Linie, auf die Eltern eigentlich reagieren sollten?
Dirk Bange [00:05:42] Ja, das ist ein bisschen schwierig. Also im Grunde genommen bei allen plötzlichen Verhaltensauffälligkeiten, bei Rückzug der Kinder, bei wieder Einnässen bei kleineren Kindern zum Beispiel. Aber, und das ist die Schwierigkeit, das ist aber nicht nur die Schwierigkeit für Eltern, ist auch die Schwierigkeit für Fachkräfte. Es gibt kein Symptom, an dem sie direkt darauf schließen können, mein Kind wird missbraucht, sondern für jedes Symptom gibt es auch andere Erklärungen. Wenn beispielsweise Eltern sowieso schon in einer Trennungs-Situation sind, das Kind komisch reagiert, wieder einnässt und so weiter, denkt die Mama oder der Papa, das hat was mit der Trennungs-Situation zu tun. Hat es vielleicht auch, es kann aber eben auch ein Hinweis auf sexualisierte Gewalt sein. Und das rauszufinden ist nicht ganz leicht, ist selbst für Fachkräften nicht so leicht.
Nadia Kailouli [00:06:27] Das hören jetzt wahrscheinlich einige und würden sich wünschen, sie würden was anderes sagen, was ein bisschen leichter wäre.
Dirk Bange [00:06:32] Also, ja, ich kann ihnen sagen, wir hatten früher so Checklisten, wo man so eine Sicherheit hatte oder vermeintliche Sicherheit hatte. Ich sage mal, man kreuzt die Punkte einer Checkliste an und dann weiß man, dass das Kind missbraucht ist - so was macht man heute nicht mehr, weil es keine so harten Hinweise gibt. Es sei denn, sie haben irgendwie Sperma-Spuren und so weiter gesichert, auch vielleicht durch Rechtsmediziner*innen, dann ja. Ansonsten ist das schwierig, auch für Eltern.
Nadia Kailouli [00:06:58] Nun haben sie eben 2011 auch ein Buch darüber geschrieben, dass sie sich hauptsächlich auf die Eltern konzentrieren, den Blick auf die Eltern richten von Kindern, die sexuelle Gewalt und Missbrauch erfahren haben. Warum haben sie damals gemerkt, okay, wir müssen auch auf die Eltern blicken und uns damit auch ein bisschen näher beschäftigen, wie es den Eltern damit geht.
Dirk Bange [00:07:16] Also ich habe ja früher bei Zartbitter Köln in einer Beratungsstelle gearbeitet und da waren viele Kinder oder Jugendliche, mit denen ich gearbeitet habe, junge Erwachsene, frustriert über ihre Eltern. Das, was ich eben schon gesagt hab, haben sie mir gegenüber formuliert. Warum hat Mama das eigentlich nicht gemerkt? Ich habe doch so deutliche Hinweise gegeben. Und daraufhin habe ich mir dann die Literatur angeguckt, um mal zu gucken, wie ist das mit den Eltern eigentlich und wie können Eltern ihren Kindern helfen und wie schafft man es dann auch eben diese Verletzungen in der Eltern-Kind-Beziehung vielleicht ein bisschen, weiß ich nicht, zu minimieren. Ja, und ich könnte ihnen jetzt gleich sagen, was man machen kann. Also wenn Eltern Hinweise bekommen oder das Kind versucht mit den Eltern zu sprechen, ist das erste, was man, glaube ich, als Elternteil machen muss - auch wenn es schwer fällt, ich sage das auch, ich habe selber Kinder, die sind jetzt größer, aber wenn ich mir das für mich vorstelle, ist es schwierig - erst mal Ruhe zu bewahren. Nämlich nicht sofort aufgeregt zu sein und zu sagen, oh Gott und so, weil das natürlich die erwartete Reaktion ist, die die Kinder dann zum Teil im Kopf hatten. Was wird passieren? Die werden alle sagen, oh Gott, und wie schlimm bist du eigentlich und so. Deswegen, das erste wäre Ruhe bewahren, auch wenn es schwer ist, das muss man sagen. Das zweite ist im Grunde genommen, den Kindern zu glauben. Also jetzt nicht, oh nein, das kann ich gar nicht glauben, dass dein Lehrer, den kenne ich doch, so was machen würde oder Papa so was machen würde oder der Bruder so was machen würde. Also dem Kind erst mal glauben, das wäre so ein zweiter wichtiger Punkt. Ein dritter wichtiger Punkt, der hat sich eigentlich aus dem Vorredner von mir da eben schon ergeben, den Kindern bloß keine Schuldgefühle zu machen, also zu sagen, wieso bist du nicht eher gekommen? Du hättest es mir doch eher sagen können. Das sind die Reaktionen, die die Kinder befürchten, dass sie dann ausgeschimpft werden. Oder warum bist du durch den Park gegangen, wenn es ein fremder Täter gewesen wäre? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nach 22 Uhr oder nach 8 Uhr abends nicht mehr durch diesen Park gehen. Das sollte man sich auf jeden Fall ersparen, weil das im Grunde genommen genau die Ängste sind, die die Kinder haben, die bei den Kindern dann wieder Schuldgefühle und Schamgefühle auslösen und wo man dann den Kindern nichts Gutes tut. Und das vierte wäre versuchen, ruhig zu bleiben. Also habe ich eben schon gesagt, nicht nur ruhig zuhören, sondern auch ruhig zu bleiben und nicht, weiß ich nicht, Drohungen ausstoßen - wenn ich den erwische, dann, weiß ich nicht, xy, schlage ich ihn zusammen oder andere Dinge, das könnte bei Vätern ja mal eher der Fall sein. Denn das sind die Dinge, die die Kinder fürchten. Und dann dem Kind signalisieren, ich glaube dir und ich werde dir jetzt helfen und wir gucken mal zusammen, wie wir das hinkriegen, dass du so was nicht mehr erleben musst. Das wären, glaube ich, gute Dinge. Und ich glaube, man kann als nächstes als Elternteil sich dann auch gerne selber Hilfe holen bei einer Fachberatungsstelle, um zu gucken, wie man in diesem Fall, weil alle Fälle sind unterschiedlich. Es gibt nicht den Fall, wie man in diesem Fall ordentlich vorgehen kann.
Nadia Kailouli [00:10:12] Jetzt, wenn man ihnen zuhört, dann leuchtet das einem total ein und man hat das Gefühl, man muss sich noch vor dem Missbrauch damit auseinandersetzen. Das wollen ja viele Eltern nicht. Also das habe ich auch in der Zeit gemerkt, seitdem ich hier diesen Podcast mache, dass viele Eltern, zum Beispiel aus meinem Freundeskreis, gar nicht so im Detail darüber Bescheid wissen wollten, was denn hier besprochen wird. Und auch von den Gästen, die wir hier hatten, war immer das Thema Eltern, ah, schwierig. Wie kriegt man denn Eltern dafür sensibilisiert, dass sie sich vielleicht jetzt schon mal ihr Buch durchlesen, obwohl gar kein Missbrauch in der Familie bisher stattgefunden hat und hoffentlich auch nicht stattfinden wird. Aber man weiß es, die Zahlen sprechen für sich, es betrifft eben sehr, sehr viele Kinder und Jugendliche. Weil wenn man dann auf einmal damit konfrontiert ist und sich davor ja noch nie mit dem Thema auseinandergesetzt hat, so wie sie jetzt geschildert haben, es gibt diese vier Punkte, wie man reagieren sollte, dann reagiert man oft falsch.
Dirk Bange [00:11:05] Also für mich würde das noch viel früher anfangen. Also ich würde ja eigentlich davon ausgehen, dass in der Schule das Thema sexualisierte Gewalt sozusagen Thema ist. Im, weiß ich nicht, Biologie-, im Sexualkundeunterricht, je nachdem, wo der richtige Ort dafür ist an der Schule, weil man hat auch festgestellt, dass wenn Jugendliche sich öffnen, sie sich eher immer ihren Mitschüler*innen oder ihren Freund*innen, ihren Gleichaltrigen gegenüber öffnen und nicht gegenüber den Eltern, weil sie bei den Eltern das befürchten, was ich eben schon gesagt habe, dass sie dann ausgeschimpft werden oder ihnen nicht geglaubt wird und so weiter und so fort. Deswegen gehört es meiner Ansicht nach in den Schulunterricht, Kinder und Jugendliche auch darauf vorzubereiten, dass zum Beispiel mal eine Freundin kommt oder ein Freund und sagt, stell dir mal vor, der hat mich so komisch angefasst und so und mir geht's schlecht damit und hast du eine Vorstellung, was ich jetzt machen kann und so. Man muss im Grunde genommen viel früher ansetzen und allgemeiner ansetzen. Und dann würde es natürlich auch dazugehören, dass man ein Stück weit die Kinder und Jugendlichen auf ihre Elternrolle vorbereitet, die sie ja irgendwann einnehmen. Und im Grunde genommen können sie diese Dinge, die sie gegenüber ihren Freundinnen und Freunden dann an den Tag legen, ruhig bleiben, nicht sagen, hör mal, warum hast du das auch gemacht und so - das könnten sie im Grunde genommen übertragen dann, auch, wenn sie Papa und Mama werden oder geworden sind.
Nadia Kailouli [00:12:27] Wie gehen dann Eltern dann weiter mit ihren Kindern vor? Also wenn jetzt dieser Missbrauch offengelegt worden ist, in der in der Familie, das Kind hat sich den Eltern, der Mutter, dem Vater anvertraut - nehmen wir jetzt mal das Beispiel, dass der Missbrauch eben nicht durch Mutter oder Vater innerhalb der Familie, innerhalb der Elternteile stattgefunden hat - wie geht man dann weiter?
Dirk Bange [00:12:47] Also ich würde, wenn ich dann Elternteil wäre und mir sehr unsicher wäre, ich würde auf jeden Fall eine Fachberatungsstelle aufsuchen und mit denen mal darüber sprechen, was denn jetzt die nächsten richtigen Schritte sind. Denn das kann man jetzt hier nicht generell sagen, das hängt von den Fall-Konstellationen ab. Sie können ja in bestimmten Situationen das Kind direkt schützen, indem sie sagen, der Kontakt wird jetzt unterbrochen, du brauchst da nicht mehr hinzugehen, zum Beispiel zum Fußball oder wo auch immer hin. Dann hat man das Kind gesichert, aber man hat als Elternteil natürlich möglicherweise auch eine Verpflichtung anderen Kindern gegenüber. Deswegen würde ich mich da immer dann auch von einer Fach-Beratungsstelle beraten lassen. Und dann muss man sich natürlich auch die Fragen stellen, aber die muss man auch mit dem Kind besprechen. Will man zum Beispiel eine Strafanzeige machen oder nicht? Und braucht das Kind Hilfen? Das ist ja auch entscheidend. Zum Beispiel dann eben mit Fachkräften darüber beraten, braucht das Kind eine Therapie? Oder braucht es eine Beratung? Oder eine Gruppe zumindest, wo es sich mal aussprechen kann? Also ich würde solche Schritte gehen und würde in der Regel nicht versuchen, das alleine zu lösen. Das ist zu schwierig und das sind auch zu viele schwierige Fragen. Und was ich immer machen würde, man kann den Kindern nicht zu 100 % versprechen, dass nicht mal was passiert, was sich die Kinder nicht wünschen. Ich würde immer mit den Kindern darüber sprechen, was denn die Kinder für die nächsten richtigen Schritte halten, um die Kinder einzubeziehen. Und so Geschichten mit Strafverfahren sind sehr, sehr komplex, auch hinsichtlich der Frage dann, wie "gute" Zeug*innen sind die Kinder und solche Fragen stellen sich. Deswegen würde ich immer raten, mir selber Hilfe zu holen.
Nadia Kailouli [00:14:24] Nun sagen sie es ja eben, dass die Eltern jetzt erst mal gucken, wahrscheinlich in erster Linie, okay, wie schütze ich mein Kind, wie rette ich mein Kind, wie helfe ich meinem Kind? Was viele Eltern dabei natürlich dann auch vergessen und dann später merken, dass es auch was mit ihnen gemacht hat, mit den Eltern selbst.
Dirk Bange [00:14:39] Ja, natürlich. Also ich war jetzt sehr bei den Kindern, das ist richtig. Aber natürlich hat sowas in der Regel auch Einfluss auf die Beziehung. Also bei innerfamiliären Missbrauch sagt man ja, dass das für die betroffene Mutter, also die nicht missbrauchenden Mutter oder den nicht missbrauchenden Vater, eine der größten Erschütterungen sind, die man sich vorstellen kann. Stellen sie sich vor, sie haben irgendeinen Mann geheiratet, oder eine Frau, egal, haben dem vertraut, haben ihr Leben darauf aufgebaut und müssen plötzlich feststellen, dass diese Person ihr eigenes Kind, also ihr gemeinsames Kind, missbraucht hat. Das ist ja eine, glaube ich, der schlimmsten Situationen, die man sich als Papa oder auch als Mama vorstellen kann. Das sind einschneidende Dinge und die haben natürlich dann Einfluss auf die ganze Beziehung, auf die Sexualität, aber auch auf die weitere Lebensplanung. Aber selbst bei außer-familialem Missbrauch müssen sie gucken, was bedeutet das für die Beziehung? Man kann feststellen, zum Beispiel, dass Mamas dann eher zu Hause bleiben und sich ums Kind kümmern, also ihre Arbeitszeit reduzieren. Papa arbeitet noch mehr. Und natürlich auch, was bedeutet das für die Sexualität? Das sind Themen, die ungerne oft besprochen werden, die aber, glaube ich, dazugehören, so dass man, wenn man sich Hilfe holt, wenn man mit der Situation nicht klar kommt, nicht nur aufs Kind gucken muss, sondern auch darauf gucken muss, was bedeutet das eigentlich für unsere Beziehung? Und wenn es zum Beispiel dann die Großeltern sind, die als Täter infrage kommen, dann sind das ja auch noch mal Fragen, die man adressieren muss. Was bedeutet das für mich gegenüber meinen Eltern? Was bedeutet das gegenüber den Schwiegereltern? Und so weiter und so fort.
Nadia Kailouli [00:16:11] Und wie vermittelt man dem Kind jetzt am besten, das liegt nicht an dir, du hast alles richtig gemacht, dass du uns das erzählt hast.
Dirk Bange [00:16:16] So, wie sie es formuliert haben. Und wenn man das dann neben dem, ich sage mal, neben dem Verbalen, der Formulierung, es ist natürlich auch immer so, wie bringen sie das rüber? Also sie können Kindern immer sagen, du bist nicht schuld. Das Kind sagt dann aber, ich bin doch schuld. Also sie müssen es auf der verbalen Ebene machen, aber sie müssen es auf der emotionalen Ebene auch rüberbringen. Das Kind hat da keine Schuld dran und wir werden jetzt gucken und nicht das Kind. Die Erwachsenen werden jetzt gucken, dass die Situation sich so gestaltet, dass kein Missbrauch mehr passiert und dass es allen wieder gut und möglichst besser geht oder besser und möglichst gut.
Nadia Kailouli [00:16:52] So, jetzt erinnere ich mich gerade an einen Gast von uns, der auf die Frage, warum haben sie sich nicht ihren Eltern früher anvertraut, geantwortet hat, ich wollte nicht, dass meine Eltern den gleichen Schmerz spüren, den ich ja gespürt habe. Das konnte ich meinen Eltern nicht antun. Wie können Eltern Kinder davon frei machen, dass sie das ertragen, diesen Schmerz?
Dirk Bange [00:17:15] Das ist schwierig, weil ihr Interviewpartner, der hat ja genau das verbalisiert, was viele davon abhält, ihre Eltern zu informieren. Ja, das meine ich auch mit den Abwägungs-Schritten. Die Kinder und die Jugendlichen überlegen ganz genau, wann mache ich das auf, kann ich das meinen Eltern zumuten und so weiter. Und da würde meine Botschaft an die Kinder immer lauten, du bist Kind oder Jugendlicher und deine Eltern sind die Erwachsenen und die müssen dann mit dem Schmerz auch leben können und auch umgehen können.
Nadia Kailouli [00:17:46] Wie ist das im Erwachsenenalter? Viele vertrauen sicher ja erst ihren Eltern im Erwachsenenalter an und auch da erleben dann natürlich erwachsene Eltern, alte Eltern einen Bruch und verzweifeln daran, dass sie über Jahrzehnte etwas nicht gemerkt haben, auch nicht gemerkt haben, dass ihr Kind seit Jahrzehnten etwas mit sich herumträgt, wovon wir Eltern nie was wussten.
Dirk Bange [00:18:08] Ja, das ist eine schwierige Entscheidung, aber wenn man sich, glaube ich, dann mal reinversetzt, würde ich immer sagen, also wenn meine eigenen Kinder mir das erzählen, selbst später erzählen würden, wäre ich immer "fröhlich", weil es zeigt, dass das Vertrauen doch da ist. Vielleicht war es in der Situation nicht da, vielleicht haben die auch den Eindruck gehabt, ich hätte es damals nicht ausgehalten. Jetzt haben sie das und ich finde das eigentlich gut.
Nadia Kailouli [00:18:31] Haben sie die Erfahrung in ihrer Laufbahn, die sie ja schon haben, die Erfahrung gemacht, dass sie gemerkt haben, manche Eltern merken was, aber sie wollen es nicht sehen und sie verschließen sich wirklich davor.
Dirk Bange [00:18:44] Das ist ein relativ großes Problem, dass man, wenn sie sich diese großen Missbrauchsfälle, Staufen und Bergisch-Gladbach und so angucken, da waren ja zum Teil dann die...nicht missbrauchenden Eltern gab es überhaupt nicht, also die waren da irgendwie alle beteiligt. Und das ist eben für Kinder das Problem, wenn sie merken, dass eigentlich ihre Mama oder ihr Papa ihnen nicht hilft. Sie wissen eigentlich, dass Missbrauch passiert ist und sie helfen nicht. Und da machen sich die Eltern natürlich, und jetzt nehme ich das Wort mal bewusst den Mund, mitschuldig.
Nadia Kailouli [00:19:12] Ja, wie geht man dann damit um, mit mitschuldigen Eltern, die in ihrer Eltern-Verantwortung dann noch ranzunehmen? Weil für das Kind bleibt es ja Mama und Papa.
Dirk Bange [00:19:22] Ja, aber sehen sie, also aus Kinderperspektive ist es so, selbst bei schlimmen Missbrauch wollen die Kinder, dass ihre Mama und ihr Papa ihre Mama und ihr Papa bleiben. Also die Aufgabe der Fachkräfte wäre es dann, die Eltern darin zu unterstützen, sich damit auseinanderzusetzen, warum sie das nicht gemerkt haben oder warum sie, obwohl sie es gemerkt haben, nichts gemacht haben, um im Grunde genommen für ihre Kinder wieder in die Elternrolle zurückkehren zu können, die sie teilweise verlassen haben. Und ich glaube, das wünschen sich die meisten Kinder, weil die Reaktion ist ganz häufig zu sehen, dass die Kinder auch nicht weg wollen aus der Familie. Das sind ja die Sorgen, die die Kinder haben, deswegen überlegen die auch häufig länger. Und deswegen noch mal, kein Vorwurf an die Kinder. Die überlegen aus guten Gründen, wann wem sie was erzählen. Und von daher wäre ich da immer der Meinung, da sind wir Fachkräfte oder sind die Fachkräfte gefragt, die Eltern dabei zu unterstützen, das aufzuarbeiten und wieder, wenn die Kinder das wollen oder wenn die jungen Erwachsenen das wollen, eine Beziehung zu den Eltern wieder herzustellen. Es gibt auch, und das ist auch legitim, es gibt junge Erwachsene, die sagen, ich will mit meinem Alten, also ich sage es mal so ein bisschen umgangssprachlich, nichts mehr zu tun haben. Oder mit meinen Eltern, die haben damals total versagt. Und dann bin ich keiner, der sagt, wir müssen hier ewig Aussöhnung machen, sondern es ist eine erwachsene Entscheidung, zu denen die Menschen dann stehen können oder auch nicht. Man kann in der Beratung dann darüber sprechen, warum das so ist oder auch nicht. Aber ich würde niemals dazu raten, diese Kinder dann dazu zu nötigen oder die jungen Erwachsenen zu nötigen, Kontakt zu ihren Eltern wieder herzustellen.
Nadia Kailouli [00:21:00] Jetzt möchte ich noch mal auf auf das Thema Mutter zu sprechen kommen, weil sie ja in ihrem Buch das ja auch beschreiben, dass die Konzentration oft auf der Mutter dann liegt. Hat die Mutter nicht genügend aufgepasst? Hat die Mutter nicht genügend hingeschaut? Warum liegt die Mutter so im Fokus und nicht eben beide Elternteile, wie es ja in der Erziehung heutzutage auf jeden Fall auch hochgehalten wird, dass beide Elternteile gleichberechtigt in der Kindeserziehung agieren sollen.
Dirk Bange [00:21:28] Sagen wir mal so, ich glaube, es gibt immer noch Zuschreibungen. Mama ist die Person, die mich schützt. Ich hoffe, so wie sie, wenn ich ehrlich bin, dass sich das verändert hat. Ich hoffe auch, dass viele Väter ein anderes Väter-Bild erleben, aber ich glaube, ganz tief in uns drin ist es noch immer so- die Mama. Wir müssen daran arbeiten, sie haben völlig recht, dass es nicht die Mama ist und es auch der Papa sein kann, in gleicher Weise. Und dass aber auch geguckt wird, was können die realistisch machen? Wenn sie sich die großen Mißbrauchsfälle angucken, dann sind da abgefeimte Täter, die mit besten Täter-Strategien versuchen, den Missbrauch durchzusetzen. Und da ist man auch als Elternteil nicht gefeit, "ohnmächtig" in der einen oder anderen Situation gewesen zu sein. Aber bei der Mama, da haben wir ein Mama-Bild. Die Mama ist für uns immer noch die wichtigste Person, in den meisten Fällen, und das können sie auch in der Literatur, das können sie auch sehen, wenn sie Fortbildungen machen. Früher habe ich dann immer gefragt, wenn ich so eine Mama hätte wie du, dann wäre ich schon längst ausgezogen. Dann sagen fast alle, nein, so schlimm ist Mama nicht. Oder auch Papa. Also so. Das steckt tief in uns drin, daran müssen wir arbeiten, das müssen wir verändern. Weil die Zuschreibungen an die Mütter waren manchmal so, dass sie eigentlich die schlimmeren Personen waren, obwohl sie das Kind nicht missbraucht haben, als die Täter. Und das kann nicht sein. Der Hauptverantwortliche - oder die Täterin, die Hauptverantwortliche - bleibt die Täterin und bei den anderen müssen wir gucken, was die realistischen Möglichkeiten sind, ihre Kinder zu schützen. Und oder, darüber sprechen wir ja heute, wenn ein Kind sich anvertraut hat, was man dann am besten machen kann, um das Kind zu schützen und das Kind zu unterstützen.
Nadia Kailouli [00:23:10] Jetzt wollen wir auch darüber sprechen, wohin vertrauen sich denn Kinder an, wenn nicht zu den Eltern? Und wie gehen Eltern dann damit um, wenn sie das erfahren? Angenommen, ein Kind vertraut sich eben der besten Freundin an oder eben den Eltern der Freundin und das erfahren dann die Eltern, das ist dann auch für die Eltern ja ein wahnsinniger Schock zu wissen, mein Kind vertraut eher anderen als uns.
Dirk Bange [00:23:31] Ja, in der Tat, also ob's ein Schock ist, weiß ich jetzt nicht, aber das ist mindestens ein Schrecken, da haben sie völlig recht. Ja, da muss man sich natürlich als Elternteil fragen, warum hat das Kind das nicht gemacht? Habe ich vielleicht, zum Beispiel, bestimmte Dinge übersehen, so soft-Hinweise, die die Kinder geben? Ich will da nicht mehr zum Sport, ich will nicht mehr zum Fußball, da ist immer so was Komisches und so - und haben darauf nicht reagiert. Das muss man sich natürlich angucken, zum Einen, und zum Anderen ist es ja so, haben sie eben in bestimmten Fragen ja auch angesprochen, dass die Kinder auch Angst haben, dass sie den Eltern eine Last aufbürden usw. Und dann gehen sie manchmal eben zu anderen, also zu Eltern von Freundinnen gehen sie gar nicht so häufig, sondern in der Regel gehen sie zu anderen Jugendlichen und beziehen die ein.
Nadia Kailouli [00:24:18] Wenn wir jetzt mal über Fälle sprechen von sexualisierter Gewalt, dass Kinder angefasst worden sind, sei es auch nur ein, zwei Mal, das ist ja eben auch schon sexuelle Gewalt, die ein Kind erlebt hat. Und das wird zu Hause erlebt und die Eltern wissen das und wissen, alles klar, der Turn-Trainer oder der Vater von der Nachbarsfrau, der hat meiner Tochter oder meinem Sohn mehrmals auf den Hintern gehauen und das wird zu Hause erzählt und die Eltern wissen das und sagen, ja, jetzt ist aber, es ist okay, wir wissen das jetzt, gut, dass du uns das erzählt hast, das macht er nicht noch mal, das sagen wir dem. Und damit das so ein bisschen verdrängen und abtun und damit ist die Welt schon wieder in Ordnung.
Dirk Bange [00:24:58] Also wenn die Eltern sagen, sie sagen das dem, da gehört schon erstmal was dazu. Stellen sie sich mal vor, sie haben ein befreundetes Paar oder so und dann gehen sie da hin und sagen, hör mal, was erlaubst du dir eigentlich gegenüber meiner Tochter und ich möchte das nicht mehr - oder gegenüber meinem Sohn. Schon dazu gehört was. Aber sie würden dann ja ihrem Kind das Signal geben, ich habe das ernst genommen, ich bin zu meinem Kumpel gegangen und habe ihm ganz klar gesagt, wie das ist. Und ich habe ihm auch gesagt, wenn du das nochmal machen solltest, meine Tochter wird mich sofort informieren und dann müssen wir gucken, ob wir das weiter eskalieren. Das wäre ja eine Reaktion, die wäre ja so ganz okay. Aber ich glaube eher, dass es dann oft Reaktionen gibt...man weicht dann doch dieser Konfrontation mit dem Kumpel oder mit dem befreundeten Ehepaar oder mit dem Fußballtrainer aus. Wobei man immer noch sagen muss, im Freundeskreis ist auch noch mal was anderes. Beim Fußballtrainer gibt es auch den Sportverein und man hätte meiner Ansicht nach eine gewisse Verpflichtung, andere Kinder davor zu schützen. Weil in der Regel ist das ja nicht ein einmaliges Ereignis, sondern solche Menschen suchen sich dann ja häufig auch noch weitere Opfer.
Nadia Kailouli [00:26:06] Bleiben wir mal beim Thema Verein oder auch die Kita. Wie ist das dort? Also ich meine da, das Kind verbringt ja fast genauso viel Zeit mittlerweile in der Kita wie wie zu Hause. Von morgens um acht bis abends um 16:00 sind die Kinder dann da betreut. Da kann auch viel passieren, da kann aber auch viel auffallen. Welche Rolle spielt so eine Kindertagesstätte?
Dirk Bange [00:26:29] Sie sprechen beide Punkte an, das gilt für Schulen auch. Zum Einen, da arbeitet ja auch die Unabhängige Beauftragte, also Frau Claus, arbeitet ja daran, dass die Schulen, die Regeleinrichtungen, die Kitas, aber auch die Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, um mal ein paar andere zu nennen, zu Kompetenz-Orten werden. Kompetenz-Ort meint, die Fachkräfte wissen, es gibt sexualisierte Gewalt und sie reagieren sensibel, wenn Kinder, zum Beispiel, ihnen Hinweise geben oder merken überhaupt, dass das Kind sich verändert. Das wären dann die Regeleinrichtungen werden zu Kompetenz-Orten und dadurch könnte ja Missbrauch dann aufgedeckt werden und dann könnte man den Kindern helfen. Das ist auch immer ein Teil der Prävention. Wenn man Prävention macht und wenn die Einrichtungen Prävention machen sollen, lernen sie auch selbst, ich sage mal, hinzuschauen, die Realitäten wahrzunehmen. Das ist das Eine und das Andere ist, dass wenn innerhalb der Institutionen was passiert, auch daran arbeitet ja die UBSKM schon seit langem, dass dann entsprechende Abläufe greifen. Und der Bundesgesetzgeber hat alle Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen dazu verpflichtet, Schutzkonzept vorzulegen. Und die sehen in der Regel dann vor, sagen wir mal, es gibt einen Hinweis, dass ein Erzieher übergriffig gewesen ist oder sexualisierte Gewalt ausgeübt hat, wie dann die Abläufe vonstatten gehen müssen. Das ist ein wichtiger Punkt, deswegen Kompetenz-Ort und eben, wenn was passiert, die Einrichtungen müssen fit sein, um den Kindern sozusagen beizustehen.
Nadia Kailouli [00:28:02] Jetzt haben sie 2015 in Hamburg alle Kitas dazu verpflichtet, ein Schutzkonzept zu haben. Woran erkenne ich das denn? Muss ich dann fragen? Muss so eine Kita das auf die Website packen?
Dirk Bange [00:28:13] Sie müssen sich das so vorstellen, also wenn sie eine neue Kita aufmachen wollen, dann brauchen sie eine Betriebserlaubnis. Dann müssen sie zum Beispiel nachweisen, 100 Kinder wollen sie betreuen, brauchen sie so und so viel Toiletten, so viel Personal. Und sie müssen bei mir, also bei der Kita-Aufsicht und Träger-Beratung, ein Schutzkonzept einreichen. Dieses Schutzkonzept wird dann überprüft und dann wird geguckt, haben die das, was in ein gutes Schutzkonzept gehört, auch aufgeschrieben? Das nennt sich sozusagen Betriebserlaubnis-Verfahren und bei denen, die schon eine Kita betreiben, also nicht eine neue Betriebserlaubnis brauchen, gucken wir uns die Schutzkonzept auch an. Wir haben in Hamburg so ein neues Institut, das nennt sich Kita-Prüf, die gehen einmal in der Legislatur bei jeder Kita vorbei und bei der Prüfung oder zu der Prüfung von Kita-Prüf gehört auch ein Blick in die Schutzkonzept. Also haben sie die weiterentwickelt und so weiter und so fort. Das müsste meiner Ansicht nach ein bundesweiter Standard werden, das müsste sich dann irgendwann auch im Schulbereich so abspielen. Da gibt es auch von der KMK, also der Kultusministerkonferenz, schon entsprechende Aktivitäten und einzelne Bundesländer haben auch schon Schutzkonzept für Schulen gesetzlich verpflichtend gemacht.
Nadia Kailouli [00:29:26] Und muss die Kita das auf die Website packen, dass sie ein Schutzkonzept haben, oder nicht?
Dirk Bange [00:29:31] Würde ich an deren Stelle machen. Ob es eine gesetzliche Verpflichtung gibt, das weiß ich jetzt nicht, da fragen sie mich was.
Nadia Kailouli [00:29:37] Weil ich war gestern, weil ich das jetzt gelesen hatte, dass das seit 2015 ist und ich lebe auch in Hamburg und ich habe dann gleich mal auf die Kita-Webseite von der Tochter eines Freundes geschaut und dachte so, hm, da steht gar nichts, dass sie ein Schutzkonzept haben.
Dirk Bange [00:29:51] Ja, da sehen sie mal, das nehme ich mal mit. Sie könnten aber, als Elternteil könnten sie hingehen und sagen...aber welches Elternteil kennt schon das SGB8. Sie meinten ja, ich komme so aus der Praxis und ein Elternteil weiß das nicht. Aber sie könnten ja als Elternteil fragen, haben sie eigentlich Konzepte zum Umgang mit sexualisierter Gewalt, wenn mal bei ihnen was passiert? Sie können auch fragen, das finde ich in dem Kontext nicht so schlecht, gibt es eigentlich ein Konzept für sexuelle Bildung in der Kindertagesbetreuungseinrichtung wo sie dann hingehen wollen, weil das zum Beispiel für Eltern auch ein wichtiges Thema ist. Und auch da zieren sich offensichtlich einzelne Kindertagesbetreuungseinrichtungen, diese Dinge offenzulegen und sich damit auseinanderzusetzen.
Nadia Kailouli [00:30:33] Genau. Ja, mir ist das halt nur aufgefallen. Bei vielen Turnverein sieht man das ja, dass direkt auf der Startseite eben so Kinderschutz-Konzepte direkt aufgelistet sind, dass die Eltern erst gar nicht vielleicht in die Situation kommen beim Erstgespräch, wo das Kind ja oft dabei ist, zu fragen, sagen sie, haben sie da was oder nicht? Sondern man weiß auf der Webseite, ahja, das haben die, dann gehen wir da mal hin. Und dann habe ich noch eine andere mir angeguckt, dachte ich so, warum steht das denn nicht bei euch auf der Startseite?
Dirk Bange [00:30:57] Ich hab Mittwoch VK Kita, dann kann ich ja mal fragen. Also da kommen die Kita-Verbände, die mit mir den Landesrahmenvertrag verhandeln und im Landesrahmenvertrag ist zum Beispiel in Hamburg festgelegt, dass man Schutzkonzept vorlegen muss und haben muss und das kann ich ja mal fragen, warum die da eigentlich so bescheiden mit umgehen.
Nadia Kailouli [00:31:16] Dann sehen sie, dann nehmen nicht nur ich was von ihnen mit, sondern sie auch noch was von mir. Das ist doch herrlich!
Dirk Bange [00:31:24] Wunderbar, so soll das sein.
Nadia Kailouli [00:31:25] Ja, so soll das sein, das ist wunderbar. Aber jetzt würde ich gerne noch mal hinten raus, weil wir haben jetzt natürlich sehr viel. Also ich bin keine Mutter, aber ich versuche mich gerade jetzt in die Eltern hineinzuversetzen, die uns jetzt hier so zuhören und sich dann denken, oh mein Gott, oh mein Gott! Und das Letzte, was wir natürlich erreichen wollen, ist, dass das Thema noch mehr tabuisiert wird, weil es so schwer ist, das soll es ja nun nicht. Deswegen, vielleicht können sie uns hinten raus noch mal ein bisschen Hoffnung geben, warum es so gut ist, dass wir darüber reden und warum es auch so gut ist, dass man eben, ja, sagt, schauen sie sich Schutzkonzept an. Wenn Ihr Kind auf sie zukommt, dann reagieren sie so - ich weiß nicht, ist es hilfreich, Ihr Buch vielleicht einfach mal zu lesen?
Dirk Bange [00:32:06] Also die allerbeste Botschaft ist dabei, wenn sie als Elternteil einigermaßen einfühlsam und hilfreich reagieren, freuen sich und sind die Kinder im Grunde genommen - das ist jetzt ein komischer Ausdruck im Kontext von sexualisierter Gewalt - in gewisser Weise "glücklich". Sie sind entlastet von dem Druck, sie merken, Mensch, Mama und Papa, die helfen mir, das ist ganz, ganz, ganz wichtig. Es ist sogar so wichtig, dass man in Studien festgestellt hat, wenn die Eltern so reagieren, haben die Kinder im Anschluss deutlich weniger Folgen durch die sexualisierte Gewalt, als wenn die Eltern nicht einfühlsam reagieren. Das heißt, liebe Eltern, wenn sie so hingucken und ihren Kindern beistehen, tun sie richtig viel für ihre Kinder. Die Folgen der sexualisierten Gewalt sind weniger stark. Sie sind da, sie verschwinden deshalb nicht, aber sind weniger stark ausgeprägt. Und ich sage ihnen auch, für ihre Beziehung und für ihr weiteres Leben ist das auch eine schöne Geschichte. Sie können hinterher vielleicht sogar stolz zurückzucken, selbst wenn ihr Kind missbraucht worden ist, stolz zurückgucken und sagen, wir haben aber damals toll reagiert, wir haben unserem Kind geholfen, wir haben deswegen heute noch eine gute Beziehung zu unserem Kind und was will man mehr?
Nadia Kailouli [00:33:19] Ich sage ihnen, was man mehr will und zwar will man, dass es erst gar nicht so weit kommt. Diese Frage, wirklich, also seitdem ich diesen Podcast mache, werde ich oft einfach nur gefragt, naja, und, was kann man denn jetzt machen, damit das gar nicht so weit kommt? Also ich kann es nicht beantworten. Es gibt viele Faktoren, natürlich, wie eben, was sie eben ja schon sagten, in der Schule frühzeitig schon aufklären, Schutzkonzept in den Kitas, in den Schulen, sexuelle Aufklärung und so weiter. Aber sie sind ja wirklich seit Jahrzehnten in diesem Fachgebiet unterwegs. Was antworten sie Eltern, die sagen, Herr Bange, schön und gut, wie wir dann damit umgehen sollen, wenn es rauskommt. Aber wir wollen ja erst gar nicht, dass es passiert. Was können wir tun?
Dirk Bange [00:33:54] Ja, also da können die Eltern, meiner Ansicht nach, neben dem, was wir schon besprochen haben, nicht allzu viel tun. Das ist natürlich eine gesellschaftliche Aufgabe, zum Einen. Das hat sich ja auch in den letzten Jahren deutlich verändert und verstärkt. Wenn sie gucken, die großen Fälle, die aufgedeckt worden sind, hatten was damit zu tun, wie stark die Polizei auch Manpower und Frauenpower investiert hat. Das heißt, es gibt eine gesellschaftliche Ebene seitens der Strafverfolgung auch zu gucken, den entsprechenden Tätern und Täterinnen das Handwerk zu legen, das ist das Eine. Das andere ist natürlich, ich habe gerade auf der Herfahrt noch was gelesen zu sexuell aggressiven Kindern und Jugendlichen, also auch diese Zielgruppe mit ins Auge zu fassen, denn die meisten Sexualstraftäter fangen mit 15, 16, 17 an. Wenn man also relativ früh merkt, guck mal, der hat als 14-, als 15-jähriger sexuelle Übergriffe begangen, dann braucht der Hilfe. Wissen sie, dann sind die Kinder, die er missbraucht hat, oder die Gleichaltrigen, die er missbraucht hat, sind missbraucht, klar, natürlich. Aber im weiteren Lebensweg könnte man vielen, vielen Kindern helfen und so könnte man peu a peu daran arbeiten, ich sage mal, das Thema sexualisierte Gewalt zu einem kleineren Thema werden zu lassen. Ob man es sozusagen ganz aus der Gesellschaft bekommt, das wage ich zu bezweifeln. Sie haben ja gesagt, ich mach das schon lange. Ich habe historisch geguckt: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder hat es auch schon im alten Griechenland, im alten Rom und so weiter gegeben. Aber nie war das Thema so stark in der Diskussion wie heute und ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist. Deswegen bin ich mit Kerstin Claus und dem UBSKM und der ganzen Diskussion so zufrieden, weil die UBSKM sorgt dafür, dass das Thema im gesellschaftlichen Bewusstsein bleibt, ein Stück weit. Wir sitzen ja hier auch bei Medien, ist auch wichtig, dass sich die Medien dieses Themas annehmen, denn wir haben in der Vergangenheit festgestellt, wir hatten immer mal so eine Welle, wo diskutiert wurde, ich war auch schon in den Neunzigern mal so in Talkshows und so ein Zeug, und dann ist es wieder ein Stück weit eingeschlafen, erschreckenderweise. Und erst dann mit den Missbrauchsskandalen 2010, in der katholischen Kirche und anderswo, hat es wieder den Fokus gefunden, den es vielleicht vorher schon mal ein Stückchen gehabt hat. Und wir dürfen einfach nicht nachlassen. Wir müssen die ganze Zeit weitermachen, denn die Folgen sexualisierter Gewalt sind für die Kinder, aber auch für die nicht missbrauchenden Elternteile profund. Und deswegen muss die Gesellschaft alles tun, um hier dem Ganzen zu begegnen.
Nadia Kailouli [00:36:30] Wie ist das für sie ganz persönlich? Diese Themen begleiten einen ja dann auch ins Privatleben, man spricht vielleicht mit mit Freunden darüber. Ist das ein Thema, wo sie sagen, sie können abschalten, dass man sagt, so, das lasse ich jetzt im Büro, ich fahr nach Hause und die Welt ist schön?
Dirk Bange [00:36:45] Ja, naja, die Welt ist schön ist eine andere Frage. Aber sie müssen schon, wenn sie es so lange machen wollen und auch wer in einer Beratungsstelle arbeitet, der muss sich schon abgrenzen können. Wir haben zum Beispiel früher auf Veranstaltungen, Ursula Enders und ich haben manchmal Veranstaltungen gemacht, und abends war Schluss. Also dann wurde auch nicht mehr über das Thema geredet. Wobei wir da immer mal wieder auf Betroffene gestoßen sind, die natürlich abends dann doch drüber sprechen wollten, dann ist man schon auch offen. Aber sie brauchen auch Erholung für sich, sonst halten sie das nicht durch. Und die Motivation ist - ich glaube, wir haben in den ganzen Jahren jetzt viel bewegt. Ich habe ja eben schon mal gesagt, wahrscheinlich können jetzt Kinder früher Hilfe bekommen, dafür lohnt es sich allemal. Und von daher mache ich das gerne und werde das auch immer weitermachen. Ich bin ja eigentlich im Hauptamt für Kindertagesbetreuung und Familienpolitik in Hamburg zuständig, aber der Kinderschutz hat mich nie verlassen. Und das wird auch so bleiben, weil ich glaube, dass wir da weiterhin Veränderungen brauchen. Und ich bin voller Motivation, noch was zu machen in der Richtung.
Nadia Kailouli [00:37:46] Ich sage an dieser Stelle Dirk Bange Vielen, vielen Dank. Wer heute so einen Einblick darein gegeben haben, wie Eltern eben damit umgehen können, wenn ihre Kinder Opfer von sexueller Gewalt geworden sind und was da der richtige Umgang wäre. Vielen Dank!
Dirk Bange [00:38:00] Ja.
Nadia Kailouli [00:38:02] Ein wirklich interessantes Gespräch mit Herrn Bange, fand ich. Und ich finde auch das, was er gesagt hat, das würde ich gerne noch mal wiederholen, weil das ja wirklich wichtig ist. Ein Kind trifft niemals die Schuld. Ich finde, das ist wirklich so eine Aussage, die er getroffen hat, die man sich wirklich verinnerlichen muss, dass man als Eltern oder auch als Pädagoge einem Kind niemals die Schuld dafür geben kann, was mit diesem Kind passiert ist. Und das fand ich wirklich wichtig, dass er das noch mal gesagt hat. Ja, und ich hoffe natürlich, dass viele Eltern jetzt eben nicht demotiviert sind und Angst bekommen haben, sondern eher ja, sich was Positives daraus holen können. Und wenn Missbrauch in der Familie passiert ist, wie sie dann mit ihren Kindern umgehen können, mit sich selbst umgehen können und vielleicht auch noch mal ganz klar die Hinweise, die er gegeben hat, wenn einem Auffälligkeiten bei dem Kind auffallen, dass man da eben wachsam bleibt und hinschaut.
Mehr Infos zur Folge
Bereits in den 90er Jahren hat sich Dirk Bange mit dem Missbrauch von Jungen beschäftigt und schon vor 20 Jahren hat er das „Handwörterbuch Sexueller Missbrauch“ verfasst.
Er sagt, dass gerade Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, besser geschult werden müssen. Unter anderem auch, damit besser und schneller erkannt wird, wenn ein Kind missbraucht wird, denn das ist wirklich schwierig:
„Es gibt kaum Symptome, an denen Sie direkt erkennen können: Ein Kind wird missbraucht. Für nahezu jedes Symptom gibt es auch andere Erklärungen. Wenn beispielsweise Eltern sowieso schon in einer Trennungssituation sind, das Kind komisch reagiert, wieder einnässt usw. – dann denkt die Mutter oder der Vater: Das hat etwas mit der Trennungssituation zu tun. Hat es vielleicht auch. Es kann aber eben auch ein Hinweis auf sexualisierte Gewalt sein. Herauszufinden, was es ist, ist schwierig.”
Heute versucht Dirk Bange das, was er erforscht und in vielen Büchern aufgeschrieben hat, als Leiter der Abteilung Familie und Kindertagesbetreuung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration in Hamburg umzusetzen. Ihm ist es wichtig, dass Fachkräfte lernen, die Sicht der Kinder immer mitzudenken:
„Aus Kinderperspektive ist es so: Selbst bei schlimmstem Missbrauch wollen die Kinder in der Regel, dass ihre Mama und ihr Papa die Eltern bleiben, die wollen nicht weg aus der Familie, die wollen nicht, dass alles auseinanderbricht. Das sind ja die Sorgen, die die Kinder haben. Deswegen überlegen Kinder auch häufig länger, ob sie davon erzählen oder nicht. Darum: Niemals ein Vorwurf an die Kinder: ‚Warum hast du das denn nicht schon früher erzählt?‘ Die überlegen aus guten Gründen, wann sie wem was erzählen.”
WEITERE INFOS + HILFEANGEBOTE:
Mehr über Dirk Bange:
Wikipedia | Dirk Bange
Hier geht es zum Dialogforum Kinder und Jugendliche:
Hamburg.de | Dialogforum Kinder und Jugendliche
Vortrag Dr. Dirk Bange „Macht und Machtmissbrauch bei sexuellen Übergriffen“:
YouTube | DKSB-Landesverband Sachsen e. V.
PDF zum Vortrag auf dem Fachtag „Gemeinsam schützen wir die, die Schutz brauchen“:
Kinderschutzbunz Sachsen | „Macht und Machtmissbrauch bei sexuellen Übergriffen“
TIDE TV Diskussion mit Dr. Dirk Bange:
YouTube | „Elternbildung und Kinderschutz“
Kompetenzraum Familie stärken:
Digitaler Fachtag | Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie
Dirk Bange empfiehlt ein Buch für Eltern:
Kinder beschützen!: Sexueller Missbrauch - Eine Orientierung für Mütter und Väter (Carmen Kerger-Ladleif)
Einige Veröffentlichungen von Dirk Bange:
- Eltern von sexuell missbrauchten Kindern: Reaktionen, psychosoziale Folgen und Möglichkeiten der Hilfe (2011)
- Sexueller Missbrauch an Jungen: Die Mauer des Schweigens (2007)
- Handwörterbuch Sexueller Missbrauch (2002)
- Sexueller Missbrauch an Kindern (1996)