PODCAST | Folge 6 | Christiane Florin

„Wenn Sie die Akten lesen, sehen Sie die Kälte der Institution, dann sehen sie, dass die Strategie war, Opfer abzuweisen wohingegen die Täter oder die Beschuldigten gehätschelt wurden.”

Dass Christiane Florin mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nicht zufrieden ist, ist kein Geheimnis. Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin kritisiert die katholische Kirche seit Jahren scharf. “Eiskalt” seien die Institutionen, sagt sie, es gehe vor allem um den Schutz der Kirche, kaum um Hilfe für Betroffene.




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Christiane Florin [00:00:00] Da hat jemand Kinder vergewaltigt. Und dann ist für die Institution, für die Vorgesetzten, die entscheidende Frage: Wo zieht er jetzt hin und wo bringt er seine Möbel unter? Zum Beispiel. Das ist besonders entlarvend. Dann sehen Sie die Kälte der Institution, dann sehen Sie, dass die Strategie war, Opfer abzuweisen, wohingegen die Täter oder die Beschuldigten gehätschelt wurden.

Nadia Kailouli [00:00:21] Hi. Herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Einbiszwei? Ja genau. Ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast spreche ich mit Expert:innen, Journalist:innen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte, wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst. Gefühlt ist es schon ewig bekannt, dass sexueller Missbrauch in den Kirchen ein Problem ist – und trotzdem ist ebenso gefühlt nicht wirklich was passiert. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie umfangreich der Skandal innerhalb der Kirchen ist und es tauchen immer wieder neue Fälle vom sexuellen Missbrauch in der Kirche auf. Wie kann es also sein, dass all die vielen Missbrauchsfälle in den Kirchen so lange unentdeckt geblieben sind? Und wie sehen eigentlich Konsequenzen für die Täter, also die Priester und Pastoren aus? Und was macht dieses systematische Vertuschen der Taten mit Betroffenen? Über diese Fragen werden wir heute bei einbiszwei mit der Journalistin Dr. Christiane Florin sprechen. Seit 2016 ist sie Redakteurin beim Deutschlandfunk, vorher hat sie die Christ und Welt Beilage der Zeit geleitet und sie ist die Expertin, wenn es um das Thema sexueller Missbrauch in den Kirchen geht. Seit Jahren arbeitet sie die Missstände und fehlende Aufarbeitung auf und bringt sie in die Öffentlichkeit. Frau Florin, ich grüße Sie. Hallo.

Christiane Florin [00:02:02] Hallo.

Nadia Kailouli [00:02:03] Sie recherchieren ja wirklich schon seit Jahren zu den Fällen. Können Sie uns sagen, wie Sie dazu gekommen sind, warum Sie das gemacht oder angefangen haben?

Christiane Florin [00:02:11] Der Auslöser für mich war eigentlich weniger die institutionelle Seite, also die Gutachten, die Studien, die es da gibt, sondern tatsächlich, dass sich Betroffene gemeldet haben, und zwar auch sehr viele Betroffene gemeldet haben. Ich glaube deshalb, auch deshalb, weil sie kein Zutrauen mehr zu den Institutionen haben, aber sagen: Ich möchte sprechen, ich möchte, dass mir jemand zuhört, und ich möchte, dass jemand meine Geschichte öffentlich erzählt. So bin ich eigentlich zu diesem Thema gekommen und habe dann die Erfahrung gemacht, wie schwierig die Recherche ist. Also jetzt so etwas klischeehaft erzählt. Jemand schreibt mir seine Geschichte, ich nehme Kontakt auf, wir sprechen miteinander. Viele, viele Begegnungen. Und ich sage, ja da ergibt sich nun zumindest ein Anfangsverdacht. Und ich beginne jetzt auf Seiten der Institution nachzufragen. Wie haben Sie reagiert, als sich der Betroffene gemeldet hat? Wie und warum haben Sie so reagiert oder warum haben Sie gar nicht reagiert? All solche Fragen habe ich gestellt. Und dann stellen Sie eben fest, und das gilt für die katholische Kirche, aber auch für die evangelische Kirche, dann stellen Sie diese Mauer immer noch fest, wohingegen beide Kirchen in der Öffentlichkeit ja beteuern: Wir haben schon so viel gemacht, wir arbeiten auf, wir hören den Betroffenen zu. Wenn sie aber in die ganz konkrete Einzelgeschichte gehen, in die Einzelfallrecherche gehen, stellen sie fest: Das stimmt meistens nicht. Und wenn Sie das feststellen, dass das öffentliche, die öffentliche Darstellung und das, was die Wirklichkeit ist, so auseinanderklaffen, dann ergibt sich natürlich erst recht der journalistische Auftra daraus, weiter dran zu bleiben. Im Grunde ist das auch die alte klassische Vorstellung von Journalismus, dass wir unter anderem die Aufgabe haben, Mächtige zu kontrollieren und etwas an die Öffentlichkeit zu bringen, von dem Mächtige nicht wollen, dass es veröffentlicht wird.

Nadia Kailouli [00:04:11] Sie haben gerade die Mauern erwähnt. Wie haben Sie es geschafft, hier und da Mauern zu durchbrechen und sich in Ihrer Recherche nicht aufhalten zu lassen, weil es eben ein Thema ist, wo sich viele eben nicht öffnen, gerade was die Kirchen betrifft?

Christiane Florin [00:04:24] Da gibt es verschiedene Wege. Ich gehe manchmal auf Pressekonferenzen, das sind ja öffentliche Veranstaltungen. Und versuche dort die Fragen zu stellen, die unangenehm sind. Ich habe 2018, da war die Pressekonferenz der Deutschen Bischofskonferenz zur Vorstellung der MHG-Studie, also dieser großen Missbrauchsstudie, die die Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hatte, und da habe ich die Frage gestellt, angesichts dessen, was in dieser Studie stand, ob nicht ein oder zwei unter den fast 70 versammelten Bischöfen so viel persönliche Schuld auf sich geladen haben, dass sie sagen, ich kann die Verantwortung des Amtes nicht wahrnehmen. Eine komplizierte Frage, ich habe das Wort Rücktritt nicht erwähnt, aber so haben Sie es ja empfunden offenbar. Und Kardinal Marx hat nur mit einem Wort geantwortet: mit Nein. Und da habe ich gemerkt, das ist eine Frage, die hat irgendwie gesessen. Also das ist ein Weg. Der andere Weg, habe ich eben schon gesagt, das sind die Aussagen der Betroffenen. Und der dritte Weg ist, dass es manchmal auch, ja, sagen wir mal, Whistleblower gibt, Menschen, die einem vertrauliches Material aus der Institution zukommen lassen, Akten oder andere, jedenfalls interne Papiere. Und die sind für meine Recherche entscheidend. Also, denn das ist das, was die Institution auf eine Presseanfrage hin niemals herausgeben würde. Also ich habe zwei große Geschichten gemacht, eine aus dem Erzbistum Köln, eine aus dem Bistum Trier, die hätte ich ohne internes Material niemals machen können. So, und das ist, was Sie da zutage fördern, das ist besonders entlarvend. Dann sehen Sie die Kälte der Institution, dann sehen Sie, dass die Strategie war, Opfer abzuweisen, wohingegen die Täter oder die Beschuldigten gehätschelt wurden. Aber auch Täter, auch verurteilte Täter wurden gehätschelt. Mit denen wurde alles überlegt. Fragen des Alltags: Wohin sollen die ziehen? Kauft man denen eine Wohnung? Kann man denen größere Wege zur Arbeit zumuten? Also all solche Fragen, wo sie denken, wenn sie das lesen, ja, wie gibt es das denn? Da hat jemand Kinder vergewaltigt und dann ist für die Institution, für die Vorgesetzten die entscheidende Frage: Wo zieht der jetzt hin und wo bringt er seine Möbel unter? Zum Beispiel. Also ich sprach kürzlich mit einer Expertin und Betroffenen, die sagte, es gibt zwei Sorten von Menschen in diesen Recherchen. Es gibt die, die schon mal Akten gelesen haben und die, die noch keine Akten gelesen haben. Und diese Akten zu lesen, diese eiskalte Sicht der Institution angesichts der Taten, das verändert einen.

Nadia Kailouli [00:07:04] Wir können heute nicht alles im Detail besprechen, weil so viele Fälle ans Licht gekommen sind. Aber warum war gerade 2010 so wichtig in der Aufarbeitung dieser Fälle?

Christiane Florin [00:07:16] Ende Januar 2010 hat Klaus Mertes, ein Jesuit, also ein Ordensmann und damals Rektor des Berliner Canisius Kollegs, öffentlich gemacht, dass es an seiner Schule, an seinem Gymnasium viele Fälle sexualisierter Gewalt gab. Also geweihte Männer, Lehrer, Patres, hatten sich an Schülern vergangen, wie man so sagt, das Wort vergangen, über das Vokabular kann man ja auch immer noch mal extra sprechen. Und das Besondere war, dass Klaus Mertes ein Priester ist, ein Vertreter der Institution. Es ist ja nicht so, als wäre vorher über sexualisierte Gewalt in den Kirchen nicht berichtet worden. Es gab eine umfangreiche Berichterstattung darüber. Aber dass jemand aus der Institution selber das öffentlich macht, das war neu. Und in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten gab es ja eine umfassende Berichterstattung. Und zwar nicht nur über das Berliner Canisius Kolleg, also über diese Schule der Jesuiten und über den Jesuitenorden, sondern über Missbrauch in katholischen Einrichtungen, in Gemeinden, in anderen Schulen, in Internaten. Und interessant ist, Klaus Mertes hat das Ende Januar öffentlich gemacht, und es hat drei Wochen gedauert, bis der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, das war damals der Erzbischof von Freiburg, Robert Zollitsch, sich öffentlich dazu verhalten hat. Das wäre vielleicht heute nicht mehr vorstellbar, dass jemand drei Wochen lang schweigen kann. Aber so war das damals. Robert Zollitsch war Erzbischof von Freiburg, er war vorher lange Personal Referent gewesen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er selber geglaubt hat, dass es nur Einzelfälle sind und die auch lange her sind. Er muss gewusst haben, dass es keine Einzelfälle sind. Aber das war die erste offizielle Reaktion darauf. Die Erklärung Einzelfälle,  lange her und dann natürlich verbunden damit: Es ist Schreckliches geschehen, wir bitten um Entschuldigung bei den Opfern und ab jetzt hören wir den Opfern zu und stehen auf der Seite der Betroffenen. Also all das. Aber die Haltung der Institution war bei allen Worten des Bedauerns oder der Erschütterung, die man dafür gefunden hat die Haltung der Institution war eigentlich Abwehr. Zu sagen, das hat es gegeben, aber das hat mit uns heute nichts zu tun. Und das stimmt ja nicht. Das hatte mit der Institution 2010 zu tun und hat auch mit der Institution heute zu tun. Denn Bischöfe, die heute im Amt sind, haben eine Vergangenheit, die haben schon lange Personalverantwortung. Die müssen gewusst haben, dass es keine Einzelfälle sind. Und das hat lange gedauert. Es hat acht Jahre gedauert, bis sich die katholische Kirche offiziell von dieser Einzelfall Sprachregelung verabschiedet hat und gesagt hat, es ist etwas im System katholische Kirche, das diese Taten begünstigt und dass die Vertuschung begünstigt.

Nadia Kailouli [00:10:14] Aber hat die Institution nicht nach all den Jahren, wir sprechen jetzt erst von Beginn seit 2010, nach all den letzten elf Jahren nicht diese Brüderschaft auch irgendwann mal in Frage gestellt und sich gedacht okay, wir müssen anerkennen, dass unsere Brüder eben auch die Täter sind und das öffentlich so auch sagen?

Christiane Florin [00:10:33] Ja, das sagen sie öffentlich. Das sagen sie öffentlich. Ob sie das aber nach innen tun, ist eine andere Frage. Wenn sie das ändern möchten, mit diesem Mitbrüderlichem, dann reicht es ja nicht, dass sich jemand individuell anders verhält, sondern sie müssten ja tatsächlich das ganze System ändern. Die Selbstwahrnehmung ist ja so: Es gibt Schafe und es gibt Hirten. Und ein Hirte wird nicht so einfach zum Schaf, sondern ein Hirte, ein geweihter Mann, ist etwas Besonderes, der ist in einem anderen Daseins-Zustand. Der wird durch die Weihe zu einem anderen Wesen. Das ist das Amtsverständnis der römisch-katholischen Kirche. Und wenn sie jetzt aufbrechen wollen, dieses Männerbündische, dieses ja auch Giftige, wenn Sie das entgiften wollen, dann müssen sie ganz schön viel strukturell ändern. Und es ist ja merkwürdig, es ist ja nicht nur der Befund in Deutschland, sondern wenn Sie die australische Missbrauchsstudie anschauen, wenn sie Studien aus Irland anschauen, wenn sie amerikanische Studien anschauen und eben auch die MHG-Studie in Deutschland. Überall steht drin, es hat etwas mit den Männerbünden zu tun. Es hat etwas mit dem Amtsverständnis zu tun. Es hat etwas mit der Machtfülle zu tun, mit der das Priesteramt ausgestattet ist, und zwar nur allein, die Machtfülle kommt nur allein daher, dass ein Mann sagt, ich bin berufen. Und dann kriegt er eine Weihe und dann hat er plötzlich umfassende Macht, die er auch ausnutzen kann. Also, wenn Sie das alles sagen, wenn das alles festgestellt wird, institutionell ist daran nichts verändert worden.

Nadia Kailouli [00:12:06] Wie blicken Sie denn darauf, was den Nachwuchs betrifft? Also was jetzt die Priester und Pastoren betrifft, die erst ganz neu reingekommen sind in dieses Amt, die mit dieser Geschichte umgehen müssen und sich davon vielleicht auch abheben wollen und sagen, wir wollen nicht mehr in diesen Machtstrukturen unser Amt ausüben. Wie blicken Sie da auf den Nachwuchs?

Christiane Florin [00:12:27] Ich glaube, dass das nicht eine Frage ist von Alter, von Nachwuchs oder nicht Nachwuchs. Sondern es ist ja eher so, dass diejenigen, die jetzt sich entscheiden, katholischer Priester, römisch-katholischer Priester zu werden, dass die sich mit der Institution, so wie sie ist, sehr stark identifizieren. Sie haben ja heute nicht mehr die Situation wie noch vor 40 Jahren, dass viele so in so einer Aufbruchstimmung waren nach dem zweiten vatikanischen Konzil und gesagt haben: So, ich werde jetzt Priester, um etwas in dieser Institution zu verändern. Sondern Sie haben gerade viele junge Priester, die sagen: Nein, ich finde es richtig, dass es eine solche hierarchische Institution gibt. Und deshalb möchte ich, nicht nur deshalb, aber deshalb möchte ich auch Priester werden. Mit der Institution identifiziere ich mich. Ich kenne allerdings auch Priester, das sind nicht unbedingt die Jungen, dass sind auch Priester jetzt, die so um die 50 sind, die sagen, ich kann damit nicht leben, dass ich Teil einer Täterinstitution bin. Ich möchte selber aufklären. Ich möchte wissen, was in meiner Gemeinde passiert ist. Die kenne ich auch. Ja, die gibt es auch. Da möchte ich gar nicht drüber wegreden, dass es die auch gibt. Ich muss aber sagen, insgesamt finde ich die Priesterschaft zu diesem Thema sehr still. Es gibt sehr oft an uns von den Medien den Vorwurf: Ihr stellt uns alle unter Generalverdacht. Würde ich sagen, das ist nicht so, wir stellen nicht alle Priester unter Generalverdacht. Aber es gibt etwas Strukturelles, das habe ich vorhin dargestellt, worin es besteht. Also diesen Vorwurf höre ich sehr oft. Ich höre aber letztlich nicht, dass Hunderte von Priestern sagen: So, jetzt setzen wir aber mal die Hierarchen unter Druck. Wir stellen präzise Fragen. Wir fordern wirkliche Aufarbeitung, wirkliche Aufklärung. Wir möchten, dass sich mal ein Bischof hinstellt und ehrlich sagt, was er gemacht hat und nicht einfach sagt, da muss ich jetzt ein Gutachten abwarten. Denn das ist ja de facto noch nicht geschehen. Die Bischöfe haben gesagt: Ja, ich habe Fehler gemacht und so. Aber hat ein Bischof gesagt ich habe Akten vernichtet, ich habe die Opfer abprallen lassen? Hat ein Bischof gesagt, ich war ein Opportunist und deshalb haben mich die Opfer nicht interessiert? Also all solche Aussagen haben Sie ja noch nicht gehört. Und da macht die Priesterschaft meiner Ansicht nach zu wenig Druck.

Nadia Kailouli [00:14:39] Für viele ist das ein riesen Unverständnis und es bleibt bei vielen Menschen einfach die Frage warum. Warum hat die katholische Kirche so ein Problem mit der Aufarbeitung dieser Fälle? Warum tut man sich da so schwer? Viele verstehen das einfach nicht.

Christiane Florin [00:14:52] Ja, weil es sie in ihren Grundfesten, wenn sie das anginge, was als systemische Risikofaktoren bezeichnet wird. Das Machtgefüge, die Sexualmoral, auch natürlich die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, die Rolle von Frauen zum Beispiel. Wenn sie das anginge, dann müsste sie sich grundlegend ändern. Und da ist es natürlich leichter zu sagen: Ach, Missbrauch gibt es doch auch anderswo. Den gibt es auch in der evangelischen Kirche und da ist kein Zölibat und da ist die Sexualmoral liberal. Missbrauch gibt es doch auch in der Familie und da ist auch kein Zölibat. Missbrauch gibt es doch auch im Sportverein und da ist auch kein Zölibat – so! Es wird dann ganz schnell, es ist so einfach, das zu relativieren. Ja, ich weiß auch, dass es Missbrauch anderswo gibt. Natürlich gibt es den in Familien, in Sportvereinen und leider gibt es den massenhaft in der Gesellschaft. Aber das ist so eine Ausweichbewegungen. Anstatt sich  der Wirklichkeit zu stellen. Und es ist ebenso leicht, in der katholischen Kirche auszuweichen, entweder zu sagen, Missbrauch gibt es auch anderswo, und dann, das finde ich, ist dann noch spezifisch für eine Religionsgemeinschaft, diese Flucht ins Spirituelle. Ja, dass gesagt wird, na ja, sind wir nicht alle Sünder, wir müssen doch vergeben und verzeihen. Das sehen Sie übrigens auch bei Papst Franziskus. Und das ist ja, das ist ja eine Spiritualität an einer Stelle, wo sie nicht sein darf, ja. Spiritualität ist das eine, aber um umkehren zu können, um wirklich Reue zeigen zu können, muss auch derjenige, dem vergeben werden soll, oder der die Bitte um Vergebung anbietet, muss der auch offen sagen, was er gemacht hat. Und das passiert ja nicht. Und also die Institution, die bietet viele Flucht- und viele Relativierungsmöglichkeiten. Und es ist eben ein hierarchischer Betrieb. Und wenn es von oben nicht gewollt wird, dann wird eben auch nicht aufgearbeitet. Und ein ganz wichtiger Punkt, gerade weil wir jetzt hier miteinander sprechen vom UBSKM ja auch, ist natürlich die Rolle der Politik in Deutschland. Ich habe es mir noch mal jetzt angeschaut, was zum Beispiel in Irland war, einem katholischen Land, da sind Menschen auf die Straße gegangen, da haben Politiker, hochrangige Politikerinnen und Politiker den Rücktritt von Bischöfen gefordert, haben eine doch unabhängige Kommission gegründet, die jede Menge Berichte veröffentlicht hat. 3000 Seiten stark, Tausende von Seiten stark. Haben selber Zeugen vernommen, haben komplette Akteneinsicht gefordert. Also das Verhältnis dort war eher konfrontativ zwischen Staat und Kirche. Was man in einem Land, wo Kirche und Staat einander so nah sind wie in Irland, gar nicht erwartet hätte. In Deutschland ist das nicht passiert. Die Politik fährt weiterhin eher einen Kuschelkurs mit den Kirchen und stellt eben, ich habe noch nicht gehört, dass Politiker gesagt hätten: So, jetzt mal raus mit den Akten. Sagt mal, was ihr wirklich gemacht habt, liebe Bischöfe. Eine Politikerin hat es gegeben, eine hat es gegeben. Das war 2010, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die damalige Justizministerin. Und die wurde vom Vorsitzenden der Bischofskonferenz, der wurde ein Ultimatum gestellt, sie sollte sich dafür entschuldigen. Das muss man sich mal vorstellen. Die Politik ist also auch meiner Ansicht nach ganz schön kompromittiert und redet sich dann auch raus, entweder die Kirchen tun doch so viel Gutes, oder wir müssen es gesellschaftlich insgesamt aufarbeiten in allen Bereichen und nicht nur bei den Kirchen. Was stimmt. Was aber nicht dazu führen kann, dass bei den Kirchen nicht so genau hingeguckt wird.

Nadia Kailouli [00:18:41] Warum wird denn da gerade nicht so genau hingeguckt? Vielleicht können Sie jetzt noch mal erklären, Sie haben gerade angesprochen, dass man sich damit immer flüchtet, ja Missbrauch gibt es überall, gibt es auch im Sportverein. Ja, aber da werden die Fälle anders aufgearbeitet, da gibt es strafrechtliche Verfolgung. Warum wird das in der Kirche anders gehandhabt?

Christiane Florin [00:18:57] Ich habe mal in dem Podcast Lage der Nation, den unter anderem Philip Banse macht, das Wort von der kulturellen Beißhemmung gehört. Und das fand ich sehr zutreffend. Es gibt eine kulturelle Beißhemmung in bestimmten Kreisen, natürlich nicht überall, aber in bestimmten Kreisen, und dazu gehört die politische Szene, gerade auch die bundespolitische Szene. Da gibt es eine kulturelle Beißhemmung gegenüber den Kirchen. Es gibt ein Kirchenstaatsverhältnis, das aus guten Gründen kooperativ ist. Ich bin überhaupt nicht gegen ein kooperatives Verhältnis zwischen Kirchen und Staat. Ich bin nicht gegen Religionsunterricht oder dass es kirchliche Schulen gibt und was weiß ich. Oder dass die Kirchen große Anbieter von sozialen Leistungen sind. Überhaupt nicht. Aber ich finde, beim Thema Missbrauch ist das kooperative Verhältnis völlig falsch. Es ist keine interne Angelegenheit der Kirchen, ob die ihren Missbrauch aufarbeiten oder nicht. So wird aber politischer Seits oft argumentiert, dass die Kirchen das selbst regeln. Denken Sie an den Wahlkampf, denken Sie daran, was Armin Laschet gesagt hat zum zum Erzbistum Köln, als er dazu gefragt wurde. Das sollen die selber aufarbeiten, das können sie doch. Und das ist eine Nachsicht an der falschen Stelle, die sicherlich auch damit zu tun hat, dass Kirche und Staat einander stützen. Ich sage mal so, die letzten Reste der Volksparteien stützen die letzten Reste der Volkskirche und umgekehrt. Vielleicht ist es das ja. Und sicherlich auch die Angst, dass man damit Wählerinnen und Wähler verprellen kann, dass man auch mit dem Thema Missbrauch politisch nichts gewinnen kann, aber viele Leute immer noch verprellt, wenn man die Kirchen etwas etwas härter anfasst. Wobei das auch schon wieder fast das falsche Wort ist, es geht ja nicht um härter anfassen, sondern es geht um Aufklärung und Aufarbeitung.

Nadia Kailouli [00:20:47] Sie haben gerade angesprochen, dass man Angst hat, Wählerinnen und Wähler zu verlieren. Hat die Kirche nicht Angst, noch mehr Gläubige zu verlieren? So viele Menschen sind aus der Kirche ausgetreten, unter anderem auch nach dem Rauskommen von diesen ganzen sexuellen Missbrauchsfällen. Immer mehr Menschen fühlen sich ja in der Kirche nicht mehr aufgehoben. Setzt das nicht Druck aus, auf die Kirchen, mehr Aufarbeitung zu leisten?

Christiane Florin [00:21:10] Also mit dem Druck von unten können Sie in der Kirche schwer arbeiten. Das ist ein bisschen anders als in der Politik, wo sie ja gewählt werden müssen und abgewählt werden können. In der katholischen Kirche werden Verantwortliche nicht gewählt, sie können auch nicht abgewählt werden. Das sehen wir ja jetzt. Eventuell kann der Papst einen abberufen, aber Sie können ja einen Bischof. Den wählen Sie nicht von unten und den können Sie auch von unten nicht abwählen. Und noch ein weiterer Punkt kommt dazu. Dass auch lange von den sogenannten Laien, also das ist die Basis, also diejenigen, die sozusagen keine Weihe haben, die Gläubigen, dass die auch nicht wirklich das Thema auf ihrer Agenda hatten, das Thema Missbrauch. Sondern die haben auch, viele von denen haben auch gedacht, na ja, wir haben jetzt 2010, wurde darüber öffentlich berichtet, diskutiert und damit ist das auch abgeschlossen. Ja, irgendwann muss doch mal gut sein. Das höre ich auch ganz oft. Irgendwann muss doch mal gut sein mit dem Thema. Also das kommt nicht nur von Bischöfen, das kommt nicht nur von geweihten Männern, das kommt auch von Laien. Mich wundert zum Beispiel, dass so wenig Laien in ihren eigenen Gemeinden mal recherchieren, dass sie mal selber nachfragen. Was war denn eigentlich bei uns los? Zur bitteren Wahrheit gehört auch, dass viele Gläubige die Betroffenen allein gelassen haben. Und viele Gläubige haben sich für einen Priester eingesetzt, der beschuldigt war, anstatt an der Seite der Opfer zu stehen. Das ist auch ein Teil. Damit will ich jetzt nicht die Verantwortungsebene sozusagen entschuldigen. Aber das gehört auch zur Wirklichkeit dazu. Dass viele Betroffene in ihren Gemeinden und von Seiten der Basis wenig Solidarität erfahren haben und bis heute erfahren.

Nadia Kailouli [00:22:51] Sie haben uns ja schon einen Einblick gegeben, dass Sie mit vielen Betroffenen schon gesprochen haben. Was macht das mit den Betroffenen, dass sie sehen okay, wir werden gar nicht ernst genommen als Opfer? Viele wünschen sich immer noch, dass wir einfach still sind und selbst unseren Frieden damit finden.

Christiane Florin [00:23:07] Es gibt Betroffene, die kämpfen. Die sagen, wenn ich spüre, die Institution weist mich ab, dann bleibe ich jetzt mal erst recht dran. Ich habe so lange geschwiegen. Ich habe mich so lange einschüchtern lassen. Jetzt kämpfe ich erst recht. Und ich glaube, die Betroffenen, von denen ich spreche, die kennen doch viele. Ja, das sind die, die öffentlich auftreten, die dranbleiben, die öffentlich sprechen, die auch Bücher schreiben. Also die gibt es. Ich kenne aber auch Betroffene, die sagen, ich kann das nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr dieser Qual unterziehen. Ich schreibe wieder. Ich wende mich an die Institutionen und werde dann mit einem juristischen Schreiben abgebürstet. Ich kann mich dieser Qual nicht mehr aussetzen. Die kenne ich auch. Ich kenne Betroffene, um es jetzt mal drastisch zu sagen, die man so verprügelt hat und die man so misshandelt hat, dass ich denen nicht einfach ein Mikrofon hinhalten kann und sagen kann, jetzt sprech mal da rein und erzählt im Radio eure Geschichte. Man muss sich ja vorstellen, es gibt Betroffene, gerade Heimkinder, die um jede Teilhabe gebracht worden sind. Wenn wir jetzt von kirchlichen Heimen auch sprechen. Die um jede Teilhabe gebracht worden sind. Also sich da öffentlich hinzustellen, das ist ganz schwer. Wenn dann Reaktionen kommen, so nach dem Motto: Ist der besoffen? So was erlebe ich ja auch. Also das ist ganz unterschiedlich. Was ich aber doch sagen würde, was für viele gilt, viele möchten wissen Was ist passiert? Was ist passiert in dem Moment, als ich mich gemeldet habe? Was ist da auf Seiten der Institution passiert? Kannst du das für mich recherchieren? Kannst du das für mich herausfinden, was ich nicht herausfinde? Das ist ganz oft eine Anfrage. Und für viele gehört zur Gerechtigkeit dazu, dass die Täter bestraft werden. Und dass die Täter hinter den Tätern benannt und wenn es geht, auch noch bestraft werden. Und ich finde es ganz wichtig, sich immer klar zu machen, dieser Wunsch ist ein Wunsch nach Gerechtigkeit und es ist kein Wunsch nach Rache, wie das oft dargestellt wird, sondern es ist ein völlig normaler Wunsch nach Gerechtigkeit. Und es ist der Institution oft gelungen, diesen Wunsch nach Gerechtigkeit als Rache erscheinen zu lassen. Nach dem Motto: Na, die sollen doch jetzt mal vergeben, ist doch auch für die besser. Nein, es geht um Gerechtigkeit. Es ist eine Fortsetzung der Täterstrategie. Es ist infam, wenn von Betroffenen Vergebung erwartet wird.

Nadia Kailouli [00:25:42] Ist finanzielle Entschädigung etwas, was die Opfer annehmen können, die Betroffenen?

Christiane Florin [00:25:47] Ja, sicher. Ich meine, das zeigt einem ja auch der historische Rückblick 2010, als die Fälle am Canisius Kolleg bekannt wurden und als eine öffentliche Debatte dann in Deutschland wirklich mal Fahrt aufgenommen hat, war die Forderung nach Entschädigung eine der ersten, die von Betroffenenseite kam. Und dann hat die katholische Kirche, aber eigentlich beide Kirchen, haben ja das Wort Entschädigung vermieden, sondern es ist eine Summe der Anerkennung des Leids gezahlt worden. Das ist aber etwas anderes. Schon die Diktion ist ja so, die hat ja so etwas von Barmherzigkeit, da ist sozusagen die ganze Aufklärung, die ganze Verantwortung wird da weg definiert. Sondern es wird gesagt, wir hören euch eure Leidensgeschichte an, und wenn ihr Glück habt, erkennen wir das an und wir zahlen euch, damals waren es ja 5.000 €. So und dann ist das Verfahren geändert worden, weil auch da wieder, weil Betroffene sich gemeldet haben und gesagt haben, das ist doch so lächerlich wenig, das muss anders geregelt werden. Und jetzt wird vielleicht etwas mehr bezahlt, aber auch jetzt ist es ja wieder so, dass Betroffene handfeste Kritik erheben gegen das Verfahren, mit dem jetzt die neuen Summen, also dieses Schmerzensgeld, da festgelegt wird. Aber ich finde diesen Satz ja, das Leid ist ja nicht in Zahlen, also in Geldsummen zu beziffern, auch das ist für mich wieder Teil einer Täter- und Verharmlosungsstrategie. Vielen Betroffenen ist nicht nur aber auch mit Geld geholfen. Ich habe vorhin von der Beteiligung, von der Bildung gesprochen. Viele, nicht alle Betroffene, sind in wirtschaftlich ganz schwierigen Verhältnissen, haben kein Arbeitsverhältnis durchhalten können, haben keine stabilen Beziehungen aufbauen können. Und da hilft es manchmal, wenn man Geld bekommt. Das ist nicht die vollständige, das ist nicht die ganze Gerechtigkeit. Aber es ist auf jeden Fall, es ist auf jeden Fall eine Hilfe. Und auch da sieht man ja der Blick in andere Länder. Ich meine, es gibt Diözesen, die in die Pleite gekommen sind, weil sie so hohe Entschädigungen zahlen mussten. Das hat also ganz andere, in anderen Ländern, ganz andere Dimensionen.

Nadia Kailouli [00:28:00] Wenn Sie an die Aufarbeitung denken, sind Sie müde, weil so wenig vorangeht, oder sind Sie zuversichtlich, dass sich doch irgendwann was ändert?

Christiane Florin [00:28:10] Also ich finde meine Befindlichkeit da eigentlich nicht wichtig. Ich bin weder müde noch zuversichtlich. Ich halte es für wichtig zu sagen, was war und was ist. Also die schlichte Frage zu beantworten, stimmt das oder stimmt das nicht? Was stimmt? Das halte ich nach wie vor für wichtig. Ob das in der Institution etwas ändert und ob das auch, wir haben vorhin über die Politik gesprochen, ob das auch im Verhältnis Politik Kirche etwas verändert, das liegt ja nicht in meiner Hand. Ich kann nur Aufklärung, Erkenntnis, Wirklichkeit, vielleicht auch so was wie Wahrheit, anbieten. Das gehört sozusagen zu meiner Arbeitsbeschreibung dazu. Was dann andere damit machen, das habe ich nicht in der Hand.

Nadia Kailouli [00:28:59] In vielen anderen Bereichen, wo es den Nährboden zum Missbrauch gibt, wird Prävention angeboten. Warum nicht in den Kirchen?

Christiane Florin [00:29:09] Die Kirchen haben ja Präventionsprogramme. Es ist ja sogar so, wenn sie nach Missbrauch, nach dem fragen, was geschehen ist, wer was gemacht hat, wer was verschwiegen hat, und so weiter und so fort, wenn Sie als Journalistin diese Fragen stellen, dann bekommen Sie oft darauf gar keine Antwort, sondern dann kommt als Antwort: Die Kirchen machen doch so viel in Sachen Prävention. Es ist ja so zum Beispiel, dass alle die, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, Präventionsschulungen machen müssen, dass sie in regelmäßigen Abständen ihre Führungszeugnisse bei den Personalverantwortlichen einreichen müssen, und so weiter und so fort. Das hat sich ja verändert. Durch die anderen Leitlinien, durch die öffentliche Debatte hat sich das ja verändert. Nur ist es auch bei mir, auch da erfahrungsgemäß ist es eben so, wenn es Präventionsmaßnahmen gibt, dann passen sich oft die Täterstrategien den Präventionsmaßnahmen an. Da habe ich auch Beispiele dafür. Wenn zum Beispiel jetzt mehr Sensibilität da ist, wenn zum Beispiel jetzt auch in den Familien klar ist, der Priester ist nicht mehr die Autorität, die immer recht hat. Das ist nicht der Gottesmann. Der, der recht hat, während das Kind was sagt, der hat mich missbraucht oder der hat mich angefasst, wo er mich nicht anfassen durfte, während das Kind eben nicht recht hat. Das war früher so, jetzt gucken Eltern stärker hin. Aber Täter gehen jetzt eben auf Kinder, die sich nicht so artikulieren können. Vielleicht, weil sie kein Deutsch können, vielleicht weil sie eine Behinderung haben. Also Täterstrategien sind immer ein bisschen schneller als die Präventionsstrategie.

Nadia Kailouli [00:30:58] Wenn Sie das so schildern, da kann ich mir vorstellen, dass bei vielen Menschen sich eben genauso ein Generalverdacht auftut und eine große Angst auftut. Ist ein Kind überhaupt noch sicher in der katholischen Kirche zum Beispiel? Ist es gut, wenn man Angst hat, wenn man einen Generalverdacht hat, wenn man vorsichtig ist?

Christiane Florin [00:31:17] Ja ich glaube, es ist wichtig, vorsichtig zu sein. Ich glaube, dass ja da jetzt auch Eltern genauer hinschauen, kritischer fragen. Sich fragen, kann ich mein Kind in eine Ferienfreizeit der katholischen Kirche schicken? Dass die nachfragen, wer sind denn da die Betreuer? Welche Qualifikationen haben die? Dass nachgefragt wird, wird es Situationen geben, in denen mein Kind allein ist mit einem Betreuer? Oder der Klassiker:Wie ist das an kirchlichen Schulen in einem Sanitätsraum? Ist da, wie das auch vorgekommen ist, ein Kind allein mit einem Pater und der Pater verabreicht dem Kind ein Zäpfchen? Kann das denn sein? Also da fragen Eltern heute schon schon kritischer nach und das finde ich auch wichtig, denn sonst, alsowenn diese Nachfragen nicht kommen, dann ändert sich ja gar nichts. Was aber auch wieder nicht bedeutet, dass die Eltern allein in der Pflicht sind. Denn eigentlich sollte es ja schon so sein, dass sozusagen von Anbieterseite her klar ist, ich kann mein Kind dahin schicken und muss mir diese Gedanken alle nicht machen. Ich kann Ihnen die Frage aber nicht pauschal beantworten, ob Sie Ihr Kind noch in eine katholische Einrichtung schicken können oder nicht. Ich finde es nur wichtig, so ein paar Anhaltspunkte zu haben, eorauf sollte ich als Mutter oder Vater, worauf sollte ich da achten. Man muss das leider sagen, auch da wieder wohlwissend, dass das nicht nur für die katholische Kirche gilt. Aber da die Kirchen so viel Angebote für Kinder und Jugendliche haben oder hatten, geht ja jetzt auch etwas zurück, ist es schon wichtig, da vorsichtig zu sein. Und ich finde auch, solange die Institution so mauert, wie sie mauert und solange sie immer noch abwehrt, solange ist es völlig berechtigt, misstrauisch zu sein. Wenn Sie dauernd angelogen werden, wenn Ihnen immer nur, also wenn Sie dieses taktische Verhältnis zur Wahrheit spüren. Sobald Sie mal ganz konkret in einem Fall nachfragen, spüren Sie sofort, dass wieder laviert wird und nicht gesagt wird, ja, es war so, ist dies Misstrauen vollkommen angebracht.

Nadia Kailouli [00:33:26] Sie haben uns gerade gesagt, wir reden die ganze Zeit über die katholische Kirche. Wir geben ihnen jetzt gleich einen Einspieler. Und zwar haben wir darüber auch mit Katharina Krach gesprochen. Sie ist selbst Betroffene und wurde jahrelang in der evangelischen Kirche missbraucht. Sie kämpft seit Jahren nicht nur für sich, sondern auch für andere Betroffene, für eine transparente Aufarbeitung. Und mit ihr haben wir gesprochen.

Katharina Kracht [00:33:48] Ich engagiere mich seit vielen Jahren für verbesserte Aufklärung und Aufarbeitung in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ich habe angefangen mit der Hannoverschen Landeskirche, weil ich eben selber Betroffene bin. Ich bin als Jugendliche über viele Jahre von einem evangelischen Gemeindepastor missbraucht worden und decke das eigentlich seit 2015 auf. Habe gemerkt, dass es sehr große Schwierigkeiten gibt, auf die man stößt als Betroffene und möchte deshalb dazu beitragen, dass es anderen Betroffenen besser geht in diesem Prozess mit der Kirche, dass es einfacher wird und dass die Kirche einfach mehr Verantwortung übernimmt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir nicht geglaubt wurde, das war vielleicht auch in meinem Fall einfacher, weil der Täter schon verstorben war, als ich mich gemeldet habe. Ich hatte aber das Gefühl, also das hat mich eigentlich noch mehr empört, die Tatsache, dass mir geglaubt wurde, offensichtlich. Ich habe ja auch ziemlich viel Geld bekommen als Anerkennungsumme und da habe ich gedacht: Aha, also hier ist offensichtlich etwas ziemlich Schlimmes passiert. Das sieht die Kirche eigentlich irgendwie auch so, aber es ist eben nicht wichtig genug, um weitere Handlungsschritte folgen zu lassen. Man hat immer so das Gefühl als Betroffene in der evangelischen Kirche oder ich hatte das zumindest,  als ob man so gegen gepolsterte Wände läuft. Also es wird immer gesagt, es ist total wichtig, was Sie an Kritik vorbringen, Frau Kracht. Und dann versandet das alles. Dann passiert nichts mehr mit der Kritik.

Nadia Kailouli [00:35:19] Frau Florin, sprechen wir zu wenig über Missbrauch in der evangelischen Kirche?

Christiane Florin [00:35:25] Ja, das stimmt. Den Schuh würde ich mir auch selber anziehen. Wobei wir, also zum Beispiel in Tag für Tag, schon auch ausführlich über die evangelische Kirche berichtet haben. Unter anderem hatte ich auch ein langes Interview mit Katharina Kracht. Ich glaube, die Gründe dafür sind auch wieder verschieden. Zum einen war es ja so 2010 wurde der Fall Ahrensburg bekannt und daraufhin ist die Bischöfin Maria Jepsen zurückgetreten. Und das ist so die Ambivalenz eines Rücktritts. Einerseits ein starkes Zeichen, andererseits kann das aber auch dazu führen, dass dann aus medialer Sicht das Thema erst mal erledigt ist. Da wird gesagt so, ja, die hat das jetzt, die hat da jetzt Verantwortung übernommen und gut ist. Das ist ein Faktor, finde ich, der das erklärt. Der andere Faktor ist, dass über die katholische Kirche grundsätzlich mehr berichtet wird, weil sie einfach mediengängiger ist mit so exotischen Figuren wie einem Papst, mit ihrer Sexualmoral, mit den Priestern, mit den Männern in Frauenkleidern, wie es dann heißt. Das ist einfach medial sowieso eine andere Verteilung katholisch, evangelisch. Und zwar unabhängig davon, welche Konfessionen die zuständigen Redaktionen haben oder welche Konfession da dominiert oder ob da überhaupt eine Konfession dominiert. Ja, und dann ist der dritte Faktor, dass in der evangelischen Kirche es eben keinen Zölibat gibt. Dass das auch sofort die Reaktion der Institution war, dass bestimmte Risikofaktoren, die jetzt katholischerseits ausgemacht wurden, dass sie die evangelische Kirche ja nicht betreffen. Ich habe zum Beispiel, wenn wir über die evangelische Kirche berichtet haben, da gibt es so ganz klassische Hörerreaktionen, oft von Menschen, die sehr engagiert sind, vielleicht sogar ein Amt hatten in der evangelischen Kirche, die schreiben mir dann in einem Brief: Das ist doch erfunden, ein Pastor hat Frau, der hat Kinder, der muss keine Kinder, also der muss keine fremden Kinder missbrauchen. So, solche Reaktionen bekomme ich.

Nadia Kailouli [00:37:39] Welche Erfahrungen haben Sie da? Das ist ja wahrscheinlich nicht ein Einzelfall einer Zuschauerin, die so reagiert, sondern man erlebt das ja auch im privaten Kreise, dass Leute, die das dann zum Thema bringen und sagen: Ach, guck mal, da ist wieder ein Fall rausgekommen. Dass dann viele Menschen, die gläubig sind, sagen: Ach Quatsch, glaubt doch nicht alles.

Christiane Florin [00:37:56] Also dieses nicht wahrhaben wollen, das haben sie in der katholischen Kirche auch. Aber ich glaube, sie haben es aus anderen Gründen dort, als in der evangelischen Kirche. Katharina Kraft sprach von den gepolsterten Wänden. Ich würde sagen, in der katholischen Kirche sind die Mauern bretthart lange gewesen. In der evangelischen Kirche sind sie gepolstert, weil das Selbstverständnis so ist, wir sind eine Kirche der Freiheit, bei uns kannst du über alles reden, wir gehen mit Kritik wertschätzend um. Aber auch die evangelische Kirche hat ein Problem mit dem Eingestehen von Macht. Da wird schlicht behauptet: Ach Macht? Bei uns ist doch alles demokratisch. Die Macht wird schön legitimiert durch Synoden und was weiß ich. Das ist eben nicht so wie bei den hierarchischen Katholen, bei den unfreien Katholen jetzt zugespitzt gesagt. Aber de facto ist es ja doch anders. Ein Pastor, der ein Kind oder oft sind es ja Jugendliche missbraucht, hat Macht im Moment der Tat. Und er hat Macht über die Tat hinaus. Er hat die Macht, der Gemeinde zu suggerieren, das ist bloß eine Lolita, die erzählt euch da was, ja die ist scharf, so ist es ja geschehen, die es scharf auf mich. Ja, aber ich habe das abgewehrt. Und die Gemeinde glaubt dann dem Pastor, weil das ein toller, hochangesehener Pastor ist, charismatisch, macht tolle Jugendarbeit, und so weiter. Also dieser Machtmissbrauch, den es auch in der evangelischen Kirche gibt, der wird nicht eingestanden, weil man sagt, nein, wir haben doch gar kein Problem mit der Macht. Und das setzt sich dann bis auf die Ebene der Landeskirche fort, wo dann auch das erst mal eher weggedrückt wird. Und dann in so einem verständnisvollen Jargon. Ja, die Betroffenen werden vielleicht nicht eiskalt abgewehrt, sondern es wird gesagt, ja, wir glauben ihnen. Aber die harte institutionelle Konsequenz, die wird nicht gezogen, weil eben auch dort ein Pfarrer in der evangelischen Kirche etwas Besonderes ist.

Nadia Kailouli [00:39:55] Frau Kracht hatte einen Wunsch geäußert, den bestimmt viele andere Betroffene auch haben, und zwar der Wunsch, die Aufarbeitung abzugeben. Kann dieser Wunsch oder wie kann dieser Wunsch erfüllt werden?

Christiane Florin [00:40:07] Ja, ich glaube, in dem zunächst mal der politische Wille hergestellt wird, eine unabhängige Aufarbeitung zu ermöglichen. Ich glaube, der politische Wille, darüber haben wir vorhin ja schon gesprochen, der politische Wille dazu ist nicht da. Wenn wir Politikerinnen und Politikern die Frage stellen, warum gibt es nicht eine Art Wahrheitskommission, oder der Name ist jetzt gar nicht so wichtig, aber jedenfalls ein Konstrukt, dass die Aufarbeitung nicht vor allem in der Hand der Kirchen ist. Dann kommen immer 100 Gründe, rechtliche Gründe, die das verhindern. Ich glaube aber, wenn Sie im Kopf einen Schalter umlegen und denken, wie könnte ich es denn ermöglichen politisch, wie könnte ich denn eine gesetzliche Grundlage für eine solche Kommission schaffen? Dann wäre schon viel gewonnen. Und das Argument, dass dann als nächstes kommt, auch so ein Hinderungsgrund, ja, aber damit wäre ja, damit müssten wir ja noch mal ganz von vorne anfangen. Das halte ich für ein Scheinargument. Dieser Stand ist in Deutschland nicht erreicht und auch deshalb nicht erreicht, weil die Aufarbeitung weitgehend in der Hand der Kirchen bleibt. Auch die Vereinbarungen des UBSKM mit der Deutschen Bischofskonferenz besagt ja letztlich, dass die Kirchen noch einen sehr, sehr großen Einfluss haben, dass sie das Verfahren, das Heft immer noch in der Hand behalten. Und das ist nicht unabhängig. Und wenn Sie jetzt die Gutachten anschauen, die veröffentlicht werden, also ich sage mal, wenn ich an meinen Aktenschrank gehe, einem Juristen, den ich selber bezahle, Akten übergebe, die ich selber ausgewählt habe, und der dann die Akten auswertet und ich das Ergebnis präsentiere. Da werden Sie mir ja auch nicht attestieren, dass das jetzt eine unabhängige Aufarbeitung war. So und ich glaube, und ich finde das wichtig, was Katharina Kracht sagt, dass man sich da nichts vormachen lässt. Dass man nicht nur weil die Aufarbeitung mit einem großen U als unabhängig bezeichnet wird, dass man nicht tatsächlich auch glaubt, die ist deshalb auch unabhängig.

Nadia Kailouli [00:41:59] Frau Dr. Christiane Florin, Sie bleiben auf jeden Fall an der Aufarbeitung, Aufklärung und der Recherche als Journalistin dran und ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns so einen tiefen Einblick heute hier gegeben haben. Vielen Dank.

Christiane Florin [00:42:09] Ich danke auch für das Gespräch.

Nadia Kailouli [00:42:13] Puh, ja, das Gespräch mit Frau Florin, das war natürlich super intensiv und das zeigt mir eigentlich nur, dass das einfach in dieser Zeit, die wir jetzt hatten, gar nicht bis ins Detail besprochen werden kann, weil das halt so viele Fälle sind. Aber es war natürlich auch total spannend, weil es natürlich einen Einblick gegeben hat, wie diese Institution der Kirchen eben funktioniert und dass die Aufarbeitung eben auch irgendwie so einen Bruch der Strukturen braucht. Aber ob es den jemals geben wird, das ist eben die große Frage.

Mehr Infos zur Folge

Dass sich daran seit Jahren so gut wie nichts ändert, liegt aber auch daran, dass viele in der katholischen Kirche sich nicht gegen ein autoritäres System wehren, das Gläubige klein hält und Änderung von Strukturen verhindert, sagt Christiane Florin. 

Wir sprechen mit ihr darüber, was im Jahr 2010 passiert ist, wie die Öffentlichkeit reagiert hat und über die Unterschiede in der Aufarbeitung in der katholischen und evangelischen Kirche. Ihr 2020 erschienenes Buch heißt „Trotzdem! Wie ich versuche katholisch zu bleiben“ – ob ihr das gelungen ist und ob die Kirche überhaupt zu einer Strukturänderung fähig ist, klären wir in dieser Folge. 

Auch Katharina Kracht kennt sich hervorragend damit aus, wie kirchliche Aufarbeitung funktioniert - oder eben auch nicht. Sie war selbst sexueller Gewalt ausgesetzt und war Mitglied im Betroffenenrat der Evangelischen Kirche Deutschlands – bis dieser aufgelöst wurde. Ihre Auseinandersetzung mit der evangelischen Kirche beschreibt sie so: “Es fühlt sich an, als ob man gegen gepolsterte Wände läuft“.

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Mehr Informationen zu Christiane Florin und ihrer Beschäftigung mit dem Thema katholische Kirche und Missbrauch” gibt es hier: http://www.weiberaufstand.com 

Das Eulenmagazin bietet unabhängige und kritisch aufgearbeitete Nachrichten und Informationen zur Kirche, Politik und Kultur: https://eulemagazin.de/ 

Der Verein Eckiger Tisch wurde von Betroffenen ins Leben gerufen. Er berät und unterstützt Betroffene von sexualisierter Gewalt im Kontext der katholischen Kirche: www.eckiger-tisch.de 

Hilfe und Informationen zu sexuellem Missbrauch gibt es beim Hilfe-Portal und beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

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