PODCAST | Folge 7 | Prof. Dr. med. Sibylle Winter

„Wenn das Kind noch nicht mobil ist, wenn es nicht krabbelt - dann ist eigentlich jedes Hämatom klärungsbedürftig. Woher soll das denn kommen?”

Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ein Thema, vor dem viele am liebsten Augen und Ohren verschließen würden. Und genau das ist das Problem, sagt Prof. Dr. med. Sibylle Winter. Sie leitet die Kinderschutzambulanz an der Charité in Berlin und erlebt in ihrer Arbeit täglich, wie wichtig es ist, dass wir nicht wegschauen, sondern handeln.




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Sibylle Winter [00:00:00] Wenn ich in die Rheumatologische Ambulanz gehe, kläre ich, ob ich Rheuma habe, ja oder nein. Und da kläre ich, ob sexualisierte Gewalt vorliegt, ja oder nein. Soweit es möglich ist. Wir können auch nicht alles klären, muss man auch sagen, ungefähr 20 bis 25 Prozent bleiben auch unklar.

Nadia Kailouli [00:00:16] Hey, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Einbiszwei? Ja genau, ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast spreche ich mit Expertinnen, Journalistinnen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte - wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei, schön, dass du uns zuhörst.

Nadia Kailouli [00:01:01] Sexualisierte Gewalt an Kindern bleibt auch heute noch viel zu oft im Verborgenen, wird nicht gesehen oder erkannt. Auch wenn es da Lehrer*innen oder Kinderärzt*innen gibt - es ist schwer zu merken, wenn sich das Kind immer mehr zurückzieht oder zu erkennen, woher dieser blaue Fleck am Körper auf einmal herkommt. Und dann kann es natürlich auch vorkommen, dass wenn man Veränderungen an einem Kind feststellt, man oft einfach wegschaut. Vielleicht, weil man nicht den Mut hat, nachzufragen oder unsicher ist. Warum Kinderschutz Ambulanzen deswegen so wichtig sind, darüber wollen wir heute sprechen. Und dafür haben wir uns Professor Dr. Sibylle Winter eingeladen. Sie ist Professorin für Traumafolgen und Kinderschutz und ist mit dieser Professur so ziemlich die einzige Ärztin in Deutschland, die sich diesem Thema widmet. Sie ist Leiterin der Kinderschutz Ambulanz der Charité in Berlin und beschäftigt sich jeden Tag mit Kindern, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Hallo, Frau Winter.

Sibylle Winter [00:01:52] Hallo.

Nadia Kailouli [00:01:52] Hallo. Bevor wir erklären, was eine Kinderschutz Ambulanz ist, möchte ich gerne mit ihnen erstmal darüber sprechen, was sie eigentlich sind, weil Professur für Traumafolgen und Kinderschutz ist etwas, da denkt man sich jetzt so, hä, was ist das eigentlich? Können sie uns einmal erklären, was sie genau machen?

Sibylle Winter [00:02:09] Ja, ich habe den Bereich Kinderschutz an der Charite aufgebaut, mit verschiedenen Institutionen. Eben mit der Trauma Ambulanz seit 2012, die macht die psychotherapeutische Versorgung, dann mit der Kinderschutz Ambulanz 2016, die macht Klärung von Gewaltformen, also körperliche Gewalt, emotionale Gewalt, sexualisierte Gewalt und oder Vernachlässigung. Und jetzt haben wir ja letztes Jahr das Childhood Haus noch aufgebaut, was dann die juristische Seite auch noch mit berücksichtigt.

Nadia Kailouli [00:02:36] Jetzt haben viele Menschen Kinderschutz Ambulanz noch nie gehört und fragen sich was ist das? Was ist genau eine Kinderschutz Ambulanz?

Sibylle Winter [00:02:44] Genau, da würde ich als Allererstes sagen wollen, das ist regional sehr unterschiedli. Jetzt wie an der Charité, klar, die Leitung ist Kinder und Jugendpsychiater in meiner Person, aber ich habe versucht, alle Disziplinen reinzuholen, weil ich auch meine Grenzen kenne und das würde ich mir wünschen, dass das auch in anderen Kinderschutz Ambulanzen nachgeahmt wird, sozusagen.

Nadia Kailouli [00:03:05] Jetzt wollen wir heute vor allem über sexualisierte Gewalt an Kindern sprechen. Können sie uns einen Einblick geben, wie dahingehend ihre Arbeit aussieht in der Kinderschutz Ambulanz?

Sibylle Winter [00:03:15] Ja, also es geht ja um Abklärung, sozusagen. Also liegt eine körperliche oder sexualisierte oder emotionale Gewalt vor - und oder Vernachlässigung - in Ihrem Fall, sie haben jetzt ganz speziell nach sexualisierter Gewalt gefragt. Ja, wie gehen wir vor? Der Zuweiser ist meistens das Jugendamt. Also 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, kommen über das Jugendamt. Das heißt, es würde in Berlin so laufen, wenn ein Verdacht entsteht - wo auch immer, Kita, Schule - dann würde das dem Jugendamt mitgeteilt. Und das Jugendamt sagt okay, der Fall ist so komplex und so unübersichtlich - dafür sind wir eigentlich geplant. Jetzt nicht für jeden Fall, das würden wir gar nicht schaffen, sondern für komplexe Fälle. Der geht jetzt in die Kinderschutz Ambulanz. Und dann machen wir natürlich, also, optimalerweise im Einverständnis mit den Sorgeberechtigten, es gibt aber auch die Möglichkeit, durch eine Inobhutnahme diese Untersuchung, also nur die Untersuchung quasi auch ohne Einverständnis der Sorgeberechtigten durchzuführen. Die Inobhutnahme ist dann wirklich nur für diese zwei Stunden oder drei Stunden, je nachdem. Dann planen wir, gemeinsam mit den Sorgeberechtigten, im optimalen Fall, einen Erst-Termin. Das kommt dann darauf an, wenn die Eltern zusammenleben, dann gerne mit beiden Eltern und Kind oder sonst halt, bei getrennt lebenden Eltern, dann eben erst ein Elternteil und dann das andere Elternteil.

Nadia Kailouli [00:04:37] Und man sagt dann aber auch direkt, hier besteht der Verdacht zur sexuellen Gewalt an diesem Kind und wir müssen uns das jetzt hier anschauen.

Sibylle Winter [00:04:46] Genau. Also Kinderschutz Ambulanz ist ja das Wort schon implizit, sozusagen. Wir haben am Anfang diskutiert, ob man es vielleicht anders nennen sollte, aber letztlich glaube ich, dass ist eins unserer Hauptprobleme in Deutschland, dass wir nicht darüber sprechen. We need to talk, genau darüber. Und zwar in jeder Einrichtung. Und deshalb, glaube ich, ist es gut, dass wir sagen, es ist eine Kinderschutz Ambulanz und hier geht es um Klärung. Es ist ja keine Vorverurteilung, es ist eine Klärung. Wenn ich in die Rheumatologische Ambulanz gehe, kläre ich, ob ich Rheuma habe, ja oder nein. Und da kläre ich, ob sexualisierte Gewalt vorliegt, ja oder nein. Soweit es möglich ist. Wir können auch nicht alles klären, muss man auch sagen, ungefähr 20 bis 25 Prozent bleiben auch unklar.

Nadia Kailouli [00:05:32] Ich stelle mir das sehr schwierig vor - ich bin keine Mutter, ich habe keine Kinder - aber ich stelle mir das sehr schwierig vor, wie das für Eltern sein muss, wenn das Jugendamt vor der Tür steht und sagt, okay, wir müssen jetzt hier einen Termin vereinbaren, weil der Verdacht naheliegt, dass Ihr Kind sexuelle Gewalt erfahren hat. Wir brauchen dazu jetzt ihre Zustimmung.

Sibylle Winter [00:05:51] Ja, ich sage nicht, dass das einfach ist. Aber ich glaube, also ich würde mir wünschen, dass nicht so viele Emotionen immer im Spiel sind und dass wir wirklich ganz in Ruhe klären. Es sind ja manchmal Äußerungen von Kinder, die in der Kita getätigt werden, oder die den Eltern zugetragen werden. Und man muss einfach Äußerungen sich erst mal genau angucken. Also ich versuche immer, die Emotion ein Stück rauszunehmen, weil gerade bei sexualisierter Gewalt - also die Emotionen sind so schnell ganz weit oben, dass niemand mehr wirklich, wie soll ich sagen, klar nach vorne schauen kann. Und deshalb, finde ich, geht es da immer darum, erst mal zu sagen, wir klären das in Ruhe, wir gucken uns das jetzt in Ruhe an und wichtig ist, dass wir halt zusammen arbeiten und dass sie kommen. Und die Klärung ist ja so oder so wichtig. Wenn man es bestätigt, ist es wichtig - wenn jetzt in der Kita irgendwas vorgefallen ist, dann müsste man ja da Konsequenzen ziehen, oder natürlich auch, wenn es im häuslichen Bereich ist. Und wenn man es aber dann auch nicht bestätigt, ist das auch total wichtig für das Kind, weil dann kann es zum Beispiel in der Kita ohne Probleme bleiben, weil es ja sein Umfeld ist.

Nadia Kailouli [00:06:58] Viele wollen das gar nicht wahrhaben. Also das emotionalisiert ist das Eine, so oh Gott, oh Gott. Das Andere ist, dass man sich denkt, ach, doch nicht bei uns, also doch nicht in unserer Kita, doch nicht mein Onkel, und macht daraus so ein "Das passiert bestimmt bei anderen, aber nicht bei uns."

Sibylle Winter [00:07:16] Ja, das sind die beiden Probleme. Das eine ist der Aktionismus, also emotional aufgewühlt sein, und das andere ist wegschauen, verleugnen, bagatellisieren. Da gibt es ja ganz viele Untersuchungen, dass Kinder auch sieben Erwachsene ansprechen und nichts passiert und alle sagen, ja, das hat das Kind nur so erzählt, das müssen wir nicht so ernst nehmen.

Nadia Kailouli [00:07:36] Jetzt ist das eine, dass man sich die Emotionalität von den Eltern erst mal, ja, die hilft einem erst mal nicht, weil sie wollen aufklären. Da kann man vielleicht ganz sachlich dann mit den Eltern drüber sprechen, die verstehen das dann irgendwann auch. Aber wie versteht denn dann das Kind? Es hat weder Husten noch Schnupfen und muss trotzdem zu Frau Doktor und wird untersucht.

Sibylle Winter [00:07:54] Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Ich glaube, da sollten wir vielleicht den Eltern auch noch mal ein bisschen mehr an die Hand geben, weil die sagen dann meistens, wir gehen zum Kinderarzt. Also, wenn man dann noch mal genau nachfragt, also das wäre noch mal ein wichtiger Punkt auch, dass man den Eltern was an die Hand gibt, wie sie das auch den Kindern deutlich machen können, wo gehen wir denn jetzt eigentlich hin? Also ich denke, die Kinder werden tendenziell nicht so gut aufgeklärt und das holen wir dann nach. Wir haben so ein Kinderrechte-Plakat, wo dann alle Formen der Kinderrechte dargestellt sind, eben auch die gewaltfreie Erziehung, auch ein Bild zu sexualisierter Gewalt, und sagen, das sind die Kinderrechte und wir sind da um zu schauen, ob das bei dir auch alles so eingehalten wird, sozusagen, und gehen das dann mit denen durch. Ja, ich glaube die Kinder...also wir erleben die Kinder nicht so, dass das die jetzt da so ein riesengroßes Problem haben. Das einzige ist, wenn sie massiv beeinflusst werden, was wir auch erleben. Also wenn sie massiv unter Druck gesetzt werden, dass sie nichts sagen oder dass sie was Falsches sagen. Das erleben wir auch.

Nadia Kailouli [00:09:00] Wie gehen sie damit um? Weil, klar, das größte Vertrauen hat das Kind zu seinen Eltern oft. Wie kriegt man ein Kind dann dazu, sich trotzdem zu öffnen, ohne dass das Kind das Gefühl bekommt, ich hinterher jetzt meine Eltern.

Sibylle Winter [00:09:14] Also wenn es weiterhin bei den Eltern lebt - und wir haben ja nur einige Termine, es ist ja eine Ambulanz, wir haben meistens ein, zwei, maximal drei Termine mit den Familien - dann haben wir da eigentlich keine Chance. Wir können das nur beschreiben, dass das unser Eindruck ist. Und dann natürlich weiterführende Maßnahmen empfehlen, sodass eine Vertrauensperson "installiert" wird, sozusagen, die dann mit dem Kind noch mal anders in Kontakt kommen kann. Wenn wir natürlich schwerwiegende Bedenken haben, dass das Kind gefährdet ist, muss das natürlich noch mal anders verhandelt werden mit dem Jugendamt.

Nadia Kailouli [00:09:50] Vielleicht können sie uns ein bisschen einen detaillierteren Einblick in ihre Arbeit geben. Jetzt wissen wir, okay, eigentlich finden die Kinder den Weg zu ihnen oft nur durchs Jugendamt. Es kommt keiner von sich selbst auf die Idee, ich schicke mein Kind jetzt mal zu ihnen, wenn ich das richtig verstehe, sondern sie arbeiten da Hand in Hand mit den Jugendämtern zusammen.

Sibylle Winter [00:10:07] Es gibt auch die Möglichkeit, dass die niedergelassenen Ärzte uns Kinder schicken. Das wird aber nicht so häufig in Anspruch genommen. Ich denke, da ist eben auch die Schwierigkeit, dass es für die niedergelassenen Ärzte nicht so einfach ist, das zu thematisieren. Deshalb schicken sie lieber eine Erste Hilfe und dann kommen die über die Erste Hilfe zu uns. Das geht auch. Das sind die anderen 30 Prozent. 70 Prozent Jugendamt, 30 Prozent laufen quasi von den Niedergelassenen über die Erste Hilfe dann zu uns.

Nadia Kailouli [00:10:35] Wie kommen die Jugendämter überhaupt an die Familien, wo sie Verdacht schöpfen?

Sibylle Winter [00:10:40] Ja, meistens Kita, Schule. Oder eben dann die Situation, was wir eben auch haben, hoch strittige Eltern, dann von einem Elternteil, eben das Elternteil, was etwas vermutet.

Nadia Kailouli [00:10:54] Wenn sie dann ein Kind bei sich haben, können sie uns erklären, was dann Ihre Aufgabe ist? Wie gehen sie da vor und was erleben sie so alltäglich in der Kinderschutz Ambulanz?

Sibylle Winter [00:11:06] Ja, also das ist schon ein längerer Termin, also mindestens anderthalb Stunden, wo wir natürlich auf der einen Seite erst mal mit den Eltern sprechen und das Kind ist da meistens erst mal auch mit dabei, damit es sich anwärmen kann. Das Untersuchungszimmer ist eigentlich ein sehr großes Zimmer, wo es auch eine Spielecke gibt. Dann kann man mit den Eltern erst mal am Tisch sitzen, erst mal ein bisschen Ruhe reinbringen, weil, wie gesagt, die Anspannung ist groß, und wir fangen dann häufig einfach auch an zu sagen, wir machen erst mal die körperliche Untersuchung. Das kennen auch alle, wie beim Kinderarzt. Wir gucken die Kinder wirklich von oben bis unten an, auch genital, um dann erst mal so einen ganz übersichtlichen Ablauf zu machen. Dann versuchen wir das auch zu trennen. Also wir brauchen die Kinder letztlich immer ohne Eltern, dass wir da selber in Kontakt kommen. Das geht natürlich dann auch über das Spiel, je nach Alter. Und wir haben eben sehr, sehr viele sehr kleine Kinder, vier bis sechs Jahre alt, mit denen wir dann erstmal spielen und dann natürlich schon, eben über Plakate und solche Dinge, versuchen, mit denen auch darüber ins Gespräch zu kommen. Und auch, ob sie wissen, wie ihre Körperteile benannt werden. Weil es gibt ja bestimmte Aussagen, die vorgebracht werden. Angeblich hätte das Kind gesagt...dann ist ja die Frage, benutzen sie diese Worte. Also versuchen wir uns erst mal anzunähern. Gibt es überhaupt diesen Wortschatz bei dem entsprechenden Kind, wo eine Aussage getätigt wurde? All diese Dinge. Und wenn uns das dann doch plausibel erscheint, dann machen wir noch mal einen zweiten Termin mit dem Kind mit einer Rechtspsychologin. Also den ersten Termin macht ein Pädiater oder ein Kinderpsychiater. Da haben wir zwei Ärzte für die körperliche Untersuchung und die erste Anamnese sozusagen. Und wenn die Aussage wirklich relevant ist und wenn das uns wichtig erscheint, dann ist ja die Aussage des Kindes entscheidend, auch für die Beurteilung insgesamt. Und deshalb kommt dann eine Psychologin, die dann versucht, das noch mal genauer zu fassen und zu dokumentieren. Die andere Seite ist, wenn in der körperlichen Untersuchung was auffällt, also bei der Scheide zum Beispiel, dann holen wir im zweiten Termin noch mal eine Kinder-Gynäkologin rein. Das sind im Prinzip die Dinge, die wir als Instrumentarium haben. Natürlich gibt es dann noch dieses ganze Thema der Aussage-Genese. Wann hat wer was gehört und wie ging es dann weiter? Weil die Schwierigkeit ist, manche Kinder sagen eben etwas mit drei Jahren, das ist irgendwie völlig undefinierbar aber macht Fantasien und dann gibt es eben die Situation, entweder von Erziehern oder eben auch von Eltern, dass sie dann das Kind weiter befragen. Und am Ende gibt es eine ganz veränderte Aussage, die die mit dem, was ursprünglich mal war, überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das ist eine Situation und das muss man dann ganz genau analysieren.

Nadia Kailouli [00:13:57] Wenn Sie jetzt ein Kind befragen und ein Kind ihnen Sachen schildert, wo sie dann als als Ärztin und Therapeutin feststellen, ah, okay, wir müssen da noch weitergehen. Was sind so ihre Erfahrungen? Also aus welchen Bereichen kommt diese sexualisierte Gewalt? Ist es innerhalb der Familie passiert? Ist es in der Kita passiert? Ist es bei den Nachbarn passiert? Was ist da ihre Erfahrung?

Sibylle Winter [00:14:25] Na ja, zwei Drittel sind intrafamiliär und Nahbereich kann man sagen. Und ein Drittel ist Fremdtäter.

Nadia Kailouli [00:14:32] Innerfamiliäre heißt dann Mutter, Vater, Onkel?

Sibylle Winter [00:14:36] Genau. Und Nahbereich sind dann eben Erzieher oder Sportvereine, also Bereiche, wo die Kinder eben auch sind.

Nadia Kailouli [00:14:46] Wie bekommen sie das denn hin bei ihrer Untersuchung dem Gefühl einen gesicherten Raum zu geben? Weil das Kind muss sich ausziehen, sie untersuchen das Kind, eben auch genital - wie geht man damit um, dass das Kind weiß, ich bin aber jetzt hier sicher, es ist nicht so wie das, was mir eigentlich vor ein paar Monaten oder paar Wochen passiert ist. Da musste ich mich nämlich auch ausziehen, sondern hier kann ich mich sicher ausziehen, hier passiert mir nichts. Wie vermittelt man das einem Kind?

Sibylle Winter [00:15:14] Ja, viel Transparenz, viel Erklären, viel Zeit, natürlich Türen, die zu sind. Spielerisch, Einbezug, also natürlich auch nur auf freiwilliger Basi, also wir zwingen kein Kind zu irgendetwas. Ja, und ich glaube, dass Kinder schon auch ein Gespür dafür haben, ob man das tut, um etwas zu klären, um sie zu unterstützen oder ob man es tut, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich glaube, da haben die Kinder ein ganz gutes Gespür für.

Nadia Kailouli [00:15:45] Jetzt sprechen wir die ganze Zeit von dem Überbegriff sexualisierte Gewalt. Und unter sexualisierter Gewalt kann man sich ganz viel oder auch ganz wenig vorstellen. Können sie uns konkretere Einblicke dahin geben, was sie erleben und was die Kinder vor allem erlebt haben?

Sibylle Winter [00:16:03] Ja, das ist sehr, sehr unterschiedlich. Es gibt ja die sogenannten Hands-off-Taten und die Hands-on-Taten. Hands-off ist ja so was wie Exhibitionismus oder Anstiften zu irgendwelchen sexualisierten Handlungen, solche Dinge, und es gibt die ganzen Missbrauchs-Abbildungen ja auch - wobei, da sind ja auch Kinder aktiv beteiligt, dann wieder Hands-on, deshalb finde ich das immer ein bisschen schwierig. Und die Hands-on-Taten, da geht es ja von Berührungen am Rücken, die aber unangenehm sind, weil die Kinder das spüren, dass es nicht um sie geht. Es geht nicht darum, dass man sie massieren möchte oder so, weil sie gerade verspannt sind oder Stress haben, sondern es geht ja darum, dass der Täter, dass seine Bedürfnisse im Vordergrund stehen. So was habe ich schon gehört, am Rücken, mal ein T-Shirt hochziehen. Und dann geht es ja weiter mit Oberschenkel, innere Seite Oberschenkel bis hin dann eben auch unter die Hose, mit dem Finger...das sind die, also jetzt bei den Kindern. Bei den Jugendlichen, ist ja ganz klar, da gibt es auch dann Geschlechtsverkehr, da ist dann mehr noch diese penetrative Seite zu berücksichtigen. Aber im Kinderbereich ist das doch eher meistens dann eben mit Finger.

Nadia Kailouli [00:17:26] Wenn sie Verdachtsfälle haben, wo sie eben nicht konkret sagen können, ja, hier liegt ein sexueller Missbrauch vor, sondern nur den Verdacht, wie geht dann ihre Arbeit weiter? Sie können ja das Kind dann nicht so lange bei sich haben, um Vertrauen aufzubauen, weil sie sind ja in der Ambulanz, wie sie eben sagten, sondern sie müssen dieses Kind dann wieder gehen lassen.

Sibylle Winter [00:17:49] Na ja, also wenn wir wirklich jetzt den Verdacht haben, dass wir das Kind dahin zurückschicken, wo es gegebenenfalls weiter sexuell missbraucht wird, dann müssen wir das Jugendamt informieren und wir haben auch schon vom Jugendamt aus quasi Kinder dann in Obhut nehmen lassen. Also wir können das ja nicht, aber wir sagen dann, wir können dieses Kind jetzt nicht nach Hause gehen lassen. Und das andere ist, dass wir dann schon den Übergang ins Childhood Haus präferieren, weil wir ja dann da Polizei und Justiz reinholen können.

Nadia Kailouli [00:18:18] Wie ist das für sie, wenn sie vor Eltern sitzen und das Kind untersucht haben und den Eltern dann zu sagen, ich habe ihr Kind jetzt untersucht, wir waren auf verschiedenen Ebenen und wir haben festgestellt, ihr Kind wurde sexuell missbraucht. Wie spricht man dann weiter? Da sitzen dann Mama und Papa vor ihnen und sie sind sich ihrer Arbeit sicher, was sie da festgestellt haben.

Sibylle Winter [00:18:44] Ja, also ich würde halt immer versuchen zu vermitteln, dass das jetzt natürlich keine schöne Mitteilung ist, aber dass es wichtig ist, dass wir sicher sind und dass wir jetzt die nächsten Schritte gehen, zusammen. Dass das Kind psychotherapeutisch Unterstützung bekommt, die Eltern natürlich dann inkludiert, dass wir Schutzmaßnahmen ergreifen und dass über Polizei-Anzeige verhindert werden kann, dass der Beschuldigte dann gegebenenfalls auch noch mal andere Kinder sexuell missbraucht.

Nadia Kailouli [00:19:19] Haben Eltern oft - also jetzt gehen wir mal davon aus, dass die Eltern eben nicht die Täter sind, nehmen wir mal das als Beispiel. Die Eltern sind eben nicht die Täter, aber erfahren, mein Kind hat das erlebt, das wurde meinem Kind zugefügt. Helfen die Eltern in den Ermittlungen? Können die helfen, sagen, ah, deswegen war Onkel Jürgen oder Tante Brigitte so oft bei uns?

Sibylle Winter [00:19:38] Das ist sehr unterschiedlich, das kommt immer auf den Verwandtschaftsgrad an. Also ich finde, je enger also gerade die Großväter, also die Großmütter und Großväter, sind ja meistens Großväter, da wird es schon schwierig. Bei Onkel finde ich es schon noch einfacher. Also, sie müssen sich ja dann da ein Stück distanzieren. Und der wichtigste Punkt ist natürlich, sie können selber, sie dürfen selber nicht betroffen sein, weil sie dürfen nicht vergessen, dass es transgenerationale Wege gibt. Also wenn der Großvater den Vater, dann der Vater die Tochter und so weiter. Das wird ja oft auch weitergegeben. Und wenn so was noch mit eine Rolle spielt, ist es dann extrem schwierig, dass man die Eltern zur Mitarbeit bewegt. Bei der erweiterten Familie auch. Aber gerade wenn es jetzt um Fremd-Täter geht, klar versuchen sie dann da auch mit zu wirken und wie gesagt auch manchmal beim Onkel oder beim Freund der Familie - das ist ja auch ganz häufig, der Freund der Familie, der öfters ein und ausgeht und entlastet, die Eltern entlastet mit der Kinderbetreuung - also da erlebe ich das schon hilfreich. Also wenn sie dann glauben. Und das ist halt ein Weg. Wenn sie dem Kind glauben. Wir wissen, bei intrafamiliärer Gewalt ist es extrem schwer. Also bis jemand das wirklich in Worte fassen kann, insbesondere, wenn das in der frühen Kindheit startet, das dauert sehr, sehr lange und das ist eigentlich so eine wichtige Aufgabe, finde ich, in der Kinderschutz Ambulanz, dass wir eben wirklich sagen können, wir haben jetzt alles geprüft, wie sich das alles entwickelt hat, was ihr Kind gesagt hat, was wir alles wissen. Und wir sind uns ziemlich sicher. Und deshalb müssen wir jetzt die Konsequenzen ziehen. Wir schaffen das zusammen, wir gehen die Wege zusammen, aber es ist jetzt Schutz wichtig. Das heißt, es kann nicht sein, dass ihr Kind da jetzt bei Onkel XY dann nochmal übernachtet. Wir müssen gucken, dass das Kind psychotherapeutisch betreut wird. Und ich würde sagen, eine Anzeige wäre auch wichtig, weil sonst gibt es überhaupt kein Stopp, kein Halt. Und das ist natürlich immer ein Prozess, der nicht so ganz einfach ist. Deshalb Childhood Haus, deshalb Unterstützung, genau in diesen Prozessen - Polizei, Vernehmung, Ermittlungsrichterliche Vernehmung - damit das für die Familien so ein bisschen überschaubarer wird, dass sie da eine Unterstützung und Begleitung bekommen, das ist halt extrem wichtig.

Nadia Kailouli [00:21:50] Sie sagten gerade den Satz, wenn sie dem Kind glauben. Darauf habe ich mich gefragt, kann ein Kind so etwas überhaupt erfinden? Kann ein Kind erfinden, ich wurde angefasst oder das und das wurde mit mir gemacht.

Sibylle Winter [00:22:04] Ja, also, sage ich mal, ganz unterschiedlich. Wenn sie ein geistig behindertes Kind haben und es hat, so hatte ich einmal einen Fall, Aufklärungsunterricht, kann schon sein, dass das Kind etwas aufschnappt aus diesem Aufklärungsunterricht und es dann auch in Sätze formt und das dann so rüberkommt, wie wenn es selbst sexuell missbraucht wurde. Aber das heißt ja nicht, dass das Kind lügt oder dass das Kind fantasiert oder irgendwie, sondern das Kind bringt Sätze in einen Zusammenhang, was es gar nicht so richtig verstanden hat, sage ich jetzt mal so. Und so ist es manchmal auch bei kleineren Kindern. Ich will das nicht ausschließen, dass es auch Jugendliche gibt, die behaupten, sie sind vergewaltigt worden und es war dann doch anders. Das ist aber auch oft aus Angst, weil sie Geschlechtsverkehr hatten und nicht wissen, wie Eltern vielleicht damit umgehen, solche Fälle hatten wir auch schon. Aber ich gehe auch erst mal immer davon aus, was die Kinder mir sagen hat Hand und Fuß. Aber es gibt Stolpersteine, ja, deshalb ist die kognitive Befähigung sehr wichtig, dass man das ein Stück einschätzt. Also, wenn jemand geistig behindert ist, dann macht es natürlich schon einen Unterschied, wie er die Dinge auch einordnen kann. Und das andere ist das große Thema der Beeinflussung. Also wer sagt wem was, auch vielleicht unbewusst durch suggestive Befragungen. Das ist eigentlich ein ganz, ganz großes Dilemma.

Nadia Kailouli [00:23:28] Also können wir auf jeden Fall schon mal festhalten, egal wie und in welcher Situation ein Kind sich dahingehend äußert, sei es der Erzieherin, dem Erzieher, seinen Eltern gegenüber. Das sollte man per se erst mal ernst nehmen. Woher weiß ich denn, ah, da kann ich hingehen? Abgesehen jetzt vom Kinderarzt. Und wir wissen ja, wie es ist. Man ruft da an und dann hat man einen Termin in fünf Tagen oder so und man denkt sich, ach Quatsch, vielleicht hat ja auch nur geträumt, ich weiß es nicht. Wer ist denn der oder diejenige, die sich damit auskennt? Wenn mein Kind oder wenn ein Kind in einer Gruppe sagt, ich wurde angefasst und zwar hier?

Sibylle Winter [00:24:03] Ja, also ich glaube, das ist, finde ich, einfach ein Dilemma, dass es nicht standardisiert überall deutschlandweit gleich ist. Was wir ja hier haben in Deutschland ist die Medizinische Kinderschutz-Hotline. Das ist aber jetzt für medizinische Fachkräfte, da können jetzt Eltern nicht anrufen. Ansonsten ist es wirklich ein Dilemma, weil es ist eben sehr unterschiedlich, wo man hingeht. In Berlin, würde ich sagen, wäre eine gute Anlaufstelle wirklich die Kinderschutz Ambulanz der Charité. Also jetzt nicht weil ich sie leite, sondern grundsätzlich, weil wir uns sehr, sehr viel und ausführlich damit beschäftigt haben, um erst mal aktuell Spuren zu sichern. Das ist ja der ganze medizinische Bereich, darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Also wirklich Spurensicherung zu machen, auch medizinische Versorgung, Verletzungen, Infektionen, die sich vielleicht dadurch ergeben. Und so weiter. Da machen wir uns viele Gedanken und haben SOPs entwickelt, Interview-Leitfäden und was weiß ich. Aber das ist in München ganz anders, oder in Hannover oder in Hamburg. Optimal wäre, dass der Kinderarzt zum Beispiel wirklich sich regional schlau macht. Das ist ja der erste Ansprechpartner, insofern fände ich das nicht verkehrt, dort anzurufen und der müsste aber dann wissen wohin. Ja, und auch der ist ja nur tagsüber da. Also Vergewaltigung findet im Normalfall, also wir haben 50 Prozent der Fälle nachts und am Wochenende.

Nadia Kailouli [00:25:22] Jetzt hatten sie gerade die Spurensicherung angesprochen. Die soll nicht zu kurz kommen, weil die ja auch sehr, sehr wichtig ist in ihrer Arbeit. Können sie dazu ausführlicher noch mal erzählen? Also ich kann mir zum Beispiel bei bei Jugendlichen eher vorstellen, dass wenn denen was passiert ist, was sexualisierte Gewalt und eine Vergewaltigung ist, dass man alle Spuren eigentlich von sich wegwischen will. Man möchte eigentlich diesen fremden Körper, der nichts an meinem Körper eigentlich tun dürfte, den will man weghaben. Dabei ist es ja eigentlich ganz wichtig, dass man direkt zu ihnen kommt, oder?

Sibylle Winter [00:25:53] Genau! Und nicht duscht und nicht die Kleidung wechselt. Also Wechselkleidung schon dabei haben, aber nicht wechseln. Ja, das ist extrem wichtig. Eigentlich sofort kommen. Wir sagen innerhalb von 72 Stunden, das ist jetzt drei Tage - also wenn, dann wirklich sofort, damit man dann eben auch duschen kann und sich die Kleider wechseln kann. Ja, das ist extrem wichtig. Also wenn es um Taten, also wenn es Berührungen gab, gegebenenfalls dann auch ungeschützten Geschlechtsverkehr, Ejakulat, das ist dann wichtig.

Nadia Kailouli [00:26:25] Ich möchte jetzt aber noch mal auf einen Punkt kommen, den viele auch nicht hören wollen, und zwar was das dann mit einem Menschen macht - wenn nicht gleich direkt psychisch, das natürlich sowieso, die Folgen - aber welche Untersuchungen dann stattfinden müssen, um vielleicht irgendwie Folgeerkrankungen, Geschlechtskrankheiten oder so was auszuschließen?

Sibylle Winter [00:26:44] Also gut, also das eine ist Schwangerschaft, immer bei ungeschützten Geschlechtsverkehr, dann Hepatitis B, HIV und dann gibt es eben auch noch Chlamydien, Gonokokken, Treponema Pallidum, die angeguckt werden sollten. Also da machen wir immer 14 Tage nach dem Tatereignis machen wir da eine Nachuntersuchung, ob dann eine dieser Geschlechtskrankheiten vorliegt.

Nadia Kailouli [00:27:08] Wie vermitteln sie das dann dem Patienten oder der Patientin?

Sibylle Winter [00:27:11] Na ja, wir machen es eigentlich so, dass wir gleich am Anfang alles darlegen, was jetzt wichtig ist. Es ist ja auch nicht für jeden alles wichtig. Es kommt auch ein bisschen darauf an, wie alt war der Täter, also der Beschuldigte, der vermeintliche Täter? Was spielt da alles eine Rolle? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit der Hepatitis B? Da sind eigentlich die Kinderärzte immer hinterher. Bei HIV sagen sie  die Durchseuchungsrate ist relativ gering hier in Deutschland. Pille danach sind die ja auch eher großzügig. Und bei diesen genital übertragbaren Infektionskrankheiten wie Chlamydien, Gonokokken und so weiter, da ist es so, dass jetzt die Kinder-Gynäkologin wirklich mir gesagt hat, ein Viertel der Fälle haben einen positiven Befund. Ich meine, das muss nicht vielleicht von der aktuellen Vergewaltigung, sondern vielleicht auch von anderen sexuellen Aktivitäten stammen. Aber das finde ich schon eine relativ hohe Durchseuchungsrate und das sollte ja dann auch behandelt werden.

Nadia Kailouli [00:28:07] Können sie uns eine Zahl geben, von wie viel Patientinnen und Patienten wir eigentlich sprechen, von wie viel Kindern wir sprechen? Die Kinderschutz Ambulanz gibt es noch nicht so lange, seit 2016. Kommen jeden Tag Kinder, kommen am Wochenende mal zwei, also können sie uns irgendwie eine Zahl an die Hand geben, um die Dimension zu verstehen?

Sibylle Winter [00:28:26] Ja, also wir hatten immer 130 Vergewaltigungsfall in der Ersten Hilfe. Das ist jetzt auf 200 gestiegen und die letzte Info war zwei pro Tag. Also da gibt es nach Corona auf jeden Fall einen Effekt. Und in der Kinderschutz Ambulanz, das sind ja unabhängig davon ganz andere Kinder in der Kinderschutz Ambulanz, die kommen da zum Teil hin, aber auch nicht alle. Die versuchen wir ja vor allem ins Childhood-Haus überzuleiten, weil da Polizei schon drin ist. In der Kinderschutz Ambulanz sind so 350 pro Jahr. Jetzt. Also war nicht von Anfang an so viele, aber jetzt.

Nadia Kailouli [00:29:01]  Und von diesen 350, in wie vielen Fällen, grob geschätzt, bestätigt sich ein Fall?

Sibylle Winter [00:29:07] Genau, da muss ich jetzt mal direkt drüber nachdenken. Ich denke mal, ungefähr die Hälfte, würde ich sagen, und die andere Hälfte ist dann...also quasi die Hälfte wiederum, 25 Prozent ausgeschlossen, 25 Prozent unklar.

Nadia Kailouli [00:29:23] Wie groß ist ihre Sorge um die Dunkelziffer?

Sibylle Winter [00:29:26] Sehr hoch, sehr hoch. Wir haben ja die retrospektiven Befragungen, Ärzteblatt, wo man letztlich ja sagen muss, dass jeder Dritte insgesamt in irgendeiner Form emotionale, körperliche oder sexualisierte Gewalt und oder Vernachlässigung erfahren hat. Und bei sexualisierter Gewalt sage ich immer jeder Zehnte. Also die Dunkelziffer - bei uns kommen wirklich nur komplexe Fälle an, tendenziell, wo Jugendämter sagen, da brauchen wir eure Unterstützung, oder wo es eben, ja, wirklich sichtbare Befunde gibt, die wir beurteilen sollen. An der Scheide, am Körper, wie auch immer.

Nadia Kailouli [00:30:06] Muss man bei jedem blauen Fleck schon Alarm schlagen, wenn man zum Beispiel auch Kinderarzt oder Kinderärztin ist? Dann kommt ein Patient so zur Zwei-Jahres-Untersuchung und man stellt fest, da am Oberschenkel sind komische blaue Flecken. Muss ein Arzt da direkt sagen, oh Moment mal, ich gebe das Kind lieber weiter in die Kinderschutz Ambulanz?

Sibylle Winter [00:30:27] Na ja, also wenn das Kind prämobil ist, also wenn das Kind noch nicht krabbelt, wenn er sich noch nicht fortbewegen kann, dann ist eigentlich jedes Hämatom klärungsbedürftig. Weil woher soll das kommen? Fragezeichen. Wenn das Kind allerdings selber unterwegs ist, dann kann natürlich schon auch mal ein Hämatom unfallbedingt sozusagen entstehen. Oberschenkel würde mich jetzt, also, ja ist auch nicht so schön...also Unterschenkel ist eigentlich so das normale, das sind die Spielplatz-Verletzungen oder natürlich auch an der Stirn, am Ellenbogen. Also was nicht so schön ist, ist am Po, am Rücken, am Ohr, Hals, Gesicht und natürlich auch Genital. Oberschenkel finde ich ist irgendwo dazwischen, aber da kann man sich natürlich auch mal unfalltechnisch verletzen. Aber normalerweise kriegen die das ja mit, wenn man ein Hämatom hat, das tut ja auch weh. Also kann man fragen, wo bist du denn da hingefallen? Überlegen sie sich mal, meistens haben sie es mitgekriegt, dass sie da irgendwo angestoßen sind. Und so können die Kinder das ja dann auch sagen. Und wenn sie es dann nicht sagen können, dann muss man schon ein bisschen hellhörig werden. Aber das Wichtigste ist vor allem die Hämatome bei den ganz Kleinen.

Nadia Kailouli [00:31:39] Frau Winter, ich finde, sie haben uns sehr wichtige und eindringliche Eindrücke gegeben in ihrer Arbeit, wie wichtig diese Arbeit ist und dass wir viel, viel mehr Anlaufstellen wie die Kinderschutz Ambulanz brauchen. Zum Schluss würde ich trotzdem noch mal ganz persönlich auf sie kommen wollen. Sie sind Leiterin der Kinderschutz Ambulanz, sind täglich mit schweren Fällen konfrontiert. Zum Glück gibt es auch Fälle, die sich dann nicht bestätigen, aber sie haben gerade selber gesagt, die Dunkelziffer macht auch ihnen Sorge. Wie gehen sie abends nach Hause? Wie schlafen sie?

Sibylle Winter [00:32:11] Also wenn ich nicht gut schlafe, kann ich nicht arbeiten. Also, ich muss schon dafür sorgen, dass ich gut schlafen. Ich schlafe wirklich eigentlich immer gut. Also, ich fahre viel Fahrrad. Das tut mir total gut. Zehn Kilometer in die Klinik, zehn Kilometer wieder zurück. Und ansonsten ist Urlaub, abschalten, habe ich jetzt Segeln angefangen. Ich finde, da kann man total abschalten, weil man muss sich auf die Segel-Stellungen konzentrieren, sonst kann das Segelboot gar nicht mehr geradeaus fahren. Was ganz wichtig ist, ist das Team. Ich habe in der Kinderschutz Ambulanz ein Team von ganz kompetenten Mitarbeitern. Wir unterstützen uns gegenseitig, genauso in der Trauma Ambulanz und jetzt im Childhood-Haus versuche ich das eben analog aufzubauen. Also Team, Supervision, dann habe ich quasi so ein Qualitäts-Zirkel, wo ich auch immer wieder schwierige Fälle besprechen kann. Ich habe auch die Klinik im Background, also das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, da habe ich auch neulich einen Fall vorgestellt. Da machen wir dann immer so Team-Fall-Vorstellung und dann habe ich da 30 Leute, die mitdenken. Und Netzwerke, grundsätzlich. Also Kinderschutz kann man nicht alleine machen. Man braucht seine Netzwerke, man braucht seine Gruppen, sonst geht das auch nicht.

Nadia Kailouli [00:33:27] Professor Dr. Sibylle Winter, vielen, vielen Dank, dass sie heute hier sind und dass sie uns einen Einblick gegeben haben in die Kinderschutz Ambulanz der Charité Berlin. Vielen Dank.

Sibylle Winter [00:33:36] Danke auch.

Nadia Kailouli [00:33:38] Ich habe mir gerade gedacht, für viele ist das wahrscheinlich super verstörend gewesen, dass zwei Menschen sich so offen darüber unterhalten, was für Spuren vielleicht irgendwelche Kinder dann an sich tragen, wenn sie zu einer Untersuchung kommen. Aber genau das ist ja das Wichtige, dass wir einen Einblick bekommen in die Arbeit von Frau Dr. Winter, die einem erklärt, hey, wir schauen uns das nämlich ganz genau an und wir müssen uns dann zum Beispiel so einen kleinen Kinderkörper anschauen, um festzustellen, ist hier vielleicht sexualisierte Gewalt passiert? Und, was ich glaube ich ganz wichtig finde, ist halt einfach, dass man sich nicht verschließen darf. Das habe ich eben auch noch mal richtig gemerkt in diesem Gespräch. Man darf sich nicht verschließen. Weil wenn wir anfangen, nicht darüber zu reden, nur weil es so unangenehm ist, tun wir uns allen keinen Gefallen.

Mehr Infos zur Folge

Gerade beim Thema sexualisierte Gewalt sind schnell viele Emotionen im Spiel. Dabei ist es gerade dann, wenn ein Verdacht besteht, wichtig, einen klaren Blick zu behalten und sich dem Fall sachlich zu nähern, sagt Prof. Dr. med. Sibylle Winter. Sie ist Professorin für Trauma-Folgen und Kinderschutz und leitet die Kinderschutzambulanz an der Charité in Berlin. Dort trifft sie in ihrer Arbeit tagtäglich auf Kinder, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist. In der Kinderschutzambulanz müssen sich die Patient:innen einer ganzen Reihe von Untersuchungen und Befragungen stellen – das ist nicht immer leicht, aber dennoch wichtig, um Anzeichen von sexualisierter Gewalt zu erkennen. Sibylle Winter beschreibt was sie in der Kinderschutzambulanz erlebt und welche physischen und psychischen Folgen die Taten für die Kinder haben können. Außerdem bekommen wir einen Einblick in die Arbeit von Childhood-Häusern, die die Aufklärung von sexualisierter Gewalt kindgerechter gestalten möchten.

Im Gespräch mit Nadia Kailouli erklärt Prof. Dr. med. Sibylle Winter wie man sexualisierten Missbrauch an Kindern erkennen, wohin man sich wenden und wie man vor allem mit den Kindern selbst darüber reden, nachfragen und aufklären kann. 

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Die Kinderschutzambulanz ist spezialisiert auf die Abklärung von Kindeswohlgefährdung und kann in Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder eine medizinische Einschätzung geben: https://kinderschutz.charite.de/kinderschutzambulanz/ 

Im Childhood-Haus bekommen Kinder, die sexualisierte Gewalt erlebt haben Hilfe und Unterstützung. Hierbei steht das Kind an erster Stelle, die Versorgung ist gut abgestimmt und multidisziplinär: https://www.childhood-haus.de/ 

Die medizinische Kinderschutzhotline ist ein bundesweites, kostenloses, und 24 Stunden erreichbares Beratungsangebot für Angehörige des Heilberufe, Kinder- und Jugendhilfe, und Familiengerichte bei Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder: http://www.kinderschutzhotline.de 

Hilfe und Informationen zu sexuellem Missbrauch gibt es beim Hilfe-Portal und beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

presse@ubskm.bund.de

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