PODCAST | Folge 5 | Matthias Katsch

„Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Phänomen vom Ausmaß einer Volkskrankheit.”

Er löste das aus, was heute als “Missbrauchsskandal” bezeichnet wird: Im Januar 2010 wandte sich Matthias Katsch zusammen mit zwei ehemaligen Mitschülern an Pater Klaus Mertes, den Leiter des Canisius-Kollegs, einem katholischen Gymnasium in Berlin. Katsch berichtete, dass er in seiner Schulzeit in den 70er Jahren vom damaligen Schulleiter und einem Lehrer sexuell missbraucht wurde. Mertes schickte daraufhin ein Schreiben an etwa 600 ehemalige Schüler des Kollegs aus den 1970er und 1980er Jahren, um vermutete weitere Betroffene zu ermutigen, sich zu melden. Damit begann der von den Medien sogenannte Missbrauchsskandal.




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Matthias Katsch [00:00:01] Das Verrückte ist ja, wir haben im Nachhinein ja festgestellt, dass an dieser Schule über mehr als ein Jahrzehnt Dutzende von Jungen diese Gewalterfahrungen gemacht haben. Und wir haben praktisch nicht darüber gesprochen miteinander.

Nadia Kailouli [00:00:16] Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Einbiszwei? Ja genau. Ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast spreche ich mit Expert:innen, Journalist:innen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte, wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst. Bei mir ist heute Matthias Katsch. Er hat durch einen mutigen Schritt das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche in die Öffentlichkeit gebracht. Man kann sogar sagen, durch ihn sind tausende Missbrauchsfälle überhaupt bekannt geworden. Das war 2010. Matthias Katsch ist selbst Betroffener und hat ein sehr wichtiges Buch über seine Geschichte geschrieben. Warum gerade ein Film ihn dazu ermutigt hat, wird er uns gleich erzählen. Er hat für den Bundestag kandidiert und hat vor kurzem das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Herr Katsch, Sie mussten also erst einen Film sehen, um zu realisieren, moment mal, irgendwie triggert das was in mir. Da ist mir was passiert, worüber ich mal nachdenken muss. Können Sie uns Ihre Geschichte erzählen, was da damals passiert ist?

Matthias Katsch [00:01:45] Also tatsächlich der Film selber, das war der Film Sleepers, den ich Anfang oder Mitte der 90er Jahre gesehen habe. Da habe ich es noch nicht begriffen. Das ist etwas, was ich im Nachhinein erst verstanden habe, was da der Grund dafür war, warum mich der Film so mitgenommen hat. Tatsächlich der Auslöser für mein Sprechen war die Wiederbegegnung mit einem der Täter. Der Film schildert das Schicksal von drei jungen Männern in New York, die als Kinder, als Jugendliche in einer Besserungsanstalt landen und dort Gewalt erfahren, missbraucht werden. Und zwei davon aus dieser Gruppe rächen sich später an den Tätern und werden dafür vor Gericht gestellt. Und man erfährt als Zuseher des Films erst im Rückblick die Geschichte. Ich habe das gesehen, im Kino vermutlich, und war wahnsinnig mitgenommen von der Geschichte, ohne zu kapieren, dass das etwas mit mir zu tun hat und warum das etwas mit mir zu tun hat. Es hat dann tatsächlich noch einige Jahre gedauert, bis ich durch Zufall bei einer Veranstaltung hier in Berlin einem der Täter über den Weg gelaufen bin. Und da war dann tatsächlich die Erinnerung sehr klar und präsent. Und von da ab, das war im Jahr 2005, habe ich dann nach Wegen gesucht, mich auseinanderzusetzen mit dem, was ich als Kind, als Jugendlicher in meiner Schulzeit in der Schule erlebt hatte.

Nadia Kailouli [00:03:23] Können Sie uns noch mal erzählen, was Sie damals erlebt haben als Jugendlicher in der Schule?

Matthias Katsch [00:03:27] Ich bin von diesem Priester sexuell missbraucht worden und von einem zweiten, dem ich kurz danach begegnet bin, ich bin also zwei Tätern über den Weg gelaufen. Der eine hat versucht, mich zu sexuellen Handlungen in seiner Gegenwart zu nötigen, über eine ziemlich lange Zeit hinweg. Diesen Versuchen habe ich mich mit Ach und Krach entzogen, um dann im Nachhinein dem zweiten Täter in die Hände zu fallen, der um einiges noch raffinierter in seiner Vorgehensweise war und sein Ziel dann auch erreicht hat. Und das hat mich insgesamt über zwei Jahre zwischen 13 und fast 15 beschäftigt und hat eine Auswirkung auf meine Biografie gehabt, die mir selber aber erst im Nachhinein bewusst geworden ist. Und es ist im Vergleich zu dem, was Menschen erlebt haben, die in Heimen, in geschlossenen Einrichtungen oder auch in Internaten teilweise ja über Jahre Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben, im Vergleich ist das keine große Sache. Ich glaube, es ist viel normaler und viel häufiger, als wir gemeinhin annehmen. Aber es ist eben etwas, was eine Biographie aus dem Gleis bringt und den weiteren Lebensweg stark beeinträchtigt. Und vor allem dann, wenn und so war das in meinem Fall, wie im Falle von ganz vielen anderen diese Übergriffe eben nicht verarbeitet oder bearbeitet werden, sondern sich eingraben in die eigene Biografie und dann ihr Gift über längere Zeit dort absondern, so dass man in dem Moment, wo du anfängst, dich damit auseinanderzusetzen, zunächst mal einfach auch alte Verletzungen aufreißen musst, dich dem stellen musst, dich damit auseinandersetzen muss. Das ist eine sehr mühsame und auch sehr verletzende, schmerzhafte Auseinandersetzung. Aber das ist die Voraussetzung dafür, dass es dann auch irgendwann heilen kann oder vernünftig zuwachsen kann.

Nadia Kailouli [00:05:41] Wir wollen heute mit Ihnen im Detail über Ihre Biografie sprechen, was Sie erlebt haben, aber vor allem auch, welche Aufklärungsarbeit Sie heute leisten. Ich würde gerne noch mal in der Vergangenheit bleiben. Sie haben mit Mitte 30 diesen Film gesehen, haben sich das dann, irgendwann ist Ihnen das bewusst geworden, moment, da ist mir was passiert als Jugendlicher. Wenn Sie sich zurückerinnern an die Zeit, wo Sie 13, 14, 15 waren. Was glauben Sie aus heutiger Sicht, warum Sie sich da niemandem anvertraut haben?

Matthias Katsch [00:06:12] Na ja, ich glaube, zunächst mal, ob sich das wirklich geändert hat, wage ich zu bezweifeln. Aber jedenfalls damals sprach man nicht über Sexualität als Jugendlicher mit Erwachsenen. Also wem hätte ich mich anvertrauen sollen? Sicherlich nicht meinen Eltern. Und ich bin ja auch Opfer geworden von zwei Priestern, die sich mir quasi als Vertrauensperson angenähert hatten. Also wo hätte ich mich sonst hinwenden sollen? Ich glaube, Sexualität ist für Jugendliche ohnehin ein schwieriges konfliktbeladenes Thema. Und wenn das gezielt ausgenutzt wird von Erwachsenen, dann ist man zunächst mal hilflos und allein mit der Situation. Das Verrückte ist ja, wir haben im Nachhinein ja festgestellt, dass an dieser Schule, in der in über mehr als ein Jahrzehnt Dutzende von Jungen diese Gewalterfahrungen gemacht haben. Und wir haben praktisch nicht darüber gesprochen miteinander. Obwohl wir es ahnten oder wissen, ja voneinander wussten, ohne es verbalisiert zu haben. Einfach aus Beobachtungen heraus, aus aus Schlussfolgerungen, die man zieht. Wenn du siehst, dass ein Kamerad in das gleiche Zimmer reingeht, in das du hineingegangen bist und in dem dir etwas widerfahren ist, dann kann man vermuten, dass es ihn vielleicht auch trifft, auch ohne dass man darüber spricht. Ich glaube, was uns gefehlt hat, waren sichtbare oder Angebote von Erwachsenen, die uns dazu ermutigt hätten, sich anzuvertrauen oder oder Hilfe zu suchen. Das gab es nicht, und ich habe meine Zweifel, ob es das heute in ausreichendem Maße gibt.

Nadia Kailouli [00:08:02] Daher ist es ja umso wichtiger, dass wir offen über diese Themen sprechen. Manche Menschen, die das erlebt haben, die tragen das, ich sage es jetzt mal ganz extrem mit ins Grab. Die äußern sich niemals dazu. Die nehmen das mit sich mit und vertrauen sich nie jemandem an. Sie haben mit Mitte 30 eben diesen Film geschaut und irgendwann gemerkt okay, Moment, ich muss das irgendwie öffentlich machen. Und zwar muss ich dann die Leute anschreiben, wo es passiert ist. Was hat Sie zu diesem Schritt bewegt?

Matthias Katsch [00:08:33] Also wie gesagt, ich habe durch Zufall einige Jahre nach der Situation mit dem Film einen der Täter bei einer Veranstaltung hier in Berlin getroffen. Und das hat meine Erinnerung soweit in Gang gesetzt, dass ich den Bezug, den Zugang zu meiner Kindheit, zu meiner Jugend wiedergefunden habe. Ich wusste aber nicht, was ich damit machen soll. Eine kurze Prüfung hat klar gemacht, dass die Verbrechen selber offensichtlich bereits verjährt waren. Es war wirklich die Frage: Wem nütze ich damit, wenn ich anfange, darüber zu sprechen? Und es hat noch mal ein paar Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, es nützt mir, darüber zu sprechen. Und als ich dann festgestellt habe, du bist nicht allein, es gibt Kameraden, denen Ähnliches widerfahren ist, da war dann die Konsequenz zu sagen Okay, wir müssen versuchen, all diejenigen, die dasselbe erfahren haben und die genauso im Nebel ihr Leben verbracht haben oder verbringen wie wir. An denen müssen wir ein Signal senden. Und am Anfang stand gar nicht die Intention, die große Öffentlichkeit zu erreichen, sondern die Intention war tatsächlich: Wie erreichen wir unsere Kameraden und sagen ihnen, schaut her, wir haben das und das erlebt. Mutmaßlich dasselbe wie was ihr erlebt habt. Wir haben angefangen, darüber zu sprechen, uns damit auseinanderzusetzen. Und wir haben gemerkt das tut uns gut.

Nadia Kailouli [00:10:09] Hmm, aber war das dann das erste, also haben Sie in der Zwischenzeit sich nie jemandem anvertraut? Oder hatten Sie schon Vertrauenspersonen in Ihrem privaten Umfeld, wo Sie das geäußert hatten?

Matthias Katsch [00:10:21] Nein, nein. Ich habe tatsächlich nur mit dem einen oder anderen Schulkameraden, mit dem ich Kontakt aufgenommen hatte, angefangen, darüber zu sprechen. Das hat lange gedauert, bis ich darüber hinausgegangen bin eigentlich. Also mein Vater hat es am Vorabend der Zeitungsveröffentlichung 2010 erfahren und die meisten anderen Freunde, Bekannte, Kollegen natürlich dann auch erst aus den Medien. Also dieses sich anvertrauen oder sich Unterstützung suchen ist gar nicht so einfach. Man muss da über seine innere Scham hinausgehen und Vertrauen fassen. Und das ist natürlich genau ein Problem für Menschen, deren Vertrauen, deren kindliches Vertrauen so massiv missbraucht worden ist. Denen fällt es eben naturgemäß schwerer, anderen zu vertrauen, sich anderen anzuvertrauen. Und das ist tatsächlich etwas, was ich auch lernen musste.

Nadia Kailouli [00:11:18] Haben Sie sich selbst vertraut, Ihren Erinnerungen vertraut, als diese Bilder wieder hochkamen?

Matthias Katsch [00:11:24] Das ist eine gute Frage. Ich habe immer gesagt, wenn mich jemand in den 30 Jahren zwischen meiner Kindheit und dem Wiedererwachen der Erinnerung gefragt hätte, ist dir das oder das passiert? Ich hätte das jederzeit bejahen können. Also es war nicht weg im Sinne von völlig aus dem aus dem Gedächtnis verschwunden. Es war nur nicht für mich aktiv erreichbar im Hier und Jetzt. Ich habe es nicht zusammengebracht mit meiner aktuellen Biografie. Trotzdem wir reden ja über eine ferne Vergangenheit und jenseits der sehr konkreten und auch sehr schmerzhaft erinnerlichen konkreten Taten und Situation gibt es natürlich ganz viele Details, die ich vergessen habe. Ich wusste dann nicht mehr genau, waren wir in dem Jahr auf der Klassenfahrt oder bei der Veranstaltung? War das im im Sommer oder war es vielleicht noch im Herbst? War es Donnerstag oder war es Samstag? Also ganz viele Details aus der aus der Zeit hat man natürlich vergessen. Und es hat wahnsinnig geholfen. Im Gespräch mit anderen Sachen auch rekonstruieren zu können. Und. Sich damit auch seiner eigenen Erinnerung zu vergewissern. Ich habe später dann im Austausch mit Betroffenen, die sexuelle Gewalt alleine erfahren haben in ihrer Familie, gemerkt, wie wichtig das eigentlich ist, sich abstützen zu können in der Erinnerung und sich unterstützt zu wissen in seiner Erinnerung. Das ist eben der Vorteil wenn du eine Gruppe von Betroffenen hast, die mehr oder weniger zur gleichen Zeit das gleiche oder ähnliches erlebt haben, weil man da natürlich ganz anders mit diesen fernen Erinnerungen umgehen kann, als wenn du alleine bist und nur auf dein eigenes Gedächtnis vertrauen kannst.

Nadia Kailouli [00:13:42] Sie hatten sich dann eben mit ehemaligen Mitschülern zusammengetan und einen Brief geschrieben, und zwar an Klaus Mertes. Und das ist der Schulleiter des Canisius-Kolleg, auf dem Sie ja damals waren. Wie kann ich mir das vorstellen, dass Sie sich da hinsetzen und einen Brief schreiben? Und dieser Brief, ja, ich weiß nicht, war das dann so eine Art Anklage an die Schule? War das eine Zeugenaussage? Wie würden Sie diesen Brief beschreiben?

Matthias Katsch [00:14:11] Na ja, tatsächlich habe ich mich an die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens damals gewandt, und die fragte, ob ich bereit bin, mein Schreiben sozusagen weiterleiten zu lassen an den Schulleiter. Ich habe einfach nüchtern geschrieben, was war. Und gleichzeitig auch betont, dass wir davon ausgehen, dass es eben eine wesentlich größere Zahl von Betroffenen geben muss. Das war keine Anklage, das war einfach eine Feststellung. Der Auslöser, warum wir das im Herbst 2009 gemacht haben, war schlicht und einfach, es gab eine Online-Debatte unter ehemaligen Schülern darüber, ob man an den Ehemaligentreffen der Schule teilnehmen soll. Und mir ging es einfach darum zu zeigen, das gehört zu der Geschichte mit dazu und das muss auch erinnert werden und das ist bisher nicht erinnert worden und das ist nicht bearbeitet worden. Und die Reaktion des Schulleiters war dann tatsächlich sehr ermutigend in dem Sinne, dass er sich bedankt hat für diese Klärung und uns aufgefordert hat zu sprechen, sodass wir uns dann auch verabredet haben im Januar 2010. Mein Ziel und unser Ziel war tatsächlich die Kameraden, von denen wir vermuteten, dass sie das Gleiche erlebt hatten wie wir durch die beiden Serientäter, zu erreichen und ihnen zu signalisieren, ihr seid nicht alleine. Und wir haben angefangen, das zu bearbeiten und begreifen, dass das eine Auswirkung auf unser Leben gehabt hat. Und eigentlich ging es nur darum, diese dieses Signal zu senden, was dann jeder damit macht. Das ist dann wieder individuell auch verschieden.

Nadia Kailouli [00:16:04] Jetzt sagten Sie ja gerade, dass das ja eher so ein Ruf auch an die anderen war, zu sagen, okay, wir äußern uns jetzt, ihr könnt das auch. Hätten Sie jemals damit gerechnet, dass es dann so viele Fälle gibt? Sie haben da ja wirklich, ich meine das ist, damit war ja der Missbrauchsskandal eröffnet sozusagen.

Matthias Katsch [00:16:22] Das war der Punkt. Also, was unsere Schule anging, was unsere Täter anging, waren wir uns ziemlich sicher, dass es sich um eine dreistellige Zahl von Betroffenen handeln würde. Einfach, wenn man sich das anschaut. Die sind über mehr als ein Jahrzehnt an dieser Schule gewesen, haben ein bestimmtes Täter Verhalten entwickelt und sind einer bestimmten Strategie gefolgt, um Jahrgang für Jahrgang immer wieder Jungen anzusprechen und zu manipulieren und in ihre in ihre Kreise hineinzuziehen. Das konnte man hochrechnen, dass es sich um eine sehr große Zahl von potenziell Betroffenen handelt. Was uns verblüfft hat, was wir nicht ahnen konnten, dass wir mit dieser Geschichte und dem Berliner Canisius-Kolleg eben nicht alleine da standen, sondern dass hinterunserer Geschichte ein Skandal lauert, der die gesamte höhere Bildung in Deutschland, also Internate, Schulen, Bildungseinrichtungen kreuz und quer nicht nur im Bereich der katholischen Kirche, sondern auch in anderen Einrichtungen, reformpädagogische Einrichtungen wie die Odenwaldschule, betrifft. Dass also ein ganzes Feld von von Opfern so lange nicht sichtbar gewesen war, das war mir nicht bewusst, das bei uns nicht bewusst. Und deswegen waren wir genauso verblüfft wie alle anderen auch. Dass dieser Skandal, mit dem Skandal hatte ich schon gerechnet, dass so einer renommierter Schule, wenn da auf einmal 100 oder noch mehr Opfer auftauchen, unvermittelt aus der Vergangenheit, dass das Welle macht, dass das mediale Aufmerksamkeit generiert. Aber womit wir nicht gerechnet haben, dass das sich fortsetzen würde. Und dass, das der der Auslöser oder Initialzündung dafür sein würde, dass ganz viele Opfer, die wir bisher nicht gesehen haben, sichtbar werden. Zunächst mal das Offensichtliche, Betroffene aus dem Bereich der Kirche und Männer als Opfer, also das ist auch etwas, was bis dahin zumindest in Deutschland so nicht wahrgenommen worden war. Nicht, dass es der Wissenschaft nicht klar gewesen wäre oder den Fachexpertinnen und -Experten nicht klar gewesen wäre. Aber der allgemeinen Öffentlichkeit war es nicht klar. Aber dabei ist es ja nicht geblieben, sondern in der Folge dieses Missbrauchsskandals haben sich ja ganz viele Betroffene und dann zunehmend auch Frauen und Menschen, die im Bereich der Familie, in ihrem unmittelbaren familiären Umfeld Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, zu Wort gemeldet. Und das hat etwas verändert. Diese Sichtbarkeit hat etwas verändert.

Nadia Kailouli [00:19:05] Was hat das mit Ihnen gemacht? Haben Sie sich dadurch verändert? Also ich kann mir vorstellen, dass man dann doch erst mal irgendwie zurückfällt und sich denkt, oh mein Gott, was ist da passiert? Oder stärkt das einen? Schwächt das einen? Wenn man merkt, oh mein Gott, was haben wir da eigentlich losgetreten? Und guck dir mal an, wie viele Menschen jetzt Mut bekommen haben, sich zu äußern. Aber natürlich, wie viele Menschen, wie Sie eben auch sagten, Ihr Vater, der aus der Presse davon erfahren hat, ja den Schmerz ja auch noch mal erleben.

Matthias Katsch [00:19:33] Also, das was uns hindert, das anzuschauen, ist ja zuallererst mal dieses Schamgefühl. Das hast du als als Kind, als Jugendlicher. Du schämst dich für diese ganze Situation. Und das trägt eben mit dazu bei, dass du dich isolierst, dass du nicht darüber sprichst, dass du das für dich behältst, wenn du keine offensichtlichen Hilfsangebote bekommst, die leicht erreichbar gewesen wären. Irgendwann vernarbt das dann und die Wunde wächst irgendwie zu und das Leben geht weiter. Was wir 2010 erlebt haben, war ein Überwinden dieser Scham. Und dann zu merken, du bist nicht alleine, das sind ganz viele andere, denen es ganz genauso geht. Das ist sehr entlastend und sehr befreiend. Und das war, glaube ich, auch das vorherrschende Gefühl. Eine große Befreiung, verbunden natürlich auch mit mit Schmerzen. Weil umso klarer man sich dann auseinandersetzt mit dem, was gewesen ist, umso klarer wird dir ja auch, dass dein ganzes späteres Leben beeinflusst worden ist durch diese Verbrechen und dass du die Chance, sich damit auseinanderzusetzen, eben erst jetzt, nach über 30 Jahren bekommen hast. Und es ist eine vertane Zeit. Das tut einfach weh zu merken, dein Leben ist halb rum und du fängst jetzt erst an zu verstehen, was dein Leben entscheidend geprägt hat. Das fühlt sich total, ja belastend an auf der einen Seite. Es ist tut auch weh, die Erinnerung, man schläft schlecht, man ist aufgewühlt, es ist alles wieder da. Das, was vorher so schön versteckt, unter der Decke verdrängt war, macht sich auf einmal rasend breit im Leben, aber auf der anderen Seite eine große Erleichterung, mit der Scham, nicht alleine zu bleiben, zu merken, du bist Teil eines größeren Problems. Auch eine neue Sinnhaftigkeit. Warum ich? Das fragt sich, glaube ich, jedes Opfer eines Verbrechens. Warum hat es mich getroffen? Und gibt es da einen höheren Sinn dahinter? Den gibt es in der Regel nicht. Es ist einfach zufällig. Aber ich kann dieser Geschichte einen Sinn verleihen, wenn ich anfange, es zu nutzen, um dafür zu sorgen, dass das zum Beispiel anderen nicht passiert, dass sich das nicht wiederholt. Und indem ich dafür sorge, dass diesmal aber wirklich alles aufgedeckt und aufgeklärt wird. Und das war dann ziemlich schnell auch der Weg, den wir noch 2010 klar vor uns gesehen haben, dass es darum gehen muss, die Dinge aufzuklären und aufzuarbeiten und dazu beizutragen, dass sich das nicht wiederholt.

Nadia Kailouli [00:22:39] Wenn Sie heute, wenn wir mal ins Jetzt springen, weil Sie gerade die Aufklärung und Aufarbeitung anschauen. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie sehen, wo die katholische Kirche zum Beispiel heute steht in der Aufarbeitung? Es ist es ja immer noch täglich Thema. Wie geht man damit um?

Matthias Katsch [00:22:55] Ja, das gehört zu den Dingen, die wir völlig unterschätzt haben, die Beharrungskräfte von Institutionen und auch von Gesellschaft, gerade bei diesem Thema. Wir haben im März 2010, als wir uns als Gruppe den eckigen Tisch gegründet haben, an die Öffentlichkeit gewandt, mit einer ersten Erklärung. Und da haben wir drei Dinge gefordert, die wir eigentlich genau so heute nach wie vor fordern können: Das ist Aufarbeitung, das ist Hilfe, das ist Entschädigung. Und alle drei Themen sind in diesen elf, fast zwölf Jahren ein Stück weit natürlich bewegt worden und vorangebracht worden. Aber eben nur ein Stück weit. Und es ist eine unglaublich langwierige und anstrengende Aufgabe geworden. Die Institutionen zu bewegen, Verantwortung für ihre Verbrechen zu übernehmen. Weil das war für mich die große Entdeckung 2010, dass ich Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch geworden war, das wusste ich seit einigen Jahren. Ich wusste nur nicht so richtig, was ich damit anfangen sollte. Die Neuigkeit für mich war das Systematische dahinter. Und als wir das begriffen haben, dass es eben kein Zufall ist, dass so viele von uns diese Erfahrung gemacht haben, dass die Vorgesetzten der Täter es gewusst haben und nichts getan haben, um uns zu beschützen. Dass die Vorgesetzten der Täter im Gegenteil sogar aktiv dafür gearbeitet haben, um die Täter zu beschützen vor Entdeckung und vor den Konsequenzen ihrer Taten. Und dass sie das nicht nur in der fernen Vergangenheit vor Jahrzehnten gemacht haben, sondern dass sie das bis heute tun. Dass sie bis heute zum Beispiel die Akten über die Täter verstecken. Vor Strafverfolgung, vor Aufdeckung, vor Aufklärung. Das ist etwas, was mir dann deutlich gemacht hat, vor was für eine Aufgabe wir stehen. Wir stehen nach wie vor vor dieser mächtigen Institution Kirche, die perfekt vernetzt ist, die mächtig ist, die die Politik auf ihrer Seite hat, und müssen sie dazu zwingen, sich erstens mal mit ihren Verbrechen auseinanderzusetzen und zweitens auf ihre Opfer zuzugehen. Und drittens, diese Opfer auch zu entschädigen und zu versuchen, jedenfalls das wiedergutzumachen, was sie angerichtet haben. Und das ist eine sehr, sehr anstrengende und langwierige Aufgabe geworden

Nadia Kailouli [00:25:41] Sie hatten jetzt bei Ihren drei Punkten Aufklärung, Aufarbeitung und Entschädigung genannt,  richtig?

Matthias Katsch [00:25:47] Aufklärung und Aufarbeitung nehme ich mal zusammen. Das sind zwei Aspekte, aufklären, was war und dann aufarbeiten die Ursachen. Hilfe ist das zweite und Entschädigung ist das dritte.

Nadia Kailouli [00:25:58] Was ist mit Verurteilungen?

Matthias Katsch [00:26:02] Ja, na gut. Das ist tatsächlich etwas. Die Täter, die die Verbrechen tatsächlich begangen haben, also die Missbrauchstäter, die profitieren davon, dass in unserer Gesellschaft es das Institut der Verjährung gibt. Das heißt, wenn ein Verbrechen nicht rechtzeitig angezeigt wird, dann kann es nicht mehr strafrechtlich bearbeitet werden. Und die Institution profitiert davon, dass Vertuschen in Deutschland nicht strafbar ist. Es gibt keine Pflicht als Vorgesetzter, irgendwen davon zu unterrichten, wenn ich mitbekomme, dass ein Mitarbeiter von mir Kinder missbraucht. Allenfalls könnte man mir eine Mittäterschaft konstruieren, wenn man sozusagen sehenden Auges einen Täter weiter gewähren lässt und dadurch neue Taten entstehen. Aber das ist sehr schwer im Einzelfall nachzuweisen. Es gibt keine Pflicht zur Anzeige von Verbrechen, die Mitarbeiter von mir an Kindern oder Jugendlichen verüben. Und deswegen gibt es eigentlich keine juristische Möglichkeit und das, was war, zu bearbeiten. Das ist erschreckend, wenn man das realisiert. Und verlangt, dass wir etwas tun, um diese Verbrechen mindestens zu bearbeiten, wenn wir schon nicht die Täter bestrafen können, weil das Verjährungsrecht ist in der Zwischenzeit verändert worden. Das ist auch gut. Die Verjährung bei sexuellem Missbrauch setzt jetzt später ein als früher. Aber das ändert nichts mehr für die Vergangenheit. Was verjährt ist, ist verjährt, das kann ich nicht rückgängig machen im Recht. Jedenfalls im Strafrecht nicht. Und deswegen bleibt uns nur die Aufarbeitung, also das ans Licht holen und Durcharbeiten dessen, was war. Und auch wenn es keine strafrechtlichen Konsequenzen hat, kann ich zumindest dafür sorgen, dass Täter, und zwar sowohl die Missbrauchstäter als auch die Vertuschungstäter benannt werden und öffentlich gemacht werden. Und das ist das was, was wir fordern, das geschieht.

Nadia Kailouli [00:28:19] Jetzt sind Sie ja nicht einfach nur eine Stimme mit einer Geschichte, sondern Sie sind eben eine Stimme für ganz viele und in dieser ganzen Missbrauchsskandalgeschichte eine sehr wichtige Stimme geworden. Gab es den Tag, wo sie sich gedacht haben, oh Mann, warum habe ich das öffentlich gemacht? Hatten Sie so Punkte, wo Sie, ich sage es mal so, schwach geworden sind und sich gedacht haben, hätte ich es mal lieber nicht erzählt, guckt mal was, das jetzt hier, das begleitet Sie ja seit Jahren, eben in dem Sinne, dass Sie ja auch, wie wir Sie ja jetzt heute auch einladen und mit Ihnen sprechen wollen.

Matthias Katsch [00:28:54] Na ja, es hT diesen Moment gegeben. Ich denke mal 2011, 2012, als als diese erste Welle abgeebbt war. Und ich das erlebt habe, was vor mir auch andere Aktivistinnen insbesondere erlebt haben, dass nämlich die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit halt dann doch irgendwann an eine an ein Ende kommt. Denn seit den 70er, 80er Jahren versuchen ja insbesondere Frauen oft, das Phänomen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und sexueller sexualisierter Gewalt insgesamt in der Gesellschaft hinzuweisen. Mit mäßigem Erfolg. Und 2011, 2012 hatte ich wirklich das Gefühl, wir haben da was angestoßen. Wir haben da die Institution mal kurz zum Wanken gebracht und auch die Öffentlichkeit erschüttert aber es hat keine Konsequenzen. Es bleibt letztlich da liegen und dafür hast du dich aus deiner Berufstätigkeit verabschiedet, hast ja Himmel und Erde versucht, in Bewegung zu setzen. Und was hast du erreicht? Überhaupt nichts. Ich hatte wirklich das Gefühl, es wäre besser gewesen, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Aber ich habe gleichzeitig auch gespürt, dass mich das ärgert, dass es mich enorm wütend macht, dass diese ganzen Anstrengungen umsonst gewesen sein sollen. Und dann, ja dann ist die Konsequenz zu sagen, okay, gut, was kann man jetzt tun und wo finden wir Verbündete, um sozusagen ein Rückspiel zu bekommen? Und ja, das ist das, was wir dann in den in den Jahren danach gemacht haben. Und als dann 2018 die sogenannte MHG-Studie über das ganze Ausmaß von Missbrauch durch katholische Priester in Deutschland aufgedeckt hat und an die Öffentlichkeit gebracht hat, hatten wir diese Gelegenheit sozusagen für für eine erneute Debatte und Auseinandersetzung. Und das hat dann auch gezeigt, dass es uns gelungen war, Verbündete in der Gesellschaft zu gewinnen und das Thema noch mal in einer anderen Weise auch zu bearbeiten. Aber ja, diesen Moment gab es zwischendurch, wo ich dachte, es ist sinnlos und der Preis, den wir dafür gezahlt haben, ist eigentlich zu hoch.

Nadia Kailouli [00:31:51] Sie wurden mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet für Ihr Engagement in der Aufklärung. Was hat Ihnen das bedeutet?

Matthias Katsch [00:32:00] Na ja, es war ein Moment der Anerkennung. Ich habe mich sehr gefreut über diese Zeremonie. auch die Art und Weise, wie der Bundespräsident und seine Frau da mit uns umgegangen sind. Ich fand es enorm wichtig, dass trotz der ganzen Corona-Beschränkung, dass ich meinen Mann mitbringen konnte, ohne den ich glaube ich auch diese zehn Jahre so nicht hätte bestreiten können, dass der auch ein Stück weit was von dieser Anerkennung zu spüren bekommt. Es war ein wichtiger Moment, glaube ich nicht nur für mich, sondern für alle, die sich eingesetzt haben in den letzten Jahren, dafür, dass Kindesmissbrauch eben bearbeitet wird, was die Vergangenheit angeht, aber eben auch die Anstrengungen unternommen werden, um es als Phänomen in unserer Gesellschaft zu überwinden. Weil das ist, glaube ich, das muss die Konsequenz sein aus der Auseinandersetzung mit dem, was uns in der Kindheit widerfahren ist, dass wir alles dafür tun, dass das heutigen Kindern und Jugendlichen erspart bleibt und sie besser versorgt werden. Und dass dieses Phänomen, dieses Gewaltphänomen eben nicht hingenommen wird als etwas, woran man nichts ändern kann, sondern aktiv bearbeitet wird, als etwas, was man verändern muss. Und das hat für mich diese Zeremonie zum Ausdruck gebracht, dass das gesellschaftlich sich in der Zwischenzeit auch anerkannt wird und diese Anerkennung mir stellvertretend für viele andere auch zuteil geworden ist, hat mich natürlich gefreut.

Nadia Kailouli [00:33:53] Sie haben ein Buch geschrieben, das wurde letztes Jahr veröffentlicht, "Damit es aufhört", heißt es. Warum haben Sie sich entschieden, über Ihre Geschichte ein Buch zu schreiben und vor allem für diesen Titel dann auch entschieden?

Matthias Katsch [00:34:05] Zum einen wollte ich mal versuchen im Zusammenhang zu erklären, wie eigentlich die Dinge sich 2010 und folgende entwickelt haben und warum wir auch so beharrlich da dran bleiben. Viele Leute haben mir zwischendurch immer wieder mal gesagt, nun ist doch mal gut, also muss man denn ewig darüber reden? Ja, dir ist was Schlimmes passiert, als du klein warst. Aber nun ist ja auch gut, jetzt ist ja lang genug darüber gesprochen werden. Muss denn das immer noch weitergehen? Und ich wollte wenigstens einmal den Versuch unternehmen, zu beschreiben, erstens mal, warum das für mich persönlich wichtig ist und auch bleibt, aber warum es eben auch gesellschaftlich notwendig ist, darüber zu sprechen. Nämlich, damit es aufhört, weil es eben nicht etwas ist, was nur in der Vergangenheit geschehen ist, in irgendwelchen finsteren Zeiten, als alles noch ganz anders war, als es heute ist. Sexueller Kindesmissbrauch passiert nach wie vor, und es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass aufgrund von den der Debatte der letzten zehn, zwölf Jahre es wesentlich weniger geworden wäre. Wir sehen vielleicht heute etwas mehr von dem sogenannten Dunkelfeld als vor zehn Jahren. Die konstant hohe Zahl der Anzeigen in der Polizeilichen Kriminalstatistik ist davon vielleicht ein Ergebnis, dass mehr Verbrechen auch angezeigt werden. Aber dass es weniger geworden wäre, würde ich wagen zu bezweifeln. Und das zeigt, dass wir wirklich erst am Anfang stehen und dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema gesellschaftlich eigentlich noch nicht auf der Höhe der Anforderung ist. Es ist ein Phänomen vom Ausmaß einer Volkskrankheit. Vergleichbar mit den großen Phänomenen, was weiß ich, Diabetes oder oder andere Erkrankungen, die eine große Gruppe von Menschen bedrohen, zehn Prozent eines Jahrgangs sagen wir. Aber die Anstrengungen, die wir unternehmen, um uns damit auseinanderzusetzen, sind im Vergleich eben völlig unangemessen. Es reicht bei weitem nicht aus. Sexueller Kindesmissbrauch ist nicht etwas, was irgendwie nur in einer Spezialabteilung irgendwo von Expertinnen und Experten bearbeitet werden kann. Es ist ein Querschnittsthema, was ganz viele Politikbereiche und gesellschaftliche Felder betrifft von der Gesundheitsversorgung, von Opfern über die polizeiliche Ermittlungsarbeit, das, was Justizpolitik ausmacht, bis hin zu gesellschaftlichen Fragen des Zusammenlebens von Männern und Frauen in dieser Gesellschaft und der Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern umgehen, wie wir sie erziehen. Es gibt 30.000 Schulen in diesem Land, die eigentlich vor der Herausforderung stehen, so etwas wie Schutzkonzepte zu entwickeln im Umgang mit sexualisierter Gewalt, um Kindern und Jugendlichen eben zu signalisieren, wir sind ansprechbar, wir sind bereit zuzuhören, wenn euch etwas Schlimmes passiert, und wir sind bereit zu intervenieren, wenn uns das auffällt, wenn wir das bemerken. Das ist eigentlich eine mega gesellschaftspolitische Aufgabe und wir gehen da nach wie vor heran, als ob das irgendwie exotische Einzelfälle wären.

Nadia Kailouli [00:37:53] Hat sie das, weil Sie gerade eben das Politische, Gesellschaftspolitische ansprechen? Würde ich gerne darauf kommen, dass Sie bei der letzten Bundestagswahl kandidiert haben, und zwar im Wahlkreis 284 Offenburg. Ist das Ihre Motivation gewesen, weil Sie eben merken, wie viele Baustellen es da eigentlich gibt.

Matthias Katsch [00:38:09] Es ging mir darum zu zeigen, dass man den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu einer politischen, einer gesellschaftspolitischen Aufgabe machen muss und machen kann. Dass es möglich ist, als Politiker über dieses Thema zu sprechen und auch öffentlich zu sprechen. Und dass es notwendig ist, dass wir es eben aus der aus dem Bereich der aus der Schmuddelecke herausholen, in der es nach wie vor immer wieder droht zu versinken. Das heißt, wir erregen uns, wenn in den Zeitungen mal über einen Fall berichtet wird und ein Fall skandalisiert wird. Aber wir begreifen nicht, dass das eine Realität ist, die auch abseits der Skandalberichterstattung ganz viele Kinder und Jugendliche hier und heute betrifft und ihr weiteres Leben prägen wird. Und dass wir als Gesellschaft die Pflicht und die Aufgabe haben, diesen Kindern zu signalisieren, dass wir für sie da sind, dass wir ihnen Hilfe anbieten und auch anbieten können. Und vor allem auch den Tätern zu signalisieren, dass sie ein hohes Entdeckungsrisiko haben. Weil diese Gesellschaft gelernt hat, auf Signale zu achten. Weil diese Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren, dass es eine relevante Gruppe von Tätern und Täterinnen unter uns gibt und es eben nicht sich um ein Feld handelt, was irgendwie gestörte oder besonders kranke Menschen betrifft, sondern der oder die Täter sind ganz normale Menschen, die unter uns leben. Und jeder von uns kennt Täter, genauso wie jeder von uns auch Opfer kennt, ohne es zu wissen und das zu realisieren und dann zu sagen, okay, damit können wir uns ja nicht abfinden, jetzt müssen wir etwas tun, um das zu verändern. Dieser Wille, der fehlt mir in der Politik, der fehlt mir in der öffentlichen Debatte. Und dafür wollte ich antreten, um das zu befördern.

Nadia Kailouli [00:40:23] Jetzt müssen wir dazu sagen, das ist der Wahlkreis von Wolfgang Schäuble. Da haben Sie sich also einen Kandidaten rausgesucht, aber Sie sprechen die Relevanz an, die Punkte, die die Politik übernehmen muss. Können wir damit auch raushören, dass sie in vier Jahren wieder antreten, weil sie wissen, was zu tun ist und weil sie das auch gerne selber umsetzen möchten.

Matthias Katsch [00:40:42] Was in vier Jahren sein wird, weiß ich jetzt noch nicht. Aber das ist auch nicht das Entscheidende, dass ich jetzt im Parlament sitze, sondern entscheidend ist, dass die Aufgabe, den Kampf gegen Kindesmissbrauch als gesellschaftliche Aufgabe, die bessere Versorgung von Betroffenen, die Aufarbeitung der Vergangenheit, die institutionelle Verantwortung, dass das eine Aufgabe ist, die von Politik akzeptiert wird und umgesetzt wird. Und dazu werde ich versuchen, meinen Beitrag zu leisten. Und ich bin ziemlich sicher, dass wir in den kommenden Jahren auch verstärkt politisch darüber diskutieren werden, weil es eben mehr und mehr klar wird, dass wir hier ein ganz wichtiges, einen ganz wichtigen Hebel auch haben, um in unserer Gesellschaft Gewaltverhältnisse zu überwinden. Es hängt so viel Elend, nicht nur individuell, sondern wirklich auch über das Opfer hinaus, im Umfeld, in der Familie, in der nächsten Generation, Gewalt, die sich fortpflanzt. Wir müssen an der Stelle ins Handeln kommen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es so ist, weil es immer so war. Und das Bewusstsein, das glaube ich, ist gewachsen in den letzten Jahren. Und dazu trägt sicherlich bei, dass es eben heute möglich ist, über solche Gewalterfahrung öffentlich zu sprechen. Und es ist eben nichts Besonderes mehr, weil ja es normal geworden ist und auch die Normalität in diesen Verbrechen erkannt wird. Das ist, wenn man das so ausspricht, Kindesmissbrauch ist normal,  dann stutzt man erst mal und sagt, nee, das ist doch ein fürchterliches Verbrechen. Ja, aber eben eines, was tausendfach ständig sich wiederholt und insofern normal ist. Und gerade diese Normalität muss uns erschrecken und muss uns dazu veranlassen, aktiv zu werden und etwas dagegen zu tun.

Nadia Kailouli [00:42:50] Ich hoffe, dass in vier Jahren sich einige Hebel bewegt haben und dass wir uns dann noch mal unterhalten und wir vielleicht sehen können, dass sich sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft sich einiges getan hat. Matthias Katsch, vielen Dank für das Gespräch. Dankeschön.

Matthias Katsch [00:43:04] Danke Ihnen.

Nadia Kailouli [00:43:06] Also ich fand das wirklich toll, heute Herrn Katsch zu treffen. Weil man muss sich ja mal vorstellen, Herr Katsch und seine Mitschüler waren ja diejenigen, die durch einen Brief diesen kompletten Missbrauchsskandal erst mal ins Rollen gebracht haben. Also muss man sich mal vorstellen, ja, welche Tragweite eben diese eine persönliche Geschichte von diesen Schülern hatte für eine Masse von Menschen. Und ja, wer seine ganze Geschichte noch mal im Detail verstehen möchte, der sollte auf jeden Fall sein Buch lesen "Damit es aufhört".

Mehr Infos zur Folge

Nachdem der Brief von Matthias Katsch, in dem er sexuellen Missbrauch am Canisius-Kolleg aufdeckte, am 28. Januar 2010 durch die Berliner Morgenpost veröffentlicht wurde, meldeten sich in den folgenden Wochen und Monaten Hunderte weitere Betroffene an kirchlichen und anderen Einrichtungen. 

Mit seinem Brief hat Matthias Katsch dafür gesorgt, dass seitdem sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht mehr im Verborgenen bleibt, sondern das hohe Ausmaß sexuellen Missbrauchs in Deutschland öffentlich thematisiert wird.

2011 beschloss die katholische Kirche, den Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch durch katholische Geistliche eine von ihr sogenannte „Anerkennungsleistung für das erlittene Leid“ zu gewähren. 

Das ist nicht genug, sagte Matthias Katsch - und gründete mit anderen Betroffenen die Betroffeneninitiative Eckiger Tisch.Dieser Zusammenschluss fordert Aufklärung, Hilfe und Genugtuung, womit auch eine angemessene finanzielle Entschädigung gemeint ist.

Seit mehr als zehn Jahren engagiert er sich unermüdlich - und wurde dafür im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Die Homepage von Matthias Katsch:

https://matthias-katsch.de/

Die Betroffeneninitiative, die Matthias Katsch gegründet hat:

https://www.eckiger-tisch.de/

Rezension seines Buches “Damit es aufhört”: https://taz.de/Missbrauch-in-der-katholischen-Kirche/!5664785/ 

Matthias Katsch ist Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung sexueller Gewalt:

https://www.aufarbeitungskommission.de/

2020 gab es anlässlich “10 Jahre Missbrauchsskandal” zahlreiche Rückblicke, bspw. hier:

https://www.dw.com/de/zehn-jahre-missbrauchsskandal-schleppender-kampf-f%C3%BCr-mehr-schutz/a-52168410

Eine Chronologie der sexuellen Gewalt in der Katholischen Kirche (1994-2014):

https://www.spiegel.de/panorama/chronik-der-missbrauchsskandal-in-der-katholischen-kirche-a-1012711.html

Hilfe und Informationen zu sexuellem Missbrauch gibt es beim Hilfe-Portal und beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

presse@ubskm.bund.de

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