PODCAST | Folge 45 | Oliver Berthold
Mit Dr. Oliver Berthold reden wir über die Medizinische Kinderschutzhotline. Dort können sich Ärztinnen und Ärzte beraten lassen, wenn sie einen Verdacht auf Kindesmisshandlung haben.
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[00:00:00.890] - Oliver Berthold
Und wir lassen auch nicht Ärztinnen und Ärzte auf Patienten los, die nicht wissen, wie man jemanden wiederbelebt. Aber wir lassen tatsächlich Kolleg*innen arbeiten, die nicht wissen, wie man blaue Flecke einordnet und wann man ein Kind schützen muss.
[00:00:15.480] - Nadia Kailouli
Hi. Herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. einbiszwei? Ja, genau. Ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin Nadja Kailouli und in diesem Podcast spreche ich mit Expert*innen, Journalist*innen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht so gut gehen sollte. Wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfeangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:59.220] - Nadia Kailouli
Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Das hat der Kinder und Jugendmediziner Dr. Oliver Berthold vor zwei Jahren in einem Interview gesagt, als es um Kleinkinder ging, die noch nicht mal laufen können. Oliver Berthold berichtete von Schütteltraumata und von Knochenbrüchen. Und das las sich alles entsetzlich. Oliver Berthold kennt sich da aus. Er ist nämlich Kinder und Jugendmediziner. Und er leitet die Kinderschutzambulanz der DRK Kliniken Westend in Berlin. Und er ist Teamleiter der medizinischen Kinderschutzhotline. Was das ist und was er und sein Team da genau machen, das erzählt er mir heute hier bei einbiszwei. Oliver Berthold Herzlich willkommen bei einbiszwei.
[00:01:37.260] - Oliver Berthold
Hallo, schön hier zu sein.
[00:01:38.460] - Nadia Kailouli
Du bist Teamleiter der Kinderschutzhotline und darunter kann man sich ganz ganz viel vorstellen. Aber als ich mich dann damit auseinandergesetzt habe, habe ich gemerkt: "Ach so, das ist eine Hotline, die sich vor allem an Ärztinnen und Ärzte richtet, die sich dort informieren können." Richtig?
[00:01:54.030] - Oliver Berthold
Genau. Nicht nur Ärzt*innen, sondern eben auch alle Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und eben auch Fachkräfte aus der Kinder und Jugendhilfe und von den Familiengerichten. Das ist allerdings später dazugekommen.
[00:02:04.500] - Nadia Kailouli
Was ist die Kinderschutzholtine genau? Ich rufe da an und was passiert dann?
[00:02:08.040] - Oliver Berthold
Dann hast du direkt eine Ärztin oder einen Arzt am Telefon und kannst einen Fall, der dir Sorgen macht, über ein Kind besprechen. Musst natürlich aufpassen, dass du nicht erkennbar über das Kind sprichst, sondern die Schweigepflicht bleibt gewahrt. Und dann ist es entweder so: Du bist Ärztin und machst dir Sorgen wegen eines körperlichen Befundes, du siehst blaue Flecken, fragst dich, wie die entstanden sein können. Die Eltern geben eine Information dazu, die dir nicht so ganz plausibel vorkommt und dann kann man das miteinander diskutieren.
[00:02:32.640] - Nadia Kailouli
Ich hatte eigentlich immer das Bild davon, dass wenn Ärztinnen oder Ärzte irgendwas an einem Kind feststellen, was Verletzung darstellt oder eben Hinweise darauf, dass da vielleicht ein Missbrauch stattfindet, dass man sich im Team unterhält oder Ärztinnen und Ärzte selbst schon wissen, wie sie das zu deuten haben. Ich habe nie damit gerechnet, dass man irgendwo anrufen soll oder kann, um sich zu vergewissern, was man da eigentlich sieht.
[00:02:56.040] - Oliver Berthold
Ihr dürft uns Ärzte nicht überschätzen. Nein, das würde ja voraussetzen, dass wirklich alle, die mit Kindern zu tun haben, auch genau wissen, welche Formen Misshandlung annehmen können, was dafür spricht, was dagegen spricht und wie ich dann richtig vorgehe und genau das Gegenteil ist der Fall. Also wir stellen fest, dass das also sowohl in der Ausbildung als auch im Berufsalltag viel zu kurz kommt. Und die Erfahrung habe ich selber gemacht. Weder in meinem Studium noch in den ersten Jahren meiner Kinderarztweiterbildung bin ich wirklich gut ausgebildet worden im Kinderschutz.
[00:03:25.500] - Nadia Kailouli
Das ist irgendwie tragisch.
[00:03:26.850] - Oliver Berthold
Ja, wir lassen auch nicht Ärztinnen und Ärzte auf Patienten los, die nicht wissen, wie man jemanden wiederbelebt. Aber wir lassen tatsächlich Kolleg*innen arbeiten, die nicht wissen, wie man blaue Flecke einordnet und wann man ein Kind schützen muss. Das ist leider so..
[00:03:41.790] - Nadia Kailouli
Darüber sprechen wir später noch mal ein bisschen detaillierter und genauer. Ich würde jetzt gerne noch mal erst mal bei dieser Hotline bleiben, bevor wir an die Lösungen kommen müssen, was alles verbessert werden muss damit es so eine Hotline im besten Fall erst gar nicht geben muss, weil die Leute es selber schon erkennen. Aber es ist gut, dass es diese Hotline gibt, weil junge Ärztinnen oder auch ältere Ärztinnen und Ärzte sich informieren können. "Hey, ich habe da ein Hämatom entdeckt bei einer Achtjährigen. Ich weiß das nicht richtig einzuordnen." Woher wollt ihr denn an der anderen Leitung das richtig einordnen?
[00:04:14.280] - Oliver Berthold
Zum einen geht es darum zu klären, passt die Verletzungen zu der Geschichte, die wir dazu hören. Das kann man gemeinsam einordnen. Dann gibt es Begleitumstände. Also wurde, wenn wir jetzt nicht von einem 8-jährigen Kind sprechen, sondern von einem kleinen Säugling, ist es möglich, dass ein kleiner Säugling, der noch nicht laufen kann, sich selber ein Hämatom zuzieht? Welche Stellen sind typischerweise unfallbedingt? Welche Stellen sind eher misshandlungsbedingt? Welche Risikofaktoren gibt es? Also ist unmittelbar eine ärztliche Vorstellung bei einer schweren Verletzung erfolgt? Bleibt die Geschichte gleich, auch wenn ich sie zweimal erfrage? Das sind eigentlich Basics und die können wir gut vermitteln. Natürlich können wir uns nicht übers Telefon einen blauen Fleck beschreiben lassen und sagen: "Also der ist sicher misshandlungsbedingt." Aber dafür gibt es eben auch inzwischen flächendeckend Einrichtungen, die man hinzuziehen kann. Entweder es sind die Kinderschutzambulanzen, die wir ja in Berlin haben, aber auch in anderen Städten und Bundesländern. Oder ist es ein rechtsmedizinisches Institut, dass man anrufen kann. Typischerweise rufen uns die Kolleg*innen an und wissen gar nicht weiter. Und da geht es tatsächlich darum, den nächsten vernünftigen Schritt zu beraten.
[00:05:14.130] - Nadia Kailouli
Was heißt das? Die wissen gar nicht weiter.
[00:05:16.650] - Oliver Berthold
Die Sorge, dass ein Kind misshandelt worden sein könnte, löst manchmal richtig Panik aus bei den Fachkräften, manchmal einfach Sorge, manchmal so ein bisschen eine Ambivalenz. Entweder ich mache gar nichts oder wenn ich was mache, dann wird das Kind immer gleich aus der Familie genommen. Oder ich weiß einfach nicht, was ich als nächstes tun kann. Das sind eben so verschiedene Fragen, die uns erreichen, bei denen wir dann gemeinsam sortieren können, Womit haben wir es denn zu tun? Wie groß ist die Besorgnis und wie schnell muss was passieren? Muss überhaupt was passieren und was könnte das sein?
[00:05:44.550] - Nadia Kailouli
Also es ist ja vor allem ja auch eine große Unsicherheit bei den Kolleginnen und Kollegen. Wie könnt ihr dann beraten? Das klingt ja nicht nur danach, dass ihr guckt, wie ist dieser blauer Fleck einzuordnen? Sondern vor allem ja auch, wie kann ich diesem Arzt jetzt helfen oder dieser Ärztin helfen, jetzt weiter die richtigen Schritte zu gehen.
[00:05:59.670] - Oliver Berthold
Es geht häufig auch darum zu gucken, welche Interventionsmöglichkeiten gibt es denn? Also zum einen habe ich selber als Ärztin oder Arzt eine ganz große Bandbreite an Möglichkeiten, wie ich mit den Eltern sprechen kann. An welche Hilfen ich verweisen kann. Unterhalb der Schwelle, dass sich das Jugendamt informiere. Das machen viele der Kolleginnen und Kollegen auch jeden Tag hundertfach, ohne dass sie irgendwelchen Rat dafür brauchen. Das gehört zu unserem Handwerkszeug. Wenn es dann aber die Schwelle überschreitet, weil wir natürlich im Gesundheitswesen immer auf Freiwilligkeit angewiesen sind und das auch glücklicherweise, und ich feststelle, dass die Eltern entweder nicht das tun, was ich für wichtig halte, oder dass ich nicht genau weiß, wie ich jetzt noch weitermachen könnte. Dann ist häufig die Frage: "Was wäre denn der nächste Schritt? Wann darf ich das Jugendamt informieren? Breche ich damit meine Schweigepflicht oder muss ich sogar im Extremfall noch die Polizei hinzuziehen?" All das sind Fragen, die dann auftauchen.
[00:06:50.040] - Nadia Kailouli
Das klingt nach wahnsinnig viel Zeit. Und wenn man sich damit auseinandersetzt, gerade jetzt in dieser Grippewelle, die wir ja nun jetzt die letzten Monate auch hatten, wo jeder weiß, die Hausärzte sind überlastet, Kinderärzte sind überlastet und, und, und. Dann noch die Zeit zu haben, bei einer Kinderschutzhotline anzurufen und diese Fälle da auch noch mal durchzugehen, klingt nach Zeit, die kaum jemand hat.
[00:07:11.040] - Oliver Berthold
Uns erreichen tatsächlich viele Anfragen, auch so nach Feierabend, also 17:00, 18:00, 19:00 Uhr. Wenn sich so die Praxis ein bisschen geleert hat, man noch mal drüber nachdenkt, was man heute so gesehen hat. Und im Durchschnitt dauern unsere Beratungsgespräche etwa 13 Minuten. Gleichzeitig, ja, klar dauert das länger. Aber Kindesmisshandlung ist eben kein Schnupfen. Ich kann in der Kinderarztpraxis oder in der Notaufnahme kann ich 20, 30 Kinder mit einem Schnupfen innerhalb kürzester Zeit, Schnupfen ist ist jetzt ein bisschen platt gesagt, aber mit einem banalen, fieberhaften Infekt innerhalb kürzester Zeit sehen. Und dafür braucht es nicht viel Zeit. Aber wenn ich bei einem Kind plötzlich den Verdacht habe, es könnte eine Tumorerkrankung haben oder einen plötzlichen Diabetes oder eben eine Kindesmisshandlung, dann muss ich mir die Zeit nehmen, weil es komplexere Krankheitsbilder sind. Ich habe diese drei mit Absicht genannt. Deswegen, weil alle drei unbehandelt im Extremfall auch zum Tod führen können. Das heißt, die verdienen die Zeit. Und das habe ich ja auch gelernt in meiner Ausbildung, dass dich bestimmte Kinder Zeit kosten und das gehört einfach mit zum Job.
[00:08:08.850] - Nadia Kailouli
Wenn man jetzt eben bei euch angerufen hat nach Feierabend. Es ist, weiß ich nicht, Mittwoch 19:30 Uhr. Ich hatte heute Vormittag in der Praxis ein Kind zur Untersuchung und habe dort eben Verletzungen festgestellt, die ich nicht darauf zurückweisen kann, wie es vielleicht erzählt worden ist. Ich bin hingefallen oder so. Da ruft man bei euch an und schildert diesen Fall. Wie geht das dann weiter? Darf man Fotos schicken? Darf man Befunde schicken oder ist es wirklich alles anonym, sowohl vom Arzt als auch von dem Patienten oder der Patientin?
[00:08:37.720] - Oliver Berthold
Also du darfst gerne sagen, wer du bist und wo du arbeitest. Manche Informationen sind ja auch wichtig für mich, für eine gute Beratung. Ich muss wissen, aus welcher Berufsgruppe du anrufst und in welchem Setting du arbeitest. Also das kannst du sagen. Das musst du natürlich nicht. Was du nicht sagen darfst, ist, um welchen Patienten es geht. Deswegen geht auch die Übermittlung von Patientenunterlagen oder oder Befunden nicht. Braucht es aber in der Erfahrung nicht. Also wir beraten jetzt seit fünf Jahren. Wir haben am Anfang auch gedacht, wir bräuchten eigentlich einen gesicherten Kanal, wo wir Röntgenbilder oder Bilder übermitteln können. . Also der Bedarf besteht nicht, weil flächendeckend eben Einrichtungen existieren, die das machen und die das mit einer hohen Expertise machen. Die müssen nur eben bekannt sein. Und die Erfahrung machen wir eben auch, dass wir zum Teil auch einfach darauf hinweisen, dass unmittelbar neben, sozusagen neben der Praxis oder dem Krankenhaus, aus dem wir angerufen werden, ja eine Kinderschutzambulanz oder eine rechtsmedizinische Einrichtung existiert, die genau das leisten kann. Das heißt, häufig geht es auch einfach um Vernetzung und nicht so sehr darum, selber sich ein Röntgenbild anzugucken.
[00:09:35.370] - Nadia Kailouli
Okay, das heißt, ihr vermittelt dann die Ärzte auch an andere Stellen einfach weiter, von denen die vorher ja nicht direkt wussten, dass sie da auch Hilfe bekommen können in der Art und Weise, wie sie jetzt weiter vorgehen mit dem Kind und der Familie.
[00:09:48.030] - Oliver Berthold
Genau.
[00:09:48.660] - Nadia Kailouli
Okay, wie oft klingelt bei euch das Telefon?
[00:09:53.010] - Oliver Berthold
Das ändert sich regelmäßig. Also wir haben jetzt so 5000 Beratungsgespräche gehabt in den letzten fünf Jahren. Also man kann so in der Schicht ungefähr von zehn Gesprächen ausgehen.
[00:10:01.560] - Nadia Kailouli
Pro Tag?
[00:10:02.940] - Oliver Berthold
Pro Tag! Wir haben zwei Schichten. Wir haben eine Schicht, die von 8:00 bis 16:45 Uhr geht. Und die zweite Schicht ist dann die Spätschicht, die die ganze Nacht über geht, wo wir dann eben von 16:45 Uhr bis zum nächsten Morgen das Telefon besetzen. Das ist einfach der Tatsache geschuldet ist, dass wir nachts deutlich weniger Anrufe haben. Einfach weil natürlich die Praxen zu sind und die anderen Einrichtungen und die Jugendämter sowieso. Heißt aber nicht, dass es nachts nicht ebenso notwendig wäre. Also in der Regel ist es so, dass wenn wir nachts ein, zwei, drei Anrufe kriegen, die haben es dann entsprechend auch häufig in sich, weil es eben ganz akute Situationen sind, wo eben Kinder nachts in der Notaufnahme stehen und wo dann schnell gehandelt werden muss.
[00:10:37.500] - Nadia Kailouli
Woher wissen die Ärztinnen und Ärzte bundesweit von euch? Also hängt ihr aus in Krankenhäusern? Gibt es für jeden Arzt, der eine Praxis eröffnet, so einen Beipackzettel? So nach dem Motto: "Wenn Sie hier nicht weiterwissen, rufen Sie uns an!" Oder wie kommen die zu euch?
[00:10:53.070] - Oliver Berthold
Daran arbeiten wir tatsächlich seit fünf Jahren, weil es gar nicht so einfach ist. Also wir müssen ja eben versuchen, möglichst zielgenau unsere Zielgruppe anzusprechen. Wir merken immer dann, wenn aus Versehen unsere Telefonnummer in den Medien genannt wird, also zum Beispiel, ich glaube, bei Domian ist sie mal genannt worden oder eingeblendet worden. Das führt dann dazu, dass in den nächsten Tagen ganz viele Betroffene und Angehörige uns anrufen, die wir aber einfach nicht die Expertise haben, zu beraten und für die es ja auch andere Anlaufstellen gibt, wie zum Beispiel das Hilfetelefon der UBSKM oder die Nummer gegen Kummer, die Telefonseelsorge und andere. Und sodass wir dann sozusagen ausgelastet sind mit Personen, denen wir sagen müssen, dass wir nicht die richtige Anlaufstelle sind und die, welche eigentliche Anliegen hätten an uns, die kommen da nicht durch. Das heißt, wir versuchen schon gezielt medizinisches Fachpersonal anzusprechen. Und das tun wir, indem wir vor allem Arbeitshilfen entwickeln. Also wir kriegen ja mit, welche Fragen immer wieder gestellt werden in der Hotline, wo also offensichtlich auch ein Fortbildungsbedarf besteht. Und das haben wir eigentlich seit Anfang an unserer Tätigkeit dann immer umgesetzt, entweder in Fachartikel oder auch in Kitteltaschen-Karten, die man sich dann wirklich in den Arztkittel stecken kann, wo dann die wichtigsten Informationen draufstehen und die bewerben wir, die verteilen wir kostenlos und darüber steigt dann auch unsere Bekanntheit. Wir machen Fortbildungen vor werdenden Psychotherapeut*innen? All diese fachlichen Veranstaltungen sind gleichzeitig natürlich auch Werbung für die Telefonnummer.
[00:12:15.010] - Nadia Kailouli
Jetzt bin ich so hängengeblieben bei der Kittel-Taschenkarte. Das heißt, ihr schickt einfach diese Karten an verschiedene Arztpraxen. Ihr habt da einen Verteiler und da ist auf dieser Karte stehen dann Anhaltspunkte drauf oder eine Telefonnummer drauf. Und die soll man am besten immer bei sich tragen, oder?
[00:12:31.810] - Oliver Berthold
Ja, genau. Also wir haben gar nicht einen Verteiler, sondern wir haben die auf Veranstaltungen, die wir hatten, vorgestellt und wir haben inzwischen auf Anforderung so fast 40.000 Stück verschickt. Das heißt also, die kommen auf uns zu und wollen die haben und wir können das inzwischen kaum noch leisten, dass wir die Gedruckten verschicken. Das heißt, natürlich gibt es inzwischen auch eine App, wo die verfügbar sind. Also von daher gibt es ja auch digital inzwischen.
[00:12:54.190] - Nadia Kailouli
Von welchen Ärztinnen und Ärzten sprechen wir denn eigentlich? Sind das hauptsächlich Kinderärzte oder sind das auch Zahnärzte, Orthopäden? Oder ist das der klassische Hausarzt, der dann bei euch anruft.
[00:13:06.610] - Oliver Berthold
Tatsächlich alle, die du gerade genannt hast? Zu zwei Dritteln natürlich die, die vorwiegend mit Kindern arbeiten. Also das sind Kinderärzt*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen, die natürlich dann weniger über körperliche Befunde mit uns sprechen als über emotionale Misshandlungen, sexuellen Missbrauch. Und das andere Drittel sind tatsächlich Ärzt*innen, die nicht vorwiegend mit Kindern zu tun haben. Die aber eben entweder auch Kinder behandeln, also Zahnärzt*innen häufig, die entweder ein völlig verwahrlostes Gebiss bei dem Kind sehen und sich fragen: "Ist das was, wo man tätig werden muss?"
[00:13:35.950] - Nadia Kailouli
Wenn ich mich jetzt gerade eben gefragt habe "Hä, Zahnärzte, Zahnärztinnen, wie sollen die Missbrauch erkennen, wenn sie sich hauptsächlich im Mund und Kieferbereich bewegen? Da erkennt man selten einen blauen Fleck," dachte ich jetzt so. Aber das ist jetzt interessant, dass du gerade auch diese Berufsgruppe ansprichst.
[00:13:52.960] - Oliver Berthold
Also man erkennt auch Misshandlungsfolgen im Mund - tatsächlich - sowohl Traumafolgen, im Sinne von kaputten oder beschädigten Zähnen oder eben auch blauen Flecken am Zahnfleisch oder in der Mundschleimhaut, kann man sehen. Aber tatsächlich, die weit häufigeren Fälle sind eben die, wo die Zähne der Kinder in einem desolaten Zustand sind. Was ja zu Schmerzen führt, zu Funktionseinschränkungen führt. Also der Spracherwerb ist gestört, die Nahrungsaufnahme kann gestört sein, es ist ein Infektionsrisiko und das ist natürlich eine Kindeswohlgefährdung.
[00:14:22.240] - Nadia Kailouli
Aber wenn wir jetzt mal kurz bei diesem Beispiel festhalten wollen, weil der mir wahrscheinlich am fernsten lag von den anderen Berufsgruppen der Ärzte, wie soll denn dann ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin handeln, wenn sie eben ein Gebiss sehen oder eben Zähne sehen, die so beschädigt sind? Wie sensibilisiert man die, dass die dann zum Beispiel bei euch anrufen? Und wenn sie dann bei euch anrufen, wie erfahren sie denn oder wie könnt ihr festhalten: "Hm, das klingt danach, als wäre dieses Kind in einem Zustand zu Hause, wo Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung etc. stattfinden könnte."
[00:14:56.830] - Oliver Berthold
Wir haben ja glücklicherweise die Lage, dass uns der Gesetzgeber inzwischen ganz gute Handlungsoptionen an die Hand gegeben hat. Und da ist einfach die Rede von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Und das passt auf verschiedene Berufsgruppen in verschiedenen Settings jeweils sehr gut. Also bei den Zahnarzt*innen ist es zum Beispiel so, wenn ich tatsächlich ein Gebiss sehe, in dem mehre Zähne sichtbar zerstört sind und das sehen wir gar nicht so selten. Dann weiß ich zum einen, das Kind muss Schmerzen haben, zum anderen sehe ich das auch als Laie. Also die Eltern sehen das und so ein Befund entsteht nicht über Nacht. Das heißt, ich habe eine Situation, wo über längere Zeit offensichtlich die Mundhygiene vernachlässigt worden sein wird und wo dann, als der Befund dann schon erkennbar war, auch über längere Zeit keine wirksamen Schritte eingeleitet worden sind von Seiten der Eltern, diesen Befund zu behandeln. Das heißt, das halte ich schon für einen erheblichen Anhaltspunkt für eine Vernachlässigung des Kindes. Im Übrigen ist das nicht zwingend so, wie man sich das denken könnte, nur mit sozialen Risikofaktoren verbunden, sondern es ist tatsächlich in allen Einkommensschichten auch zu sehen. Und da argumentieren wir dann schon: Das rechtfertigt auf jeden Fall das Gespräch mit den Eltern, das immer. Und dann ist die Frage, wie das Gespräch dann verläuft, wie man dann weitermachen kann. Das Ziel muss es ja sein, zunächst das Kind zu behandeln und auch die entsprechend notwendigen Therapieschritte einzuhalten. Und das kann ja die Zahnärztin oder der Zahnarzt, die anrufen, 1a nachvollziehen, denn üblicherweise behandeln die das Kind selber und spätestens dann, wenn es plötzlich zu versäumten Terminen kommt oder der Kontaktabbruch stattfindet oder man den Eindruck hat, irgendwie tut sich so gar nichts, dann ist scheinbar der Kontakt zu den Eltern alleine nicht mehr zielführend. Dann reicht es manchmal nicht.
[00:16:37.810] - Nadia Kailouli
Ab wann sollte man dann eher euch anrufen oder direkt den Weg zum Jugendamt suchen als Arzt?
[00:16:44.830] - Oliver Berthold
Wenn man weiß, was man tun kann, dann braucht man uns gar nicht anzurufen. Das wäre ja sowieso unser Wunsch, dass das irgendwann so ist. Aber immer dann, wenn man sich unsicher ist. Und die Unsicherheit besteht halt häufig. Also die Fragen, die ich vorher genannt habe: Darf ich meine Schweigepflicht brechen? Ist das ein Bruch der Schweigepflicht? Welche Möglichkeiten gibt es? Und tatsächlich leider auch die Sorge, wenn ich das Jugendamt anrufe, dann nimmt das immer gleich das Kind weg. Die gibt es leider bei Ärztinnen und Ärzten und anderen Berufsgruppen bis heute noch. Und da können wir gut beraten.
[00:17:15.160] - Nadia Kailouli
Wenn wir jetzt bei diesem Beispiel bleiben wollen, weil du gesagt hast, im besten Fall wissen die Ärztinnen und Ärzte selber, was sie machen sollen und müssten gar nicht bei euch anrufen. Halten wir noch mal zusammen: Das erste, was man machen sollte, wenn man jetzt bei dem Zahnarzt- Beispiel bleiben, dann ist es die Konfrontation der Eltern und sagen: "Ich habe hier festgestellt, die Mundhygiene Ihres Kindes ist so, wie sie jetzt gerade ist, nicht gut. Wir müssen gucken, dass wir das hinbekommen." Und wenn man dann keine Erfolge sieht, dann kann man davon ausgehen, okay, das Kind ist halt in einem zu Hause aufgehoben, wo es vernachlässigt wird. Selbst auf Ansage des Arztes oder der Ärztin tritt hier keine Verbesserung ein. Und dann eben, wenn man da aber dann nicht weiterkommt und merkt, okay, das es wird nicht besser, das Kind wird weiterhin vernachlässigt. Wie gehen denn Ärztinnen und Ärtze im besten Fall dann weiter mit der Situation um, wenn sie jetzt eben nicht bei euch anrufen?
[00:18:00.520] - Oliver Berthold
Also ich würde jeden Schritt tatsächlich auch offen und transparent mit den Eltern besprechen. Und ich mag das Wort Konfrontation nicht so sehr, weil das eine moralische Wertung beinhaltet, die überhaupt nicht eine Rolle spielt für mich. Also ich rede nicht von Schuld und ich rede auch nicht von, jemand hat was falsch gemacht zwingend, sondern gerade im Bereich der Vernachlässigung geht es eben darum, erst mal den Eltern klarzumachen, dass das eine Situation ist, die ihr Kind gefährdet und dass sie als Eltern die Verantwortung haben, da wirksame Schritte zu unternehmen. Und das muss ich auch ein- oder zweimal oder dreimal auch deutlich sagen, weil das eben häufig nicht gehört werden will - in der Form. Und dann erarbeite ich mit den Eltern gemeinsam Therapieplan und sage: "Das müssen wir machen, damit ihr Kind gesund wird, damit die Zähne besser werden." Und dann kann ich anhand diesem Therapieplan ableiten, ob die Eltern mit im Boot sind oder nicht. Und wenn ich den Eindruck habe, aus welchen Gründen auch immer, und da ist eben die moralische Wertung völlig irrelevant, die Eltern kriegen das nicht hin oder sie wollen es nicht oder sie halten mich für blöd oder was auch immer. Spielt tatsächlich keine Rolle, wenn ich merke, dass nach einer gewissen Zeit sich für das Kind überhaupt nichts verbessert hat, dann merke ich okay, mit den Eltern gemeinsam komme ich offensichtlich nicht weiter. Ich bin auf Freiwilligkeit angewiesen und dann würde ich den Eltern das auch so erklären, Wenn ich noch den Kontakt habe zu sagen, ich muss jetzt einfach jemanden mit ins Boot holen, der sozusagen das anordnet, dass das Kind adäquat behandelt wird. Und nicht zuletzt und da würde ich den Schritt gegebenenfalls auch schon früher gehen, der sich anguckt, ist denn das nur die Spitze des Eisbergs? Gibt es weitere Aspekte der Vernachlässigung im Haushalt oder ist es wirklich nur das Zahnproblem? Das kriegen wir als Zahnärzte dann aber auch gelöst und dafür ist das Jugendamt zuständig. Das würde ich den Eltern vorher mitteilen und dann würde ich das Jugendamt informieren, auch wenn die Eltern nicht einverstanden sind. Das Recht habe ich.
[00:19:40.540] - Nadia Kailouli
Und seid ihr dann auch als Kinderschutzhotline am Ende oft diejenigen, die dann den Ärztinnen und Ärzten sagen: "Okay, ich würde an dieser Stelle raten, kontaktieren Sie das Jugendamt." Weil da ja wahrscheinlich auch die große Hürde ist bei vielen zu sagen, wenn ich jetzt das Jugendamt kontaktiere, dann werden hier ganz andere Schritte eingeleitet. Abgesehen davon, dass ich als Arzt Hinweise darauf gebe, dass das Kind irgendwie besser betreut werden muss.
[00:20:03.610] - Oliver Berthold
Ja. Wobei wir tatsächlich auch sehr häufig darüber reden, was kann ich denn als Ärzt*in vorher noch machen, bevor ich das Jugendamt informieren darf? Habe ich wirklich alle meine Möglichkeiten ausgeschöpft? Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil manchmal das Gespräch zu kurz kommt mit den Eltern, weil man eben Angst hat, dass das Kind misshandelt wird und dann nicht mehr weiß, wie kann ich das mit den Eltern besprechen? Darf ich das überhaupt mit den Eltern besprechen? Schadet das vielleicht, wenn ich das mit den Eltern bespreche? Manchmal ist tatsächlich auch die berechtigte Sorge, das Kind wird erst recht bestraft, weil es sich zum Beispiel der Ärztin gegenüber geäußert hat. Oder in der Schule zum Beispiel: Wenn das Kind in der Schule erzählt, dass es zu Hause geschlagen wird, dann muss man schon auch miteinander diskutieren. Hat man die Sorge, wenn man die Eltern einbezieht, dass das für das Kind erst mal noch mal schlimmer wird, dann informiert man die Eltern natürlich nicht, sondern direkt das Jugendamt. Aber in den allermeisten Fällen ist es sinnvoll, das Gespräch zu suchen. Das ist nicht immer so und vielleicht habe ich als Ärztin oder Arzt noch eigene Möglichkeiten. Habe ich eine Beratungsstelle an der Hand, die ich empfehlen kann, mit der ich gute Erfahrungen gemacht habe. Manchmal muss es gar nicht das Jugendamt sein. Ziel ist immer, dass es dem Kind besser geht.
[00:21:03.870] - Nadia Kailouli
Ich weiß ja gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Wir haben jetzt einen Fach-Podcast rund um, wie gehen Ärztinnen und Ärzte damit um, wenn sie Kinder sehen, wo sie das Gefühl haben, hier stimmt was nicht, in jegliche Richtung. Jetzt gerade denke ich mir so: "Puh, das ist echt eine ganz schöne Verantwortung." Ich versuche mich gerade hineinzuversetzen in die Rolle eines Arztes oder einer Ärztin, die da irgendwie was feststellt und dann ihrer ärztlichen Sorgfaltspflicht nachkommt und sagt: "So geht es nicht, wir müssen hier besser werden." Aber dann merkt: "Oh Gott, hier steckt der Hund ganz woanders begraben." Hier geht es nicht nur darum, dass jemand seine Zähne nicht gerne putzt, sondern hier geht es darum, dass irgendwie etwas zu Hause wahrscheinlich stattfindet oder, ich fand es gut, dass es gerade noch mal gesagt hast, dass du das Wort Konfrontation und Schuldsuche jetzt nicht so magst, weil es müssen auch nicht immer die Eltern sein, sondern der Missbrauch kann auch ganz woanders stattfinden. Und die Auswirkungen liegen dann eben da, wo sie dann individuell liegen. Aber ich denke gerade so: "Puh, da hat man einen echt, abgesehen davon, dass man sich um das medizinische Wohlbefinden kümmert, noch eine ganz andere Aufgabe auf dem Schreibtisch.
[00:22:06.510] - Oliver Berthold
Ja, wobei es trotzdem hilft, die Grenzen seiner eigenen Rolle auch zu definieren. Und die gibt es ja. Und die Grenzen meiner Rolle als Arzt sind relativ klar. Was ich schon gesagt habe, dass ich immer auf die Freiwilligkeit der Eltern angewiesen bin. Das heißt, in dem Moment, wo ich mit Gesprächen und Empfehlungen und Therapieplänen nicht mehr weiterkomme und das Kind bleibt gefährdet, dann endet meine Zuständigkeit irgendwann ganz naturgemäß, weil ich einfach die Eltern zu nichts zwingen kann und auch nicht darf. Und das ist auch gut so. Manchmal muss das aber jemand tun. Und dann eben gebe ich den Fall auch ab. Das heißt also, so kompliziert ist es häufig gar nicht. Und letzten Endes ist es natürlich auch so ein bisschen abhängig davon, wovon wir sprechen. Also, ob wir von körperlicher Misshandlung sprechen, von Vernachlässigung oder von sexuellem Missbrauch. Beim sexuellen Missbrauch ist es natürlich immer noch mal ein bisschen was anderes, weil das die Misshandlungsform ist, wo der Schaden des Kindes jedem Täter, jeder Täterin auch bewusst ist. Das ist bei anderen Misshandlungsformen nicht zwingend so.
[00:23:02.850] - Nadia Kailouli
Jetzt sehe ich gerade, dass du kein Wasser mehr hast in deinem Glas und ich schenk mal ein und dann wollen wir mal darauf zu sprechen kommen. Warte, erst mal einen Schluck Wasser. Woher denn Ärztinnen und Ärzte eurer Hotline Vertrauen schenken sollen, dass da auch die Kompetenteren sitzen. Weil man hat ja, also ich bin kein Arzt, ich kenne jetzt nicht so viele Ärzte, aber irgendwie so ein bisschen so ein Ego-Gefühl kriegt man ja dann doch. Wie heißt es so schön, "Ich habe die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich bin ja hier der Mensch im weißen Kittel." Und dieser Ego-Schritt zu sagen: "Ich ruf jetzt da an bei einer Hotline, weil da sitzen kompetentere Menschen als ich, die mir jetzt mal helfen sollen." Vermittelt sich so ein Gefühl manchmal? Oder hast du dieses Gefühl selber als Arzt, dass es da so ein Ego-Ding gibt, sich das zu trauen? Oder ist man da sehr dankbar, um das kollegiale Unterstützen im weißen Kittel?
[00:23:53.640] - Oliver Berthold
Beides. Und ich glaube, die, die sich nicht beraten lassen wollen, würden gar nicht bei uns anrufen. Das heißt, die kriegen wir gar nicht mit. Aber ich muss auch sagen, wir sind oft gar nicht diejenigen, die es unbedingt besser wissen und gar nicht die, wo es tatsächlich um Besserwisser, also Besserwisserei sowieso nicht, aber wo es darum geht, wir wissen etwas mehr und schulen jemanden, sondern es gibt viele Gespräche, in denen es darum geht, gemeinsam den Fall durchzusprechen und tatsächlich auf Augenhöhe zu sammeln: "Habe ich alles gemacht? Fehlt noch was? Ich brauche jemanden, der mit drauf guckt, weil das Thema so emotional ist." Das sind einige Gespräche. Aber natürlich sind wir auch für die Gespräche da, wo es klar um Wissensvermittlung geht. Also welche Röntgenbilder mache ich, wenn ich bei einem kleinen Säugling den Verdacht habe, das Kind ist misshandelt worden? Welche Untersuchungen muss ich machen bei einem Kind, was vermeintlich oder vermutlich kurz zuvor Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist? Also all das sind ja auch Fakten und wir arbeiten ja auch auf einer wissenschaftlichen Ebene und das muss man natürlich dann auch wissen und parat haben.
[00:24:51.120] - Oliver Berthold
Wir stellen das dadurch sicher, dass wir in unserem Team zehn Kolleg*innen haben, die aus den drei Fachrichtungen kommen, die mit dem Kinderschutz am besten vertraut sind. Das ist die Kinder- und Jugendmedizin, das ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Rechtsmedizin. Es gibt 24 Stunden jeweils eine Fachärztin oder einen Facharzt aus allen drei Bereichen, die für unseren Beratenden anrufbar sind. Falls es doch noch mal eine Rückfrage gibt. Alle unsere Beratenden haben das Zertifikat zur Kinderschutzmedizinerin durchlaufen, das die Fachgesellschaften ausgibt. Wir haben einen Zertifikatskurs gemacht für insoweit erfahrene Fachkräfte und wir bilden uns regelmäßig fort. Und alle, die bei uns beraten, haben auch nicht nur in der Hotline, sondern auch klinisch mit Kinderschutz zu tun, sodass auch sozusagen die persönliche Berufserfahrung dazukommt.
[00:25:32.040] - Nadia Kailouli
Und kann man sagen, dass es aus dieser Berufsgruppe eben wahnsinnig wenige Ärztinnen und Ärzte gibt und deswegen es so gut ist, dass ihr diese Hotline habt, weil ihr dann eure Expertise aus dem Bereich Kinder- und Jugendschutzmedizin weitergeben könnt.
[00:25:46.170] - Oliver Berthold
Es gibt gar nicht so ganz wenige. Es gibt ja Kinderschutzmediziner*innen inzwischen bundesweit. Ich habe die genaue Zahl nicht im Kopf, aber immer mehr, einfach weil die Fachgesellschaften das auch regelmäßig zertifiziert. Aber natürlich nicht in jeder Praxis. Und ich vergleiche es manchmal mit zum Beispiel den Kinderkardiologen, also den den Herzspezialisten, die sich um Kinder kümmern. Die sitzen üblicherweise an den größeren Unikliniken und ich kann als niedergelassener Kinderarzt nicht genauso fit sein in Kinderkardiologie, in Kinder-Lungenerkrankungen und im Kinderschutz. Ich muss sozusagen Generalist/Generalistin sein. Und ich weiß üblicherweise, wenn ich eine eigene Praxis habe, an wen ich verweise, wenn ich den Eindruck habe, da könnte was am Herzen sein. Ich weiß an wen ich verweise, wenn ich den Eindruck habe, da könnte eine Tumorerkrankungen vorliegen. Und mit der Hotline gibt es auch eine Stelle, die ich anrufe, wenn ich mit einem Fall nicht weiterkomme, wo es um Kinderschutz geht. Und wie gesagt, die meisten Kolleginnen und Kollegen machen jeden Tag ganz viele Fälle ohne fremde Hilfe, einfach weil das zu unserem täglichen Brot gehört. Aber immer dann, wenn ich nicht mehr weiter weiß oder mich irgendwie festgefahren habe, dann ist es gut zu wissen, wenn man anrufen kann.
[00:26:51.570] - Nadia Kailouli
Jetzt wissen wir alle, dass, gerade zu Pandemiezeiten, in den letzten zwei Jahren natürlich die Fälle von Missbrauch, Verwahrlosung in vielen Familien erst ein Thema geworden ist. Könnt ihr das an Zahlen oder Erfahrung festmachen, dass die Tendenz wieder zurückgeht, weil wir eben keinen Lockdown mehr haben und die Schulen wieder geöffnet sind und, und, und.
[00:27:16.110] - Oliver Berthold
Das ist ein extrem schwieriges Thema, weil wir das wissenschaftlich ganz schwer greifen können. Also, wir wissen zunächst mal sicher, dass wir während der Lockdowns weniger Kinder als Gesundheitswesen, weniger Kinder gesehen haben, sowohl Kinder, die nicht misshandelt worden sind, als auch Kinder mit Misshandlungserfahrungen. Patientenzahlen sind deutlich zurückgegangen. Daraus kann man plausibel ableiten, dass eben, weil sehr wahrscheinlich in der Pandemie es nicht zu deutlich weniger Misshandlungen gekommen ist als vorher, wir einfach auch viele Kinder übersehen haben, weil sie gar nicht bei uns angekommen sind. Entsprechend ist auch in den Lockdowns, sind auch die Beratungsgespräche bei uns erst mal immer wieder zurückgegangen, weil Praxen weniger Patienten gesehen haben, Krankenhäuser weniger Patienten gesehen haben und Psychotherapien zum Teil online stattgefunden haben oder gar nicht. Wir haben aber nach Ende der Lockdowns immer gesehen, dass die Zahlen kurzzeitig deutlich angestiegen sind, sodass wir nach jedem Lockdown auf höheren Zahlen gelandet sind als vor dem Lockdown. Aber das sind eben unsere Beratungsgespräche, die ja gefiltert sind durch die ärztlichen Kontakte vor Ort. Das heißt, aus unseren Zahlen kann man jetzt nichts ableiten, was sozusagen gesamtgesellschaftlich ablesbar wäre. Aber Tatsache ist schon, dass man sagen muss, das wird ein Thema sein, was uns wahrscheinlich die nächsten Jahre begleiten wird, weil man aus Untersuchungen sowohl aus den USA als auch aus Europa sieht, dass nach gesellschaftlichen Großkrisen, das kann die Wirtschaftskrise von 2008 gewesen sein, Kriege, Naturkatastrophen, zum Teil die Effekte über Jahre angehalten haben, weil sie einfach viele Familien in so eine wirtschaftliche Unsicherheit gestürzt haben, die eigentlich als wichtiger Risikofaktor für familiäre Spannungen und Misshandlungen gilt.
[00:28:55.710] - Nadia Kailouli
Ich möchte gerne noch darauf zu sprechen kommen, was du eingangs gesagt hast, und zwar: Ab wann begegnen Ärztinnen und Ärzte dem Thema Kinderschutz in ihrer Ausbildung? Wie sieht es derzeit aus in dem Feld?
[00:29:08.190] - Oliver Berthold
Heutzutage deutlich besser als zu meiner Zeit, als ich studiert habe. Das klingt, als wäre ich uralt, aber tatsächlich auch schon ein paar Jahre her. Es gibt großartige Projekte. Zum Beispiel vom Bundesverband der Medizinstudierenden in Deutschland, die eben ihre Kommiliton*innen über häusliche Gewalt, über Kinderschutz auch sozusagen unterrichten. Es ist in den Lehrplänen bzw. in den Prüfungsplänen für Medizinstudierende noch nicht so verankert, dass man von einer strukturierten Ausbildung flächendeckend sprechen könnte. Das ist ein Riesenproblem. Weil letztlich das Thema ja keines ist, was nur Kinderärzt*innen betrifft. Also zum einen haben wir darüber gesprochen, dass alle, die mit Kindern zu tun haben, mit dem Thema konfrontiert sind und Gewalt gegen Patienten. Betrifft aber genauso gut die erwachsenen Mediziner, wenn es ums Thema häusliche Gewalt geht. Und es bleibt aktuell, wenn die Gesellschaft immer älter wird, weil Gewalt in der Pflege ein Riesenthema ist. Das heißt, wir müssen einfach anfangen, schon von Grund auf in der Ausbildung mit Gewalt gegen unsere Patienten zu beschäftigen. Und dann ist es so, dass jetzt glücklicherweise in der Musterweiterbildungsordnung für die Kinder- und Jugendmedizin, also für die, die Fachärzt*innen und Kinderärzt*innen werden wollen, die sind verpflichtet in ihrem Ausbildungskatalog sich mit Kinderschutz zu beschäftigen. Also da machen wir einige Fortschritte.
[00:30:19.830] - Nadia Kailouli
Du bist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Was hat dich dahin gebracht? Warum hast du damals für dich entschieden, "Okay, ich möchte in diese Richtung gehen.", obwohl gerade zu deiner Zeit ja ganz viel ich dahingehend in der Ausbildung schon sensibilisiert worden ist.
[00:30:33.390] - Oliver Berthold
Eigentlich weil es das Thema war, das mir damals am meisten Angst gemacht hat. Und ich habe relativ schnell festgestellt, dass wenn man sich mit einem Thema, das einem beruflich viel Angst macht, gut beschäftigt, dann weiß man hinterher mehr darüber und dann nimmt es einem die Angst. Und so bin ich bei dem Thema hängen geblieben, weil es eben auch kein so wahnsinnig beliebtes Thema ist. Da treten sich die Leute nicht auf die Füße und dann, wenn man sich einmal eingelesen hat, ist man der, der dann immer gefragt wird: "Was sollen wir denn jetzt machen?" Und so blieb es irgendwie an mir kleben.
[00:30:57.840] - Nadia Kailouli
Und wie fühlst du dich heute damit? Ich meine, wir wissen, dass man, wenn man als Kinder- und Jugendmediziner in einer Kinderschutzambulanz arbeitet, dass man da eben mit Fällen konfrontiert wird, die schweren Missbrauch auch zeigen. Wie ist das für dich und was begegnet dir da in deinem beruflichen Alltag?
[00:31:17.730] - Oliver Berthold
Hmm, eigentlich muss man sagen, wir haben Einblick in Bereiche der Gesellschaft, die wir uns hätten nicht träumen lassen können und wo tatsächlich alles in einem auch den Kopf schüttelt und sagt: "Das kann eigentlich nicht wahr sein." Und das ist was, was man, wo man eine gewisse, tatsächlich professionelle Distanz braucht. Wir haben eine gute Forschung, wir haben viel Berufserfahrung, wir haben gute Abläufe, um dann einfach das abzuarbeiten und hinterher eine vernünftige Aussage treffen zu können. Aber ich kann tatsächlich sehr gut alle Kolleginnen und Kollegen verstehen, die, wenn sie mit dem Thema alleine konfrontiert sind, erst mal Angst davor haben und den Impuls haben, den Kopf in den Sand zu stecken. Das, finde ich, darf man sich auch ehrlich eingestehen, dass dieser Impuls da ist. Wir würden damit unserem Patienten nur keinen Gefallen tun. Deswegen ist es unsere Verantwortung als Profis, den Kopf aus dem Sand wieder rauszuziehen. Aber letzten Endes muss man auch fairer Weise sagen, dass das ein Bereich ist, bei dem man immer sich selber überprüfen muss: "Kann ich das gerade noch ertragen oder wie lange kann ich den Job machen? Und ist es im Moment zu viel?" Auch das wäre was, was ich immer allen mit auf den Weg geben würde; sich einzugestehen, dass das ein Job sein kann, der auch mal krank macht oder der auch nach einer Auszeit verlangt. Und wenn man sich mit Kolleginnen und Kollegen austauscht, dann hat das doch viele betroffen auch mal, dass man gemerkt hat, ich kann jetzt gerade einfach ein paar Wochen den Job nicht mehr machen und muss was anderes machen. Und das muss man auch, sozusagen muss man sich auch zugestehen. Das ist einfach was, wo man auch mal eine Pause braucht.
[00:32:43.860] - Nadia Kailouli
Musstest du dir das im Laufe der Zeit schon mal zugestehen?
[00:32:46.800] - Oliver Berthold
Ich habe auch schon mal eine Auszeit gebraucht von dem Job. Tatsächlich. Und dann muss man sich immer selber prüfen, in welcher Form, mit welcher sozusagen, wie kann ich es weitermachen? Und ist es gerade noch ein positiver, ich sage es mal so, ein Beruf, der einem mehr bringt, als er nimmt? Das ist in der Regel so, sonst würden wir das alle nicht machen. Und wir finden ja alle in unseren jeweiligen Arbeitsfeldern in der Regel mehr, was uns weiterbringt als das, was uns belastet. Und diese Balance ist eben eine ständige Herausforderung.
[00:33:16.860] - Nadia Kailouli
Also können wir davon ausgehen, dass du dir die Frage stellst: "Wie lange kann ich das noch machen?", ein bisschen aufschiebst. Also du kannst es noch ein bisschen.
[00:33:23.790] - Oliver Berthold
Ich kann das gerade sehr gut machen, aber die Frage, die sollte eigentlich immer mit dabei sein, einfach weil man sich selber das schuldig ist, seiner Familie das schuldig ist und nicht zuletzt vielleicht auch zuvorderst den Patienten schuldig ist, weil keiner, ich sage mal, keiner braucht einen kranken Arzt. Krank sind die Patienten selber.
[00:33:42.000] - Nadia Kailouli
Und ich sage, Dr. Oliver Berthold, vielen Dank, dass du uns heute so einen Einblick gegeben hast in die Kinderschutzhotline und darüber hinaus auch noch mal ganz kurz darüber gesprochen hast, wie das eigentlich für dich ist, in der Kinderschutzambulanz zu arbeiten. Vielen Dank.
[00:33:53.940] - Oliver Berthold
Ja, es war ja schön, hier gewesen zu sein.
[00:33:59.140] - Nadia Kailouli
So, hier mein Shoutout an alle Ärztinnen und Ärzte. Meldet euch bei der medizinischen Kinderschutzhotline, wenn ihr nicht mehr weiter wisst. Egal wie alt ihr seid, egal wie erfahren ihr seid, wenn ihr merkt: "Oh mein Gott, wir haben hier einen Fall von einem Kind oder einem Jugendlichen, irgendwie komme ich hier nicht weiter." Dann ist so ein Anruf glaube ich jedem geraten. Und natürlich verlinken wir in unseren Shownotes die Telefonnummer. Ich fand das nämlich super interessant, dass Dr. Oliver Berthold eben gerade jetzt auch zum Beispiel über die Zahnärztinnen und Zahnärzte gesprochen hat. Ein Bereich, wo ich gar nicht drüber nachgedacht habe, dass da natürlich auch drauf geguckt werden muss, wie es Kindern geht, die einem da auf dem Zahnarztstuhl gegenübersitzen. Und auch da sind eben Ärztinnen und Ärzte gefragt, da ein Auge auf Kinder- und Jugendschutz zu legen. An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich bei euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei schwierigen Themen dranbleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal und wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine Email könnt ihr einfach schreiben an: presse@ubskm.bund.de
Mehr Infos zur Folge
„Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten.”
Das hat der Kinder- und Jugendmediziner Oliver Berthold vor 2 Jahren in einem Interview gesagt, als es um Kleinkinder ging, die noch nicht mal laufen können. Oliver Berthold ist Teamleiter der „Medizinischen Kinderschutzhotline“.
Hier können rund um die Uhr Ärzt:innen, Pfleger:innen und anderes Fachpersonal anrufen, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind körperlich oder emotional misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht wird. Die Fachleute an der Hotline besprechen dann mit ihnen, wie sie Verletzungen richtig deuten, ob die Polizei eingeschaltet werden sollte, was unternommen werden kann, um die Lage zu klären und dem Kind zu helfen.
Der Staat ist nach § 1631 Abs. 2 des BGB verpflichtet, den Kinderschutz sicherzustellen. Ärzt:innen, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger:innen und andere Akteure im Gesundheitssystem spielen dabei eine wichtige Rolle.
Allerdings verfügt das medizinische Personal oftmals nicht über das Wissen und Können im Fachgebiet Kinderschutz, das für die praktische Arbeit notwendig wäre.
Deswegen gibt es die Medizinische Kinderschutzhotline. Ärzt:innen, Pfleger:innen und anderes Fachpersonal können die Hotline anrufen, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind körperlich oder emotional misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht wird.
WEITERE INFOS + HILFEANGEBOTE:
Die Website der Medizinischen Kinderschutzhotline:
Kinderschutzhotline.de
Infomaterial von der medizinischen Kinderschutzhotline:
Hinweise und Vorgehen beim Verdacht auf misshandlungsbedingte Hämatome und Frakturen
Ein Artikel über die Auswirkungen der Corona Pandemie auf die Zahl der Anrufe bei der Kinderschutzhotline:
Rheinische Post | Zahl der Anrufe bei Kinderschutzhotline nimmt stark zu