Was war so schrecklich an den Kinderkuren der Nachkriegszeit, Lena Gilhaus?
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[00:00:02.630] - Lena Gilhaus
Dieses Kinderkurprogramm kann man nachlesen in Ratgebern von 1850 oder 1920. Da steht Luftkuren. Die Kinder sollen liegen, die müssen essen, die müssen streng bestraft werden. Schon Säuglinge müssen geschlagen werden, wenn sie schreien. Baden ist nicht erlaubt, dafür kalte Abreibung. Es sollte Kaltherzigkeit, auf keinen Fall Warmherzigkeit in diesen Heimen herrschen. Also es war erschreckend zu sehen, dass das, was Kinder in den 60er, 70er Jahren in den Heimen erlebt haben, damals festgeschrieben wurde und daran kaum was sich geändert hatte.
[00:00:33.740] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:58.740] - Nadia Kailouli
Verschickungskinder, das waren die Kinder, die vor allem in den 50er und 60er Jahren zur Erholung aus der Stadt aufs Land geschickt wurden, weil sie zum Beispiel zu dick, zu dünn, zu blass waren oder weil sie Asthma, Tuberkulose oder Neurodermitis hatten. Eine Art Kur in Kliniken an der Nordsee oder in den Bergen sollte da helfen. Klingt erst mal nach einem tollen Konzept. Erholungsurlaub für kranke Kinder eben. Aber in den Kurheimen werden Kinder oft schikaniert und misshandelt. 8 bis 12 Millionen Kinder wurden insgesamt in mitunter schreckliche Heime geschickt und kamen nicht selten krank und traumatisiert wieder nach Hause. Dass diese schlimmen Missstände bekannt wurden, ist auch den Recherchen der Journalistin Lena Gilhaus zu verdanken. Sie ist heute bei mir, mit mir über das Schicksal der Verschickungskinder zu sprechen. Herzlich willkommen!
[00:01:44.770] - Lena Gilhaus
Ja, schön, dass ich hier sein darf.
[00:01:46.290] - Nadia Kailouli
Ja, wir freuen uns sehr. Du hast ein Buch dabei. Ich habe schon gesehen, die Leute können es jetzt leider nicht sehen, aber die können hören, dass wir über dein Buch sprechen. Das Buch heißt "Verschickungskinder" und klingt erst mal total komisch, weil das ist so ein Wort, was in meinem Alltag nie vorgekommen ist. Worum geht es?
[00:02:04.010] - Lena Gilhaus
Genau. Es geht um Kinderkuren, die seit dem Zweiten Weltkrieg auch noch bis in die 90er Jahre stattgefunden haben. Und meine Recherchen haben ergeben, dass um die 15 Millionen Mal Kinder in diese Kuren verschickt wurden. Und in diesen Kurheimen sollten die Kinder aufgepäppelt werden. Die sollten zunehmen und erholen. Das waren diese Erholungskuren. Und es gab auch noch Heilkuren und da sollten die Kinder von Krankheiten genesen, zum Beispiel von Asthma oder Neurodermitis.
[00:02:30.190] - Nadia Kailouli
Jetzt ist der Deutsche so getrimmt, dass wenn man Kur hört, erst mal an was Positives denkt, an eben Erholung etc. Dass es jetzt so Kuren gibt, wo Kinder hingeschickt worden sind, das ist ein Phänomen aus den, ich weiß nicht, wann war das -in den 60er Jahren hauptsächlich?
[00:02:45.080] - Lena Gilhaus
Die Kinderkur, was ich in meinen Recherchen festgestellt habe, ist eine Institution, die ist 200 Jahre alt. Also es gab schon Ende des 18. Jahrhunderts begann das und man kann sagen, dass es dann ab dem Grundgesetz wieder losging. Ab 49 startete man dann wieder los, bis Ende der 80er, 90er Jahre war es dann fast vorbei.
[00:03:03.930] - Nadia Kailouli
Genau. Ich komme auf die 60er, weil ich da dann versuche jetzt den Schlüssel hin zu kriegen zu deinem Vater. Du bist ja auf diese Kuren durch eine persönliche Geschichte gekommen.
[00:03:13.910] - Lena Gilhaus
Genau. Also die 60er Jahre, die 50er Jahre kann man sagen, war so die Hochzeit der Kinderkuren. Und mein Vater hat immer mal wieder erzählt, dass er auch auf so einer Kinderkur war und dass das total schrecklich war auf Sylt zusammen mit seiner kleinen Schwester. Und das haben die immer mal wieder so erwähnt. Und das klang nach dem totalen Grauen, also nach einem ganz kalten, dunklen Ort. Und als Kind hat mich das schon total beschäftigt und ich habe mich immer gefragt "Hä, wieso hat man Kinder sechs Wochen lang von den Eltern getrennt und an so einen Ort geschickt? Wie furchtbar!" Und 2016 habe ich dann, ich bin ja Radio-Journalistin, habe ich mir überlegt, dazu zu recherchieren und habe dann das erste Mal ein längeres Interview mit meinem Vater und meiner Tante dazu geführt.
[00:03:53.840] - Nadia Kailouli
Und dann kam eben Stück für Stück raus, was wir heute besprechen wollen, was eigentlich in diesen Kinderkuren unter anderem passiert ist. Das war nämlich alles andere als erholsam. Durch welche Beschreibung deines Vaters und deiner Tante hast du denn für dich auch im journalistischen Sinne dann gespürt, Moment mal, ich muss da mal tiefer eintauchen?
[00:04:14.120] - Lena Gilhaus
Ja, also das erschreckende war, dass ich allein in meinem Bekanntenkreis schon ein Dutzend Menschen gefunden habe oder die sich bei mir gemeldet haben, die auch solche Kinderkurerfahrungen gemacht haben, auch überwiegend negative. Eine Freundin hat beim Joggen erzählt: Ja, stimmt, mein Vater war auch in so einer Kur im Schwarzwald. Der beste Freund meines Vaters auch. Und auch die haben mir erzählt, dass irgendwie das gang und gäbe war, dass Kinder zur Kur kamen. Aber als ich dann angefangen habe zu recherchieren, gab es nichts. Es gab kein Buch, es gab keine journalistischen Berichte, keine anderen Berichte, sondern das einzige, was ich gefunden habe, waren Sucheinträge von Menschen im Netz, teilweise bei Chefkoch.de oder bei irgendwelchen Elternforen. Also die haben bei Facebook irgendwelche Foren genutzt, um nach Informationen zu suchen, nach anderen, die in den Kurheimen waren, auch eben nach Büchern, nach Berichten. Und als ich dann in diesen Orten auch teilweise angerufen habe oder bei den Trägern nachgefragt habe, diese Heime der Betroffenen, die mit mir gesprochen haben, wiederzufinden, dann hieß es oft: "Hier hat es nie einen Kurheim gegeben", oder, "wir haben keine Unterlagen." Und es wirkte so, als hätte es diese Kinderkuren eigentlich nie gegeben.
[00:05:18.940] - Nadia Kailouli
Okay, dabei hat es diese Orte ja gegeben und vor allem Millionen von Kindern waren dort ja dann auch auf Kur. Aber was war das, als du dann diese Recherche gemacht hast, zusätzlich zu dem, was deine Familie dir erzählt hat, ab welchem Punkt war dir klar, das was da passiert ist, das war wirklich schlimm und deswegen muss ich das recherchieren, um aufzudenken, was da eigentlich unter anderem passiert ist.
[00:05:41.970] - Lena Gilhaus
Ja, also zeitgleich zu dieser Feststellung, dass überhaupt nichts darüber bekannt ist und es kaum Orte gibt, an denen ich jetzt auch suchen kann, wurde immer deutlicher, dass das, was mein Vater und meine Tante da erlebten, auch ganz viele andere erlebt hatten. Und das waren unterschiedliche Formen von emotionaler Gewalt und einfach einer Umgebung, die nicht kindgerecht war. Einerseits war das die lange Trennung von den Eltern, auf die teilweise 2-Jährige oder 3-Jährige wurden ja 6 Wochen bis 3 Monate von den Eltern getrennt. Dann gab es in diesen Heimen sehr oft Esszwang. Denn der einzige Beleg, ob diese Kur erfolgreich war, war eben die Gewichtszunahme. Und wie bringt man Gewicht an die Kinder möglichst günstig? Man macht Puddings, hoch kalorische Milchsuppen und diese Suppen, diese Breis, wurden den Kindern teilweise unter Gewalt eingeflößt. Es haben einige geschrieben und erzählt, dass sie auch ihr Erbrochenes essen mussten. Dann herrschte Drill, eine ganz strenge, harte Pädagogik gegenüber den Kindern, weil diese Heime auch unterbesetzt waren oft. Also man muss sich vorstellen, da hat eine Person von montags bis sonntags auf 20 Kinder aufgepasst. Also mussten die Kinder, wenn die einen Strandausflug gemacht haben, am Seil laufen. Freies Spiel war verboten. Damit das Personal Pausen bekam, gab es Mittagsruhen von teilweise 12 bis 15 Uhr 30, bei denen die Kinder regungslos liegen mussten. Bettnässen wurde bestraft. Die Kinder sollten nachts nicht mehr auf die Toilette gehen, damit die Nachtwache schlafen konnte. Die wurden teilweise eingesperrt. Und wenn sie dann eingenässt haben, dann wurden sie auch bestraft. Und solche Umgangsformen haben meine Eltern eben geschildert und auch ganz viele andere ehemalige Kurkinder.
[00:07:18.410] - Nadia Kailouli
Jetzt fragt man sich, wer zum Teufel, um das jetzt mal so drastisch auszudrücken, schickt denn seine Kinder da hin?
[00:07:23.870] - Lena Gilhaus
Ja, also das ist wirklich sehr komplex, also diese Frage zu beantworten, denn da greift viel ineinander. Also einmal wurden diese Kuren total erfolgreich beworben von den Trägern, auch vom Staat, von den Jugendämtern und den Gesundheitsämtern als wunderbare Orte, an denen die Kinder sich erholen können. Also da wurde erzählt von freiem Spiel am Meer, mit anderen Kindern zusammen lachen und in der Sonne tanzen, schwimmen gehen, richtig gutes Essen bekommen. Also das klang ja toll. Und in der Nachkriegszeit viele Eltern dieser Babyboomer-Generation, die in den 50er, 60er geboren ist, hat ja auch Hunger noch erlebt. Also in dieser sogenannten Wolfszeit nach dem zweiten Weltkrieg haben ja viele Menschen gehungert, Alte, Kranke, Kinder sind gestorben. So ein Gedanke war da, die Kinder so rüsten zu müssen, also dass an die Gewicht kommt. Dann war es eben auch eine Elternentlastung. Also es gab damals in der BRD noch nicht flächendeckend Kinderbetreuung und einige Eltern haben das auch genutzt, um zum Beispiel wenn eine Geburt anstand von einem Geschwisterkind oder eine Operation, dass man die Kinder in gute Hände gibt. Und. Aber manche Eltern haben es auch gemacht, um mal alleine Urlaub zu machen. Das war so ein bisschen die Ideologie, dass der Staat sich einsetzt für die Kinder und den Kindern damit was Gutes tut. Es ist ne Sozialmaßnahme und wir holen sogenannte "milieugeschädigte Kinder", als das galten Kinder der Arbeiterklasse häufig, wir bringen die an einen Ort, an dem sie auch erzogen werden. Also es ging nicht nur um Zunahme und frische Luft, sondern auch um eine strenge Erziehung, damit man zukünftig auch Kinder und Erwachsene hat, die sich in den Anstalten unterordnen, in Schule, im Kindergarten und die auch fügsame und fleißige Arbeiter werden.
[00:09:07.870] - Nadia Kailouli
Also war das eine total manipulative Strategie Erziehungsmaßnahmen da irgendwie unterzubringen?
[00:09:14.930] - Lena Gilhaus
Ja, dass das auch eine Maßnahme der Jugendbehörden war, war den Eltern überhaupt nicht klar. Vielen. Also das konnte man in den Akten auch nachlesen, dass dann, wenn es Unfälle gab oder Beschwerden gab, dass dann teilweise erst mal erklärt werden musste, warum sich das die Jugendbehörde jetzt meldet. Und den Eltern gesagt wurde: "Sie fragen sich jetzt bestimmt, was haben wir damit zu tun? Wir sind diejenigen, die die Kinder diesen Heimen zuweisen." Die hatten sogenannte Kurpläne, wo dann 150 Heime drauf standen und die Jugendbehörden, die Landesjugendbehörden waren dann damit beschäftigt, diese Heime dauerhaft zu belegen, mit Kindern zu füllen, weil die Heime konnten ja auch nur überleben, wenn die regelmäßig Besuch hatten.
[00:09:51.780] - Nadia Kailouli
Wer hat das denn bezahlt? Die Eltern oder die Jugendämter?
[00:09:54.160] - Lena Gilhaus
Das wurde total bezuschusst vom Staat. Also je nach Einkommen wurde es teilweise ganz übernommen von Krankenkassen, von den Sozialämtern, von irgendwelchen Fördertöpfen, Spendentöpfen. Aber deswegen erklärt sich auch, warum das Ganze unter so wenig und geringen Mitteln funktionierte, als man versuchte deswegen gleichzeitig zu sparen. Auch die Deutsche Bahn. Also viele Kinder wurden mit der Bahn in diese Kurheime gebracht und die Bahn hat dann diese Transporte zunächst in die Nacht verlegt, um den Tagesschienenverkehr zu entlasten. Diese Sonderzüge haben bis zu 800 Kinder aufgenommen und haben dann überall gehalten, um möglichst viele Kinder aufzunehmen, sodass diese kleinen Kinder teilweise 26 Stunden unterwegs waren vom Ruhrgebiet bis in den Schwarzwald. Heizungen sind oft ausgefallen. Es war echt Holzklasse und eben auch die Häuser waren mit sehr geringen Mitteln häufig ausgestattet.
[00:10:44.350] - Nadia Kailouli
Haben sich denn damals keine Eltern beschwert, die von ihren Kindern dann mitbekommen haben, irgendwie ist mein Kind von der Kur zurück und dem geht es schlechter als vorher?
[00:10:52.530] - Lena Gilhaus
Doch es haben sich Menschen beschwert und was ich ja auch gefunden habe, war eine Liste von Todesfälle auch in Kinderkurheimen. Das waren insgesamt 20 Todesfälle, die ich nur in einem Archiv gefunden habe und die Mehrheit waren Krankheiten. Und wenn man dann so die Fälle nachgelesen hat, sind die Kinder in die Isolationsräume gekommen. Das war damals so vorgesehen in diesen Kurheimen, wenn sie krank wurden. Teilweise ein Kind über Wochen, fast Monate. Und die Eltern wurden teilweise erst nach dem Tod informiert oder kurz vor dem Tod hatten dann noch die Möglichkeit anzureisen und haben dann im Krankenhaus das Kind noch die letzten Stunden erlebt oder das Kind ist gestorben. Da hieß es dann immer, dass es ein tragisches Geschick sei und dass man alles gegeben hätte für die Kinder. Dann gab es auch Unfälle und dann Fälle von Ertrinken. Es gab ja auch Todesfälle durch Gewalt. Die Eltern, die sich beschwert haben, zum Beispiel weil sie wissen wollten, wie es zu so einem Todesfall kommen konnte, haben immer wieder versucht, auch über mehrere Instanzen da an Verantwortliche zu kommen. Und die Antworten waren eigentlich immer gleich von Verwaltungsseite, dass den Heimen nichts vorzuwerfen ist in jedem Kondolenzschreiben, das waren immer Vorlagen. Die Eltern bekamen immer dasselbe Kondolenzschreiben. Das endete mit: "Es war ein tragisches Geschick und dass ein Verantwortlicher nie gefunden werden könne, der Fall nie aufgeklärt werden könne, aber dass das Personal nach größtmöglicher Sorgfalt gehandelt hat. Und am Ende stand dann eben die Aussage eines Kindes, zum Beispiel, dass verletzt worden war während der Kur gegen die Aussage eines Erwachsenen und der Fall ging zu den Akten. Was man noch sagen kann, ist, dass die Presse Ende der 60er, Anfang der 70er so ein bisschen kritisch auf diese Kinderkuren geschaut hat. Also der WDR hat damals berichtet, dass sehr viel Geld wieder in diese Kuren investiert worden sei von staatlicher Seite, die doch nur dazu da wären, die Kinder zu mästen. Und damals fing man schon an, daran zu zweifeln, ob das noch Not tue, weil es gab ja kein Hunger mehr und es war nicht mehr das Thema eigentlich. Auch Tuberkulose oder Skrophulose, was in den Heimen geheilt werden sollte, war kein Thema mehr. Und so wurde es immer schwieriger, diese Kuren zu rechtfertigen. Und dann haben die Heime angefangen, sich auf andere, zum Beispiel Adipositas zu konzentrieren oder auch bei sogenannten Neurotikern, also Nägelkauer, Bettnässer, also so ein bisschen auf psychosomatische Ebene auszuweichen. Aber man hat schon das Gefühl, dass da ein Vertrauensverlust war. Und diese Generation der 68er Bewegung, jetzt beispielsweise meine Eltern, die dann Kinder in den 80ern bekamen, die waren einfach nicht mehr bereit, die Kinder in solche Einrichtungen zu schicken. Da ist einfach dann so ein Wandel hat sich vollzogen, aber die Elterngeneration davor, die war noch sehr autoritätshörig, obrigkeitshörig und hat sich da, glaube ich, in vielen Fällen nicht getraut. Und man muss auch sagen, vielen Kindern wurde gar nicht geglaubt. Also viele Betroffene berichten, dass das das zweite Leid war, zurück zu Hause zu sein und von den Eltern dann zu hören: "Dann warst du eben auch frech, wenn du so bestraft wurdest", oder, "das glauben wir dir nicht. Das hast du dir eingebildet."
[00:13:53.890] - Nadia Kailouli
Mein Gott, das klingt alles ganz furchtbar.
[00:13:56.920] - Lena Gilhaus
Ja, auf jeden Fall.
[00:13:57.740] - Nadia Kailouli
Das klingt wirklich furchtbar. Zum Glück liegt das so lange zurück, will man meinen, aber umso wichtiger ist ja, dass wir darüber sprechen. Weil das ja natürlich einfach so viele Kinder in Deutschland betroffen hat, dass man halt irgendwie an die Aufarbeitung jetzt auch gehen sollte. Und daran hast du ja vor allem großen Teil auch gelegt mit deiner Recherche, oder?
[00:14:15.720] - Lena Gilhaus
Ja, also es war auf jeden Fall damals die erste journalistische Recherche überhaupt, in der mehrere Betroffene auch zu Wort kamen und die ja eben auch auf... Also die Kinder wurden ja über Jahrhunderte positiv beschrieben. Also es wurde mal Zeit, fand ich, auch mal die andere Seite zu beleuchten. Ich möchte aber auch noch mal kurz differenzieren, weil wir gerade gesagt haben, wie furchtbar das war. Es gab durchaus auch Heime, die trotz dieser geringen Mittel alles gegeben haben, um den Kindern eine schöne Zeit zu machen. Also man muss sagen, da gab es teilweise für ein Kind einen Pflegesatz von 1,20 Mark pro Tag. Also das war sehr wenig, was die Heime zur Verfügung hatten. Und es gab eben auch Erzieherinnen, die sich eingesetzt haben, die mir ganz glaubhaft erzählt haben, dass die für die Kinder nachts da waren, da niemanden zum Essen gezwungen haben. Also das gab es auch. Und es gibt auch Verschickungskinder, die sich bei mir melden und sagen, das war da ganz schön. Also das möchte ich immer noch dazu sagen. Aber in der Mitte steht eben das, was ich so erzählt habe und was die meisten erzählen, dass es oft eben so ein Ort war, in dem man individuell gar nicht auf die Kinder eingehen konnte, weil so wenig Personal da war und diese strengen Regeln herrschte. Und die letzte Ebene ist eben auch Machtmissbrauch und wirklich schwere Formen von Gewalt, weil diese Kurheime so selten kontrolliert wurden, abgelegen waren und wie gesagt, Personalmangel herrschte. Also auch ein perfektes Umfeld für mögliche Täter:innen bot. Dadurch kam es auch zu sexuellem Missbrauch teilweise oder schwererer Form von Gewalt.
[00:15:40.230] - Nadia Kailouli
Wahnsinn. Du hast dann jetzt eben mit ja heute Erwachsenen darüber sprechen können, unter anderem dein Vater, deine Tante, aber viele andere, die betroffen waren eben, die dort als Kind hingeschickt worden sind, Verschickungskinder eben waren. Wie war das für dich und für die Betroffenen, darüber nach so langer Zeit dann zu sprechen und das erste Mal ja vielleicht auch das Gefühl bekommen haben, also wenn du gerade erzählt hast bei Chefkoch.de, das ist ja eigentlich eine Plattform, wo man Kochrezepte sucht, wurde sich darüber ausgetauscht "Hallo, sind hier eigentlich noch andere, die auch in so einer Kur waren?" Wie war das, diese Begegnung mit betroffenen Menschen?
[00:16:14.150] - Lena Gilhaus
Ja, ganz unterschiedlich, je nachdem, was die Menschen auch da erlebt haben. Aber ich erlebe es immer wieder, dass da ein ganz großes Mitteilungsbedürfnis ist, dass die Menschen erzählen wollen. Also ich hatte jetzt gerade eine Lesung auch in Oldenburg, da war eine total lange Schlange nachher bei der Signierstunde und ich saß anderthalb Stunden an dem Tisch, weil jeder, der ein Buch gekauft hat, erst mal erzählt hat von seinen Erlebnissen. Und mein Buch heißt ja nicht umsonst eine verdrängte Geschichte, dass über so viele Jahrzehnte oft in den Menschen so eingekapselt war und es manchmal so einen Anstoß braucht, mal darüber zu sprechen, sich auch validieren zu lassen: "auch andere hier mich herum haben das erlebt". Und dann hat sich zum Beispiel eine Gruppe gefunden, die alle aus Oldenburg in dasselbe Heim verschickt wurden und haben dann da noch bis 23 Uhr zusammengesessen und erzählt. Also ich erlebe da einerseits so eine Erleichterung, die das Reden schafft und dass es auch so raus sprudelt. Und in den anderen Fällen, wo es eben auch um schwerere Formen von Gewalt ging, da bin ich auch sehr langsam vorgegangen. Also in einem Fall dem Marko, der auch in der Doku vorkommt, der auch sexuellen Missbrauch erlebt hat. Da haben wir anderthalb Jahre immer nur mal telefoniert. Da ging es auch um ein Ermittlungsverfahren, wo ich auch aussagen musste und er hat mir nicht genau sagen wollen, was ihm passiert ist. Und das hat er dann wirklich erst gemacht, als wir zusammen an dem Ort waren, wohin er verschickt worden war und dann hingesetzt haben. Und dann hat er das erste Mal gesprochen. Also ich habe immer so geschaut, dass wir eben das Tempo befolgen, was dem Betroffenen gut geht und dass sie halt einfach mitentscheiden können, wie, wo und wann.
[00:17:48.420] - Nadia Kailouli
Wie weit sie oder wie viel sie erzählen. Und das heißt, Marko hatte dann sozusagen das erste Mal dann darüber gesprochen, dass er schweren sexuellen Missbrauch dort erlebt hat?
[00:17:57.870] - Lena Gilhaus
Also was er genau erlebt hat. Ich wusste, dass er Missbrauch erlebt hatte, aber was dieser Erzieher mit ihm gemacht hatte, das hat er erzählt, dann in einer Situation, in der wir schon ein sehr enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hatten, uns schon über anderthalb Jahre kannten, sehr oft telefoniert und ge-emailt hatten und gemeinsam ja mit diesem Fall dann betraut waren.
[00:18:18.280] - Nadia Kailouli
Du hattest die Doku angesprochen, du hast das Ganze nämlich auch verfilmt. Du hast unter anderem auch deinen Vater und deine Tante dann nach Sylt begleitet, an den Ort, wo sie damals eben hingeschickt worden sind zur Kur. Und den Film verlinken wir auf jeden Fall auch in unseren Shownotes, dass ihr diesen Film von Lena euch anschauen könnt. Jetzt liegt das ja alles wahnsinnig lange zurück. Nichtsdestotrotz reden wir jetzt darüber, warum ist es so wichtig, eben diese Geschichte nicht weiterhin zu verdrängen, wie du sagst, eine verdrängte Geschichte in deinem Buch, sondern dass man sich das ins Hier und Jetzt holt, was da damals passiert ist.
[00:18:52.270] - Lena Gilhaus
Ja, das sind viele Facetten, die man da ansprechen kann. Ich fange mal an mit diesem Erzieher beispielsweise, von dem Marko missbraucht wurde. Im Zuge der Recherche habe ich festgestellt, dass der Mann immer noch in der Kleinkindbetreuung arbeitet seit über 40 Jahren. Und ich habe auch die damaligen Träger 2022 informiert über die Vorwürfe gegenüber diesem Mann. Mittlerweile gibt es drei Männer, die ihm schweren sexuellen Missbrauch vorwerfen. Er wurde auch mehrfach angezeigt, aber die Taten sind inzwischen verjährt. Man kann diesen Mann nicht mehr beikommen. Konnte man zumindest bislang nicht. Und durch dieses Mauern und das Schweigen der Verantwortlichen, die schon seit 2010 von Gewaltvorwürfen gegenüber Personal in einem bestimmten Kurheim wussten, verjähren eben auch Taten oder werden nicht rasch aufgeklärt und aufgearbeitet. Und was ich immer wieder erlebe ist, dass Missstände zunächst abgestritten werden, gemauert wird. Immer erst dann, wenn ich etwas veröffentlicht habe, kam der nächste Schritt. Dann wurde vielleicht eine Studie in Auftrag gegeben. Aber dass es zum Beispiel jetzt zu der Freistellung dieses Erzieher kam, obwohl die Gemeinde und der Träger schon 2022 über die Vorwürfe informiert worden war von mir, ist eben erst passiert, nachdem die Doku herauskam und dann noch mal ein öffentlicher Druck entstanden ist auf die Gemeinde.
[00:20:13.810] - Nadia Kailouli
Das ist natürlich jetzt sehr, sehr klar beantwortet, warum wir darüber reden müssen, was damals passiert ist, weil es immer noch Akteure gibt, die ja aktiv sind, sei es in der Erziehung von kleinen Kindern oder in irgendwelchen Institutionen arbeiten, die aber damals eben Täter waren und man weiß halt nicht, was heute ist. Das ist natürlich jetzt aber erschreckend, das auch so schwarz auf weiß zu haben. Was macht das dann mit einem wie Marko zum Beispiel? Zu wissen, jetzt breche ich schon mein Schweigen und erzähle jetzt darüber und gehe das auch juristisch an und nichtsdestotrotz kann man diesem Täter überhaupt nicht dafür belangen.
[00:20:52.820] - Lena Gilhaus
Ja, das ist sehr schwer für Menschen wie Marko. Wir waren ja auch in diesem Kurheim und dann hatten wir schon Drehschluss und wollten gehen und da ist er auch richtig zusammengebrochen auf der Treppe noch mal und hat geweint und hat gesagt: "Ich will, dass dieser Mann nicht mehr mit kleinen Kindern arbeiten kann. Ich will, dass der Mann strafrechtlich belangt wird." Und das ist ein allgemeines Problem, das wir auch heute noch haben. Also man muss sich vorstellen, wir haben 138.000 Fälle von sexuellem Missbrauch jährlich und davon kommen 8,6% überhaupt zur Anklage. Also bei Kindern sind es so 15, 16.000 bekannte Fälle im Jahr und auch da verurteilte Täter haben wir zwischen 1600 und 2000 im Jahr. Also die meisten Ermittlungsverfahren bei sexuellem Missbrauch verlaufen im Sande, wenn überhaupt wirklich ermittelt wird. Nur die wenigsten Täter:innen werden eben auch bestraft und somit bleiben polizeiliche Führungszeugnisse ja auch leer. Also wer nicht verurteilt wurde, der hat auch keinen Eintrag. Und das ist ein sehr großes Dilemma, weil wir ja auch die Unschuldsvermutung unangetastet lassen wollen in einem Rechtsstaat. Aber sexueller Missbrauch ist auch sehr schwer nachweisbar, insbesondere dann, wenn die Aussage eines Kindes oder sogar Kleinkindes gegen die Aussage eines Erwachsenen steht. Und dann haben wir noch das Thema der Verjährungsfristen. Also wenn ich Missbrauch in der Kindheit erlebt habe und es dann als Erwachsene anzeige, meistens brauchen Opfer, Betroffene 30 Jahre und mehr, um das auch anzeigen zu können, dann sind die Taten eben verjährt und wir haben auch keine Anzeige und Meldepflicht in Deutschland. Also auch die Träger können nicht belangt werden, wenn sie nicht angezeigt haben.
[00:22:29.010] - Nadia Kailouli
Wie ist es denn mit der Erfahrung überhaupt bei dem Willen, das Ganze aufzuarbeiten? Ja, es betrifft ja eine Masse von Kindern, die das erlebt haben, sei es jetzt eben schweren sexuellen Missbrauch oder psychische Gewalt, in jeglicher Form Gewalt dann in diesen Kuren. Nicht alle das hast du gesagt, klar. Aber es gibt genügend, die ja auch aufgrund deiner Recherche sagen, okay, mir ist da auch was passiert und wenn es so eine Masse an Menschen betrifft, dann spätestens dann muss man dann eben in die Aufarbeitung gehen. Erlebst du da deinen Willen von verschiedenen Institutionen, dass die dazu bereit sind, weil diese Kuren wurden ja unter anderem auch staatlich unterstützt und gefördert, sowohl von den Jugendämtern als auch vom Gesundheitsministerium, wie du eben gesagt hast? Ist da der Wille da? Ist da eine Offenheit da zu sagen, wir erarbeiten das auf, wir gucken uns die Fälle an?
[00:23:16.800] - Lena Gilhaus
Ich könnte dazu jetzt stundenlang ermüdend erzählen, was ich mit diesen ganzen Trägern und Verantwortlichen erlebt habe. Ich versuche das mal zusammenzufassen. Also 2020 hieß es beispielsweise in NRW, als ich da im Landtag zu Besuch war, dass man sich vom Bund eine Aufarbeitung wünscht, das auf Länderebene zu machen, würde keinen Sinn machen. Und Informationen gäbe es aktuell noch keine. Der Bund sagte, man würde da noch Zuständigkeiten klären, da ist man heute noch mit beschäftigt. Also da wurde sich so der Ball zugespielt. Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe habe ich nachgefragt, ob es Unterlagen gibt. Da hieß es, man hätte mit Kinderkur nie zu tun gehabt. Nachher stellte sich heraus, dass das die größte Kinderkursstelle der BRD war. Also erst mal dieses Mauern, dieses Verdrängen. Bei der Deutschen Angestellten Krankenkasse habe ich angeklopft, weil mir eine Betroffene von sexuellem Missbrauch erzählt hat, ob es Gewalt gab in den Kinderkurheimen. Es wurde erst mal abgelehnt, mir überhaupt ein Interview zu geben. Ein Statement wurde abgelehnt. Dann haben wir beweisende Dokumente vorgelegt und die DRK hat plötzlich doch eingelenkt, hat dann gesehen, jetzt ist es nicht mehr abstreitbar und dann haben sie diesen sexuellen Missbrauch doch eingeräumt, haben ja jetzt auch eine Studie veröffentlicht. Aber wirklich proaktiv auch den Betroffenen zuhören, ohne mich als Journalistin im Hintergrund, da habe ich die Erfahrung gemacht, die werden jahrelang jahrzehntelang alleine gelassen und, wie ich vorhin schon sagte, immer erst dann, wenn öffentlicher Druck, journalistischer Druck aufgebaut wird, wenn sie um eine Veröffentlichung fürchten müssen, dann wird gehandelt. Und das ist ja auch dann der Auftrag von uns Journalist:innen, diese Aufgabe zu übernehmen.
[00:24:52.930] - Nadia Kailouli
Jetzt fragt man sich trotzdem so, krass, dass es dann erst in Anführungsstrichen die Journalistin braucht, die aufgrund einer persönlichen Geschichte ihrer Familie zum Glück dran geblieben ist. Weil das ist ja wirklich heftig, was du dann eben da durch deine Recherchen rausgeholt hast. Aber dass dann die Bereitschaft dann nicht so gegeben ist, wie du das gerade geschildert hast, ist ja schon ein bisschen erschreckend. Vor allem, wenn wir wissen, dass wir in Deutschland schauen wir uns die katholische Kirche an oder überhaupt die Kirche mit den Missbrauchsfällen, die aufgearbeitet werden, bis heute aufgearbeitet werden seit Jahren. Und das ist ja gleichzustellen, damit zu sagen, okay, das betrifft auch eine Institution. Es betrifft ja auch Strukturen, die unterstützt worden sind, wo geschwiegen wurde und dass man da aber trotzdem nichts daraus gelernt hat, dass umso früher man mit der Aufarbeitung anfängt, desto besser es ist, anstatt da die Mauern hochzuhalten.
[00:25:41.360] - Lena Gilhaus
Ja, und dass es eben Träger und Institutionen des gesamten weltanschaulichen Spektrums umfasst. Also es sind nicht nur die Kirchen, sondern wie gesagt, es sind auch Krankenkassen oder die Deutsche Rentenversicherung beispielsweise, die war ganz groß im Kinderkur-Business drin. Und ich hatte einen Protagonisten, einen Arzt, den ich interviewen wollte, der heute in einer Klinik arbeitet, die früher ein Jugend-Kurheim war, der Deutschen Rentenversicherung und sie haben uns keine Dreherlaubnis gegeben, weil sie nicht in den Zusammenhang gebracht werden wollen zu Verschickungskindern. Dann habe ich gesagt, aber habe ich recherchiert und festgestellt, die Einrichtung war sogar ein Verschickungsheim. "Nee, das war für 14-Jährige und die waren meistens ja jünger." Also auch da an der Stelle noch mal zu blockieren. Da frage ich mich warum? Also je mehr Offenheit, Transparenz und Aufarbeitungswillen und sich Stellen mit der Vergangenheit einer Institution zeigt, umso glaubwürdiger ist sie ja eigentlich. Aber es bleibt weiter dabei, dass Institutionen zunächst immer erst versuchen, Missstände zu deckeln und immer noch nicht verstehen, dass das die Fantasien teilweise auch bei den Betroffenen viel größer macht, also welchen Dreck eine Institution da am Stecken hat, so ungefähr. Und ein Verschweigen und Mauern günstiger zu sein scheint als aufzuarbeiten.
[00:26:57.760] - Nadia Kailouli
Jetzt liegt das alles in der Vergangenheit, was da passiert ist. Nichtsdestotrotz, wie wir ja gerade erfahren haben bei dem Fall Marko, gibt es da natürlich dann noch Erzieher, die heute immer noch als Erzieher eben zum Beispiel arbeiten. Inwieweit hast du in deiner Recherche festgestellt, dass diese Erziehungsmaßnahmen, diese Form von Macht, von Missbrauch irgendwie weitergetragen wird von Menschen, die dort damals gearbeitet haben und der Meinung sind, genauso sollte es sein und genauso möchte ich das heute eigentlich auch weiterhin anwenden, wie zum Beispiel Zwangsernähern oder Stillliegen oder sich an einem Seil festhalten, um spazieren zu gehen, um halt in diesem Reih und Glied und nach dem System zu funktionieren.
[00:27:41.040] - Lena Gilhaus
Genau. Also wir haben jetzt einmal über wirklich Machtmissbrauch und Gewalt gesprochen und jetzt geht es diese Erziehungsmaßnahmen, die es da gab und die sind ja seit Jahrhunderten in unserer Gesellschaft verwurzelt. Also mit der Industrialisierung hat der Staat noch mal viel stärker in die Erziehung eingegriffen. Also es waren häufig Männer, Ärzte oder Geistliche, die damals Erziehungsratgeber geschrieben haben, die eigentlich eine komplette Unterjochung der Kinder vorgesehen hat. Also dieses Kinderkurprogramm kann man nachlesen in Ratgebern von 1850 oder 1920. Da steht das genau so geschrieben. Da steht Luftkuren. Die Kinder sollen liegen, die müssen essen, die müssen streng bestraft werden. Schon Säuglinge müssen geschlagen werden, wenn sie schreien. Baden ist nicht erlaubt, dafür kalte Abreibung. Es sollte Kaltherzigkeit, auf keinen Fall Warmherzigkeit in diesen Heimen herrschen. Also es war erschreckend zu sehen, dass das, was Kinder in den 60er, 70er Jahren in den Heimen erlebt haben, damals festgeschrieben wurde und daran kaum was sich geändert hatte. Und dahinter steht ja so ein bisschen eine Ökonomisierung von Kindheit. Also durch die Trennung von Familie und Arbeit ab der Industrialisierung mussten die Kinder angefangen werden, fremdbetreut zu werden. Es gab ja vorher gar keine Kitas. Die Kinder haben mit den Eltern zusammen irgendwo gearbeitet oder wurden verkauft und arbeiteten als Gesinde. Sie wurden getrennt und dann versuchte man diesen Kindern Herr zu werden in diesen sogenannten Bewaranstalten. Auch die Schulpflicht kam auf und da saßen teilweise Lehrer 70 Kindern, ein Lehrer 70 Kindern gegenüber, die über Tisch und Bänke gegangen sind. Also hat der Staat angefangen, auch den Familien einzureden, die Kinder hart erziehen zu müssen, damit sie in diesen Anstalten funktionierten. Und dieses Bild, dass Kinder still, fügsam und wenig wild sein sollen, das ist ja immer noch in unserer Gesellschaft ganz eng verankert und es würde auch nicht funktionieren, wenn man Kinder, also unser Gesellschaftssystem, das auch heute so existiert, funktioniert ja auch weiterhin nur, indem Kinder betreut werden und sich auch anpassen müssen an Gegebenheiten, dass sie in der Schule still sitzen müssen. Also wir brauchen diese Erziehungsform hier auch noch und wir haben auch Menschen erzählt, in unserer Kita ist das auch so, dass die am Seil laufen müssen, weil wir haben nur eine Erzieherin auf zehn Kinder und ich muss ja auch für die Sicherheit garantieren, Kinder sind ja eigentlich wild und würden in alle Ecken rennen. Und wie soll ich auf 20 Kinder aufpassen, wenn da wilde Wellen sind und es stürmt am Strand? Es kam ja auch zu Ertränkungsfällen, es kam zu Unfällen, es kam auch zu Gewalt unter den Kindern. Ganz schlimmen Formen von Gewalt, weil das Erziehungspersonal überfordert war. Und da braucht es ja strenge Regeln und Kontrolle, um auch überhaupt für die Sicherheit zu garantieren. Also das hat so sehr viele Ebenen. Und auch so ein ein Blick auf Kinder von den oft bürgerlichen Frauen, auf Kinder der Arbeiterklasse, die verzogen sind, die falsch aufwachsen, wenn die Mutter zum Beispiel berufstätig war, wenn sie nicht verheiratet waren. Da gab es immer so einen Blick auf Kinder, die nicht der sogenannten Norm entsprachen, dass sie durch Strenge auf den richtigen Weg gebracht werden müssen. Und in der Doku sieht man auch eine Erzieherin aus Bad Sassendorf, die hat mir genau die Sätze immer noch gesagt. Die arbeitet heute in einer Kinderreha. Die Kinderkurheime heißen heute Reha und werden teilweise noch mit demselben Personal fortgesetzt. Dass sie auch immer noch diesen Anspruch toll findet, die Kinder auf den richtigen Weg zu bringen und dass sie versteht, dass manche fliehen wollten, hat sie auch gesagt, aus den Kurheimen damals, weil sie sich da an Regeln zu halten hatten. Also diese autoritäre Pädagogik findet sich auch heute noch. Da gibt es ja auch viele Beispiele für Ratgeber, die sich spitzenmäßig verkaufen, die auch davon sprechen, dass Kinder Tyrannen werden, wenn wir sie nicht streng erziehen.
[00:31:33.090] - Nadia Kailouli
Aber sehen die denn ein, die du dann zum Beispiel getroffen hast oder im Laufe deiner Recherche kennengelernt hast, dass so wie es früher war, heute eigentlich gar nicht mehr geht? Und dass es andere Methoden braucht, um Kinder zu schützen, wenn sie halt wild sind und dann eben nicht einfach ins Meer rennen oder so, anstatt eben mit dieser autoritären Erziehungsmaßnahme da ranzugehen, oder?
[00:31:55.800] - Lena Gilhaus
Ja, das kann ich nicht sagen. Da wird eher gesagt: "Ja, heute ist das ganz anders. Also heute haben wir ganz andere Konzepte." Und es ist beispielsweise so in den Rehas, dass die Kinder, bis sie zwölf Jahre alt sind, auch eine Begleitperson mitnehmen können, also dass sie dann nicht mehr alleine sind. Und sogar ab zwölf dürfen sie auch einen Antrag stellen. Da wird auch Unterricht gemacht. Es gibt nicht mehr diese riesigen Schlafsäle, sondern so Zweierzimmer. Also das Ganze wurde schon angepasst, weil viele Eltern auch ab den 80ern und 70ern schon nicht mehr bereit waren, ihre Kinder so lange alleine wegzugeben. Und da hat dann ja auch so die Generation unserer Eltern sich gegen aufgelehnt, schon ab den 68ern, gegen diese Autoritäten. Aber dieser Blick auf die Kinder und sie so auf diesen richtigen Weg zu bringen und dass das arme, schwache Kinder sind, die jetzt aufgepäppelt werden müssen und die man ja durch Strenge auf den richtigen Weg bringt. Dieses Bild habe ich da auch immer noch so durchschimmern sehen. Oder eine Erzieherin hat auch gesagt: "Da wurde niemand zum Essen gezwungen und wir haben denen eine ganz tolle Zeit gemacht." Und dann habe ich gesagt: "Hätten sie ihre eigenen Kinder denn zur Kur geschickt?" "Nein, nein, das hätten wir niemals gemacht. Wir wären ja zusammen mit denen in Urlaub gefahren." Also da fand ich, das war entlarvend zu sehen. Aber für das eigene Kind.
[00:33:12.500] - Nadia Kailouli
Ist es dann nicht so gut.
[00:33:14.050] - Lena Gilhaus
Ja, da hätte ich auch Zweifel gehabt als Mutter. Also das kam so durch.
[00:33:19.250] - Nadia Kailouli
Ja, also es ist jetzt noch mal wichtig zu erwähnen, dass man, wenn man sein Kind heute auf eine Reha schickt, dass die Eltern da mitfahren können, dass so ein Kind da halt einfach nicht alleine ist.
[00:33:29.480] - Lena Gilhaus
Es gibt weiterhin aber auch Kuren, in denen Kinder alleine dann ohne die Eltern reisen. Und teilweise finden sich dieselben Indikationen auch noch in den Kuhheimbeschreibungen, also dieselben Gründe für die Kuren oder manchmal noch ergänzt und fand ich ein bisschen absurd, um Zöliakie oder irgendwelche anderen, ja sehr sehr breit gefächerten Symptome, die Kinder haben können. Also man muss auch sagen, viele Kuren wurden für Symptome verschrieben, die psychosomatisch sind, zum Beispiel Asthma oder Neurodermitis sind ja Psychosomatosen, die durch Stress ausgelöst werden können. Und statt dass Kinder vielleicht eine Therapie haben oder man zu dem Problem schaut, dass das Kind vielleicht gerade hat in der Schule oder in anderen Institutionen in der Familie, hat man diese Kuren vorgehalten, in denen die Kinder ja häufig noch stärkeren Stress empfunden haben durch die Trennung von den Eltern, durch diesen Umgang mit ihnen. Also man sieht in den Akten auch und in den Dokumenten, dass so ein empathischer, mitfühlender Blick für Kinder fehlte. Also es gab so bestimmte medizinische Vorgaben, die wurden an dem Kind ausprobiert und das Kind musste diese Maßnahmen mitmachen. Aber wenn offensichtlich war, dass das Kind unter diesen Maßnahmen litt und sich nicht wohlfühlte, dann waren immer die äußeren Umstände schuld, das Milieu zu Hause, dass das Kind verwöhnt sei, verzärtelt sei oder sonstige Probleme hätte, aber nie die Gegebenheiten vor Ort.
[00:34:57.690] - Nadia Kailouli
Wahnsinn. Ich meine, du öffnest natürlich jetzt gerade so einen Blick. Ich meine, jetzt machen wir uns nichts vor. Also ob es jetzt eine Pflegeeinrichtung für ältere Menschen ist oder eine Reha für kleine Kinder. Also man ist da halt dann einfach auch dem oder derjenigen ausgeliefert teilweise. Wie gesagt, man will niemandem was vorwerfen. Aber ich glaube, der Blick sollte da schon ja hingehen, weil wir wissen ja überall da, wo das Schwächere auf den Stärkeren trifft und ein Ungleichgewicht stattfinden könnte. Das ist einfach auch die Basis für Missbrauch. So war es in allen Bereichen bisher und so geht es ja heute auch weiter. Und wenn man jetzt weiß, okay, es gibt immer noch Kinderrehas, dann sollte man wahrscheinlich als gerade als Eltern gucken, dass man dabei ist und dass man auch das Verhalten des Kindes sich anschaut. Wie geht es meinem Kind auf Reha? Verschlechtert es sich im Zustand und dann hat das vielleicht nichts mit der Neurodermitis zu tun.
[00:35:51.010] - Lena Gilhaus
Genau. Also auf sein Bauchgefühl vertrauen. Das, finde ich, ist auch ganz wichtig. Und das hat auch... Ich bin Mutter geworden, während ich an diesem Buch geschrieben habe. Diese Ratgeber zu lesen von diesen Ärzten damals. Also das hat mir körperliche Schmerzen bereitet, weil das letzte, was ich gemacht hätte, wäre, mein Kind alleine zu lassen, sondern es ist auch ein Instinkt, den man als Mutter oder Vater hat, sein Kind zu beschützen und für das Kind da zu sein, auch körperlich in Nähe. Und diese Ratgeber haben zum Beispiel vorgesehen, dass Babys von ihren Müttern direkt nach der Geburt getrennt werden und alleine in einen Raum gesperrt werden. Und das sind alles Dinge, die die Natur schon ganz anders programmiert in uns, als das diese Ärzte damals verschrieben haben. Es sind auch viele Kinder damals gestorben, weil die Kinder, denen diese Mutterliebe, die Nähe gefehlt hat. Und auch heute ist das, finde ich, ein ganz guter Leitgedanke zu sagen, ich vertraue da meinem Gefühl. Und in der Vergangenheit unserer Geschichte haben immer schon Behörden, Mediziner versucht, Eltern diesen Schutzinstinkt auszureden. Aber der ist ganz wichtig. Und Empathie ist auch wichtig. Ich kann einer Anstalt, einer Einrichtung erst mal einen Vertrauensvorschuss geben und erst mal davon ausgehen, dass sie sich gut mein Kind kümmern. Aber wenn ich Missstände fühle oder wenn ich da merke, meinem Kind tut es nicht gut, dann ist das wichtig, da hinzugucken und sich das nicht ausreden zu lassen. Zum Beispiel mit so Sätzen wie "Affenliebe" war in der Nazizeit und auch davor ein Begriff für zärtliche, beschützende Elternliebe. Und von dem Psychiater Winterhoff, gegen den ist jetzt Anklage erhoben worden, und der hat diese Bestseller eben geschrieben über Kinder, die Tyrannen werden, wenn wir sie nicht hart erziehen. Der hat auch einen Begriff geprägt, der eigentlich dasselbe bedeutet wie Affenliebe. Und zwar die "Mutter-Kind-Symbiose". Also die Symbiose zwischen Mutter und Kind, also so eine ganz enge, beschützende Liebe zwischen Mutter und Kind hatte er als etwas Schädliches markiert, was dazu führen würde, dass unsere Kinder auf einen falschen Weg geführt werden. Und das war ein Massenerfolg sein Buch, indem er diese selbsterfundene Diagnose verbreitet hat. Genau. Und Tausende Kita-Leitungen haben sich seine Vorträge angehört.
[00:38:02.190] - Nadia Kailouli
Mein Gott.
[00:38:03.210] - Lena Gilhaus
Also ich glaube, das war jetzt in den letzten zwei Jahren genau kam dieser Fall dann an die Öffentlichkeit.
[00:38:09.950] - Nadia Kailouli
Man Lena, also ich finde das total super, dass du da so diese tiefe Recherche gemacht hast, darüber ein Buch geschrieben hast, einen Film darüber gemacht hast und ja immer noch irgendwie so dran bist, wenn ich das so richtig raushöre, dass du dir das Thema weiterhin anguckst. Was wäre so dein Appell in diesem Themenbereich an unsere Zuhörer:innen?
[00:38:32.140] - Lena Gilhaus
Ja, ich glaube einfach so in den Fokus kindliche Grundbedürfnisse zu stellen und zu schauen, ob die befriedigt werden können. Und das ist ja zu einem ganz großen Teil Bindung, aber auch Autonomie. Und Bindung und Autonomie wurden ja massiv eingeschränkt oder nicht erfüllt in diesen Kurheimen. Die Kinder waren allein gelassen und sie mussten sich unterordnen. Insgesamt bei Einrichtungen und Anstalten eben darauf zu schauen, ob das Personal in der Lage ist, auch aufgrund von der Quantität, also sind da, ist da genug Personal? Also auch Überforderung führt ja immer wieder zu Gewalt, um diese Grundbedürfnisse auch stillen zu können. Denn wenn Kinder von ihren Hauptbezugspersonen, das muss ja nicht immer die Mutter sein, das kann auch der Vater sein oder andere enge Bindungspersonen getrennt wird, insbesondere wenn es noch sehr klein ist, dann kann das eben Verlassenheit auslösen. Und wenn Kinder in einem Umfeld untergebracht sind, in dem es nicht das Vier-Augen-Prinzip gibt, indem sich das Personal nicht gegenseitig kontrollieren kann. Auch da ist ja natürlich ein großes Einfallstor für Machtmissbrauch. Wie erlebe ich den Umgang mit den Kindern? Ist der Umgang wertschätzend? Und was ich vorhin schon sagte, eben auf sein Bauchgefühl zu hören, ob man sich wohl damit fühlt, wie da mit dem Kind umgegangen wird. Und was ich bei der Recherche sehr interessant fand, war, wir leben ja noch nicht als Menschheit oder hier im Westen so lange in den, also überwiegend in Anstalten, dass wir Psychiatrien, Krankenhäuser, Arbeitshäuser entstanden eigentlich erst vor 200, 300 Jahren. Und wir haben jetzt eben diese Gesellschaftsform, in denen die Eltern außerhalb der Reichweite des Kindes oft arbeiten und Eltern und Kinder in den ersten Lebensjahren schon relativ schnell bald voneinander getrennt werden und sich da auch einzusetzen, auch heute, dass das Personal gut bezahlt wird, dass der Staat weiter in Kitas investiert, aber vielleicht auch in Lebensbedingungen für Eltern, dass sie nicht jeder einen Vollzeitjob brauchen, dass sie unterstützt werden, um auch Zeit mit ihrem Kind verbringen zu können. Und dabei geht es ja nur um die ersten ganz wichtigen entscheidenden Jahre. Dafür zu sorgen, dass Eltern bei ihren Kindern sein können auch und nicht immer fremdbetreut werden müssen. Und dass dort, wo die Kinder fremdbetreut werden, eben ja wunderbare Bedingungen herrschen, weil das sind unsere Kinder und das sind...
[00:40:54.300] - Nadia Kailouli
Ich finde das so spannend, was du gerade sagst, weil der Fokus ja eigentlich die ganze Zeit immer woanders lag. Wir müssen Orte schaffen, wo Kinder nonstop betreut werden, damit die Mutter und der Vater so schnell es geht nach der Geburt wieder reinkommen, in den Job voll beschäftigt sein können. Man möchte ja auch das, was man sich erarbeitet hat, nicht irgendwie verlieren. Dann kommt dann noch ein Kind dazu, das heißt mehr Kosten kommen dazu. Also ich bin keine Mutter, aber dieser Druck, der dann da ist und anstatt sich darauf zu fokussieren, wie können wir Kind und Karriere für die Familie konzipieren, ohne dass man dieses Kind nach sechs Monaten abgeben muss, acht Stunden am Tag. Das ist ja Iree.
[00:41:28.410] - Lena Gilhaus
Ja, das ist halt Kapitalismus. Und Kapitalismus und Kommunismus kannten da keinen Unterschied. Auch das noch mal. Also im Kommunismus war es ja noch viel stärker. Da kamen Kinder teilweise in Wochenkrippen. Babys wurden von montags bis samstags abgegeben und kamen dort ins Heim, damit die Mütter arbeiten konnten und diese vermeintliche Gleichberechtigung wurde ja auch auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Und die Sache ist ja diejenige. Es geht hier um einige entscheidende Jahre, zwischen null und sechs, sieben, acht.
[00:41:58.330] - Nadia Kailouli
Bis die Schule halt losgeht. Und das sind ja nicht...
[00:42:00.530] - Lena Gilhaus
Da werden die Kinder ja schon viel selbständiger. Und ich habe angefangen, noch mal viel breiter über den Tellerrand zu blicken durch diese Recherche, weil ich dachte, das wurde ja auch irgendwann einmal erfunden, unser Gesellschaftssystem. Und das muss ja nicht... Also das kann man auch immer wieder hinterfragen und für sich schauen, wie kann ich Wege finden, um meine Bedürfnisse zu erfüllen? Denn auch arbeiten zu gehen macht ja glücklich. Und auch einen Ausgleich zum Familienleben zu haben, macht glücklich. Da ein Mittelmaß zu finden ist ja eben das.
[00:42:32.040] - Nadia Kailouli
Oder das auch anzupassen. Eigentlich müssen wir noch so viel daran arbeiten, dass die Kinder gut und sicher aufgehoben werden und dass die Eltern eben ihren Weg weitergehen können und dann trotzdem aber ihre Verantwortung, die sie ja auch spüren, Bauchgefühl und so nachgehen können, zu gucken, ich möchte, dass da, wo mein Kind ist, dass es dem da gut geht und wenn ich meine, dieser Ort ist nicht gut für mein Kind und ich fühle das, dann möchte ich auch sagen, ich hole es lieber da raus. Aber dann muss halt gucken, wo kommt Mama und Papa dann her?
[00:42:59.850] - Lena Gilhaus
Ja, und ich kann mir so eine Frage stellen. Ich bin in einer Luxusposition. Ich gehöre irgendwie zum Mittelstand. Aber viele Menschen können sich das nicht aussuchen. Also da müssen beide arbeiten, damit die Familie überleben kann. Und da ist garnicht die Frage, kann ich das Kind einfach nur nachmittags in eine Nachmittagskita bringen? Oder da ist auch gar nicht die Frage, kann die Mutter oder der Vater ganz zu Hause bleiben? Also die haben gar nicht die Wahl. Deswegen ist es ja auch ein Luxusproblem. Oder in Ländern wie Frankreich, da ist es völlig normal, dass viermonatige Kinder schon in die Krippe kommen und dass die Frauen alle abpumpen in den Büros. Aber wo wollen wir hin? Ist das das Ziel, wenn wir so viele Einrichtungen geschaffen haben, dass wir zu diesen Standards kommen? Also viele ostdeutsche Betroffene haben mir erzählt, dass sie das mit Unbehagen sehen, dass die BRD jetzt auf Zustände zusteuert, die man damals in der DDR kannte, wie Wochenkrippen und wirklich ein flächendeckendes Betreuungsangebot hatte für Kinder, was dann für Säuglinge anfing, bis hin zur Pionierarbeit an den Nachmittagen. Also die Kinder verbrachten in der DDR die meiste Zeit ihres Aufwachsens in dieser staatlichen Fremdbetreuung. Und das auch zu hinterfragen, wollen wir da langfristig hin oder wollen wir uns neue Wege überlegen? Das könnte zum Beispiel auch sein, im Sozialraum mit auch noch mal dörflichere Strukturen zu schaffen, beispielsweise, dass man sich untereinander unterstützt, dass Familien sich gegenseitig unterstützen und Kinderbetreuung auch mal übernehmen, was ja auch in städtischen Regionen nicht stattfindet. Und ein wesentliches Problem ist eben die Kleinfamilie. Also zwei Menschen reichen nicht, um ein Kind zu betreuen rund um die Uhr. Da kommt Arbeit zu kurz, da kommt die Beziehung zu kurz, da kommt vieles zu kurz. Aber so leben wir halt überwiegend.
[00:44:45.290] - Nadia Kailouli
So leben wir halt. Und eigentlich haben wir hier mit den Kinderkuren angefangen. Und jetzt hängen wir im Familienministerium. Lena Gilhaus, ich danke dir sehr, dass du heute hier warst, dass du uns dein Buch ein bisschen vorgestellt hast, deine Recherche vorgestellt hast. Wir verlinken beides in unseren Shownotes. Und wer weiß, wann wir uns wiedersehen. Vielleicht eben zu dem Grundsatz Thema, wie betreuen wir unsere Kinder? Vielen Dank Lena.
[00:45:08.100] - Lena Gilhaus
Vielen Dank.
[00:45:12.820] - Nadia Kailouli
Ja, Wahnsinn, oder? Wer hätte das gedacht, dass etwas so noch mal aufgedeckt werden kann, was so lange Zeit zurückliegt? 20, 30, 40 Jahre? Und das über eine persönliche Geschichte. Denn alles kam ja bei Lena irgendwie auf den Tisch durch ihren Vater und durch die Tante. Und am Ende kann man ja auch sagen und hoffen, es gibt ja noch immer die Kinderreha, dass die darüber sensibilisiert worden sind, dass Erziehungsmethoden, die früher einmal angewendet worden sind, heute wirklich in Frage zu stellen sind und dass die Kinder dort sicher und gut aufgehoben sind.
[00:45:46.440] - Nadia Kailouli
An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich bei euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei schwierigen Themen dranbleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal und wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine E-Mail könnt ihr einfach schreiben an presse@ubskm.bund.de.
Mehr Infos zur Folge
Verschickungskinder: Das waren die Kinder, die vor allem in den 50er und 60er Jahren zur Erholung aus der Stadt aufs Land geschickt wurden. Weil sie zu dick, zu dünn, zu blass waren. Weil sie Asthma, Tuberkulose oder Neurodermitis hatten. Eine Art Kur in Kliniken an der Nordsee oder in den Bergen sollte da helfen.
Das klingt zwar nach einem tollen Konzept – Erholungsurlaub für kranke Kinder. Aber in den Kurheimen wurden Kinder oft schikaniert und misshandelt. 8 bis 12 Millionen Kinder wurden insgesamt in mitunter schreckliche Heime geschickt und kamen nicht selten krank und traumatisiert wieder nach Hause.
Dass diese schlimmen Missstände bekannt werden, ist auch den Recherchen der Journalistin Lena Gilhaus zu verdanken. Als ihr Vater von seiner Verschickung erzählte, begann sie zu recherchieren und deckte haarsträubende Missstände auf. Was sie herausgefunden hat, hat sie in dem Buch „Verschickungskinder - Eine verdrängte Geschichte“ aufgeschrieben und berichtet bei einbiszwei darüber.
LINKSAMMLUNG:
Website von Lena
Lena Gilhaus | Freie Journalistin
Das Buch „Verschickungskinder - Eine verdrängte Geschichte“
Kiwi-Verlag | Lena Gilhaus – Verschickungskinder
Doku „Verschickungskinder“ von Lena Gilhaus (2023)
ARD Mediathek | Verschickungskinder: Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren
Interview mit Lena Gilhaus in der taz
taz | Journalistin über Kinderverschickung | „Man hätte die Akten finden können“
Intensiv mit dem Thema beschäftigt sich der Verein "Initiative Verschickungskinder e.V.":
https://verschickungsheime.de/