Sexuelle Gewalt in der Schlagerbranche – was hast du herausgefunden, Caroline Rosales?
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[00:00:01.050] - Caroline Rosales
Eines Tages hatte ich eine Mail in meinem Brieffach von Instagram und da schrieb mir eine Schlagersängerin und sie schrieb: „Mein Name ist so und so. Ich habe keinen Weg gefunden, bislang meine Geschichte zu erzählen. Ich war drei Jahre lang in allen Silbereisen-Shows, in allen Schlagersendungen und hatte mittelmäßigen Erfolg zu einem schrecklichen Preis. Ich wurde sexualisiert, ich wurde objektifiziert und am Ende wurde ich vergewaltigt und ich hoffe, dass ich dir meine Geschichte erzählen kann."
[00:00:29.190] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich Willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kaioluli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missständen und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:52.750] - Nadia Kailouli
Die Welt des Deutschen Schlagers, das ist ein Ort, an dem immerfort geschunkelt wird, wo Herzilein nicht traurig sein muss und wo andauernd die Sonne scheint. Die Welt des Deutschen Schlagers, das ist aber auch ein Ort der sexuellen Übergriffe und Gewalt, sagt die Journalistin und Autorin Caroline Rosales. Zwei Jahre hat sie im Schlager-Business recherchiert und mit über 40 Schlagersängerinnen gesprochen. Sie sagt: „Sexuelle Gewalt in dieser Intensität habe ich nicht erwartet." Ihre Recherchen hat sie in dem Buch „Die Ungelebten" verarbeitet. Darüber und auch über ihr autobiografisches Sachbuch „Sexuell verfügbar", sprechen wir gleich bei einbiszwei. Ich freue mich, dass sie da ist. Dann sage ich: Herzlich willkommen, Caroline Rosales bei einbiszwei.
[00:01:35.270] - Caroline Rosales
Dankeschön.
[00:01:35.890] - Nadia Kailouli
Schön, dass du da bist. Wir reden heute unter anderem über Schlager, aber nicht über die Musik. Es sei denn, du sagst, du bist dadurch über das, was wir gleich sprechen, die totale Musikexpertin der Schlagermusik geworden?
[00:01:47.900] - Caroline Rosales
Nein.
[00:01:48.430] - Nadia Kailouli
Okay, aber hattest du jemals ein Interesse an Schlagermusik?
[00:01:53.020] - Caroline Rosales
Doch, auf jeden Fall. Ich würde vielleicht, wenn man Peter Alexander und diese ganzen Cornelia Froboess Filme zu Schlagern zählt, dann habe ich natürlich schon als kleines Mädchen es wahnsinnig bewundert, dass jemand wie Peter Alexander singen und tanzen gleichzeitig kann und das noch auf einer Showtreppe macht. Und das war für mich das Deutschland meiner Kindheit und irgendwie wollte ich das auch.
[00:02:11.810] - Nadia Kailouli
Singen und tanzen gleichzeitig?
[00:02:12.830] - Caroline Rosales
Ja.
[00:02:13.430] - Nadia Kailouli
Okay. Du machst heute andere Sachen. Du bist Journalistin und Autorin. Du schreibst und recherchierst und hast einen Roman veröffentlicht, der da heißt „Die Ungelebten" und da geht es nämlich um die Schlagerbranche, aber eben nicht um die Musik. Vielleicht magst du selbst kurz sagen, um was es geht.
[00:02:29.930] - Caroline Rosales
In meinem Roman geht es um Missbrauch in der BRD und das betrifft sowohl die Generation der westdeutschen Hausfrauen, die Schlager gehört haben, sowohl aber auch die Schlagerbranche und die Schlagersängerinnen, die oft als Frau zweiter Klasse immer noch heute behandelt werden. Und es ist ein bisschen „Handmaidstale" made in BRD, weil dort eben klar rauskommt, dass sehr viele Frauen auch in der heutigen Gesellschaft quasi keine Rechte haben.
[00:03:00.120] - Nadia Kailouli
Das hört sich jetzt sehr realitätsnah an. Wenn wir aber über einen Roman sprechen, sprechen wir eigentlich um eine Fiktion. Wie passen diese zwei Welten in dieses Buch: Fiktion und Realität? Also wie viel Fiktion ist drin? Wie viel Realität ist drin?
[00:03:15.410] - Caroline Rosales
Na ja, dafür muss ich kurz ausholen, wie ich zu meinem Stoff gekommen bin. Und zwar habe ich vor vier Jahren das Buch „Sexuell verfügbar" geschrieben und das wurde sehr viel gelesen. Ich war damit sehr viel auf Tour und mittlerweile wurde es auch für die ARD als Serie verfilmt. Und durch dieses Buch, da geht es um Missbrauch in der Kindheit und im Erwachsenenalter und wie aus Mädchen Frauen werden die nicht Nein sagen können. Und auf dieses Buch hin hatte ich natürlich sehr viel Resonanz und mir schreiben dann immer noch heutzutage Frauen, die sagen: „Ich habe ähnliches erlebt, wie du." Und eines Tages hatte ich eine Mail in meinem Brieffach von Instagram und da schrieb mir eine Schlagersängerin und sie schrieb: „Mein Name ist so und so. Ich habe keinen Weg gefunden, bislang meine Geschichte zu erzählen. Ich war war drei Jahre lang in allen Silbereisen-Shows, in allen Schlagersendungen und hatte mittelmäßigen Erfolg zu einem schrecklichen Preis. Ich wurde sexualisiert, ich wurde objektifiziert und am Ende wurde ich vergewaltigt und ich hoffe, dass ich dir meine Geschichte erzählen kann." Und ich war dermaßen aufgewühlt und schockiert. Ich habe sie sofort angerufen und wir haben uns getroffen. Wir haben uns dann natürlich über 20 Mal getroffen. Wir haben lange Interviews geführt und sie hat mir aber sofort bei unserem ersten Treffen gesagt: „Ich bin nicht die Einzige, es muss andere geben." Und so bin ich da reingerutscht in die Schlagebranche und habe sehr viele Frauen dort kennengelernt, die Ähnliches und Schlimmeres erlebt haben. Und das konzentrierte sich auch immer auf denselben Täterkreis. Und dann das Ende der Recherche nach anderthalb Jahren war, einfach, dass ich keinen Weg gefunden habe, die Geschichte zu erzählen, in journalistischer Form. Darüber können wir später noch reden. Und ich hatte, ehrlich gesagt, diesen Frauen so viel versprochen und ich hatte mir selbst auch viel versprochen. Und es war für mich wichtig, diesen Roman zu schreiben, weil so konnte ich ihnen ihre Geschichte zurückgeben und so konnte ich einen Weg finden, ihre Geschichte doch zu erzählen.
[00:05:05.900] - Nadia Kailouli
Vielleicht reden wir jetzt direkt über das, wo du gesagt hast, wir können da auch noch mal später drüber sprechen, weil wir sind beides Journalistinnen. Du hast lange für den Springer-Verlag gearbeitet und man fragt sich jetzt natürlich: „Moment mal, das ist eine krasse Story." Also unabhängig von dem, was den Frauen schreckliches passiert ist, ist das eine Story. Und wenn man irgendwie guckt, wie viel Millionen Menschen in Deutschland eben Schlagermusik, Schlagersendungen et cetera, hören und konsumieren, dann fragt man sich schon, warum eine Journalistin dann diese Geschichte nicht veröffentlichen konnte als das, was es war, sondern sich dann entschieden hat, einen Roman darüber zu schreiben.
[00:05:41.190] - Caroline Rosales
Das war eine individuelle Entscheidung, die ich getroffen habe. Vielleicht hätten sie andere Kolleg:innen anders getroffen. Aber für mich war entscheidend, dass es bei den Frauen um Betroffene ging, die im Grunde nicht sehr viel Geld haben, die nicht sehr viel gesellschaftliches Ansehen haben und die auch sehr viele Imageprobleme in der Schlagerbranche kriegen könnten, obwohl sie ausgeschieden sind. Und das sind teilweise Frauen, die Kredite haben, die sie mit 100 Euro im Monat abbezahlen, die sie für irgendwelche Plattenverträge investiert haben und dann auch Missbrauch durch den Produzenten erfahren haben und auch irgendwie dann für die auch echt was auf dem Spiel steht. Und ich hatte das Gefühl, wenn wir diese Geschichte so erzählen, dass die Frauen im Fokus sind, dann fängt so diese übliche Tirade an: „Die hat es gewollt, die muss sich ja auch nicht wundern, die wollte nur reich und berühmt werden und wollte sich irgendwie durch ihre Titten einen Standortvorteil verschaffen." Und im Grunde wäre es wie ein zweites Trauma für diese Frauen. Und am Ende hätten die Täter – und ich kenne diese Anwälte sehr gut –, die hätten auf jeden Fall oder haben die besseren Anwälte. Und am Ende müssen sie vielleicht ein Zivilverfahren befürchten, wo sie sogar ihre Anonymität nicht wahren könnten, weil einige Frauen wollten mit Namen, sprechen einige nicht. Und es ist im deutschen Zivilrecht nicht möglich oder im Medienrecht, seine Protagonistin so zu verteidigen, dass sie niemals ihren Namen sagen müssen.
[00:07:03.710] - Nadia Kailouli
Okay. Also war das sozusagen zum Schutz der Betroffenen, aber trotzdem ein Weg gefunden, die Geschichte zu veröffentlichen eben durch einen Roman. Aber bekommt dein Roman durch die Menschen, die ihn lesen, die Schlagkraft der Relevanz zu sagen: „Schaut auch dahin in diese Branche", die ja nach außen hin einfach nur immer diese heile, familiäre Welt vermittelt?
[00:07:28.620] - Caroline Rosales
Ein Roman kann nie so viel Schlagkraft haben wie eine journalistische Reportage oder wie, wenn die Frauen selber sprechen würden. Das kann ein Roman nicht leisten, auch weil es immer Literatur ist. Man macht sich ja mittlerweile über das Wort lustig, dass immer alles "literarisch" ist, also in Anführungsstrichen, dass man immer alles unter dem Deckmantel von „das ist ja mein künstlerisches Ich" schützen kann. Und deswegen nein, es hat nicht dieselbe Wirkung, aber man sollte die Wirkung von Literatur auch nicht unterschätzen, die sie über die Jahrhunderte und Jahrtausende hatte.
[00:08:00.400] - Nadia Kailouli
Absolut. Ganz genau. So ist es nämlich. Jetzt gehen wir vielleicht mal dahin, wie du in die Recherche ja dennoch gegangen bist. Du hast gerade eben erzählt, dass sich eine Betroffene direkt an dich gewendet hat, dir ihre Geschichte erzählt hat, ihr euch sehr oft getroffen habt und sie dir dann den Hinweis gegeben hat: „und ich bin hier nicht alleine. Ich bin kein Einzelfall." Wie bist du dann da rangegangen?
[00:08:21.450] - Caroline Rosales
Tatsächlich habe ich erst mal angefangen, ungefähr so 40 bis 50 Schlagersängerinnen zu schreiben, ob sie mit mir reden wollen. Und Ich habe einfach gesagt, ich möchte mit Schlagersängerinnen reden. Ich möchte eine Reportage oder ein Porträt über Schlagersängerinnen machen. Ich möchte wissen, wie sie sich fühlen, wie es ihnen geht, was sie bewegt, und das auf einem sehr seriösen Level. Und davon haben natürlich 90% gar nicht geantwortet oder sofort mit ihrem Management gedroht oder das Management hat sofort für sie abgesagt, weil das eine sehr hermetisch geschlossene Branche ist und Medien sind erst mal böse. Und Mediengeschichten werden in der Schlagerbranche immer arrangiert. Ob es jetzt mit Yellows ist, Bild, Bunte – es sind immer Geschichten, die auf engen Freundschaften zu Redakteur:innen und Absprachen ruhen. Und die 10 oder 15, die mit mir gesprochen haben, die Gespräche waren sehr durchwachsen und die haben alle was erlebt, also diese 15. Und teilweise hatten die immer so Reflexe, dass sie gesagt haben: „Ich habe das und das erlebt und der ist mir bis ins Bad gefolgt und der hat seine Hose aufgemacht und er war komplett betrunken, aber er hat sich am nächsten Tag entschuldigt. Und deswegen ist es ja nicht so schlimm." Und man denkt natürlich als Journalistin: "Ich finde es schlimm, dass du das nicht schlimm findest", aber die haben eben ein anderes Selbstverständnis von Sexismus, von ihren Rechten und vor allem hat es ja auch viel damit zu tun: Will ich etwas Schlimmes erlebt haben oder will ich es nicht? Ehrlich gesagt, Vergewaltigung ist auch immer oder Missbrauch ist immer etwas, was ich für mich selber entscheiden kann.
[00:09:57.610] - Nadia Kailouli
Wie meinst du das?
[00:09:58.870] - Caroline Rosales
Na ja, es gibt in Amerika so einen Comic, der heißt „I made my rapist breakfast." Also "Ich habe meinem Vergewaltiger Frühstück gemacht." Und es gibt immer noch das Bild von Vergewaltigung und von Missbrauch, dass das sozusagen in der dunklen Straßenecke passiert, mit gezücktem Messer und die Frau rennt weg und ist nie wieder gesehen. Und es gibt super oft diesen Reflex, dass man eigentlich zu seinem Täter zurückkehrt, weil man hofft, dass es dieses Mal besser läuft. Aber dieses Bild oder diese Realität von Missbrauch ist noch gar nicht richtig besprochen worden in unserer Gesellschaft, weil meistens findet auch Vergewaltigung oder Missbrauch im Häuslichen statt oder in einem geschlossenen System. Das heißt, dass viele der Frauen, die Missbrauch erfahren haben in der Schlagerbranche, sich da auch jahrelang darauf eingelassen haben oder auch monatelang oder wochenlang.
[00:10:37.680] - Nadia Kailouli
Machen die sich dann sozusagen selbst den Vorwurf: „Warum habe ich es nicht hier rausgeschafft?" Oder besser gesagt: Dadurch, dass du sie ja konfrontiert hast – für viele war das ja wahrscheinlich das erste Mal, dass sie darüber gesprochen haben mit einer nicht involvierten Person. Wurde denen durch das Gespräch mit dir erst bewusst, dass ich mich hier in einer Branche bewege oder in einem Umfeld bewegt habe, in dem Missbrauch statt gefunden hat?
[00:11:01.370] - Caroline Rosales
Ja, ich glaube, manchmal schon. Die haben mir erst mal relativ neutral ihre Geschichten erzählt und dann muss ich sagen, dass ich natürlich als Journalistin da wenig eingreifen wollte, was ich auch nicht darf, aber natürlich hat man gewisse Reaktionen, weil einfach Dinge furchtbar und schrecklich sind, was durchaus menschlich ist. Und ihnen fiel dann immer mehr und immer mehr wieder ein, weil sie kannten ja auch das Thema, zu dem ich recherchiere. Und dann sprachen sie mir Sprachnachrichten auf und sagten: „Oh Gott, Ich war so... Wie doof kann man sein? Aber damals bei dem Fotoshooting und damals bei dem Auftritt und damals bei der After-Show-Party, oh Gott, wie doof muss man sein? Aber natürlich erinnere ich mich jetzt daran." Und das ist schon, was dann eben passiert bei so einer Aufarbeitung von schrecklichen Ereignissen. Es fällt einem immer mehr wieder ein.
[00:11:48.850] - Nadia Kailouli
Was waren so die Szenarien, die sich so wiederholt haben in den Gesprächen von den unterschiedlichen Frauen, mit denen du gesprochen hast? Gibt es etwas, wo du für dich erkannt hast, „Ah, das sind immer die, weiß ich nicht, Orte, Schlüsselmomente oder Situationen, wo der Missbrauch häufig stattfindet", sei es bei Vertragsverhandlungen, ist es bei den Partys, ist es bei den Shows, ist es bei dem privaten Abendessen?
[00:12:13.340] - Caroline Rosales
Erst mal ist die Branche sehr männlich dominiert und es gibt wenige Männer, die da das Sagen haben und die auch entscheiden, ob du in die Shows kommst oder nicht. Und von denen hängt dein komplettes Schicksal ab in dieser Branche. Und dann kommt es eben dazu, dass du als Frau oder als Schlagersängerin, als junges Talent immer sehr isoliert wirst. Ich habe von Schlagersängerinnen gehört, die waren mit dutzenden Männern alleine auf Tour, ohne dass ein Management zugegen war. Oder auch bei After-Show-Parties, eigentlich ist man immer alleine. Und weil noch gar nicht das Budget ist für eine Newcomerin, ein großes Entourage zu organisieren. Und so fahren die teilweise auch mit ihrem eigenen PKW dahin oder sind eben auf Tour und müssen aber natürlich für ihr Haare, Make-up irgendwie selbst aufkommen oder für ihre Kostüme definitiv. Also es ist alles sehr prekär. Und man hofft natürlich, dass man auf diesen Touren weiter gelten kann, dass man sich weiter beliebt macht. Und so nehmen halt viele dieser jungen Schlagersängerinnen an diesen After-Show-Parties teil. Oder die gehen erst alle in die Hotelbar, dann geht es auf die Zimmer und irgendwie versucht man so ein gutes Gruppengefühl für so eine Cliquen-mentalität aufrechtzuerhalten. Und ich habe auch gehört, dass sie die Tänzerinnen mittlerweile jedes Jahr austauschen. Und das hat für mich irgendwie nie so richtig Sinn gemacht, weil eigentlich könnte man ja sagen: „Na ja gut, ein festes Ensemble ist gut." Und das ist jetzt eine totale Mutmaßung, aber es ist ja auch ein bisschen, dass immer neue Leute, "frische, junge Gesichter" dazukommen, um es jetzt nicht ganz so vulgär auszudrücken.
[00:13:41.980] - Nadia Kailouli
Okay, verstehe. weißt du, was ich gerade gedacht habe? Angenommen, wir würden dieses Gespräch, was wir jetzt führen, nicht hier in diesem Podcaststudio führen, sondern in der Kneipe, wo Menschen sitzen, die sich auch gerne mal so eine Hitparade oder eine Schlagershow anschauen oder auf einen Schlagermove gehen in Hamburg. Und die würden uns jetzt zuhören. Da bin ich mir sicher, dass es den einen oder anderen geben würde, der sagen würde: „Ja, Moment, da ist sie doch selber schuld. Was geht die denn auch mit dem dann alleine in so einen Bus? Mensch, das dumme Mädchen", oder so. Die würden dann eher sagen: „Na ja, also sorry, beschwer dich doch nicht. Was machst du denn da auch, alleine und lässt dich da, keine Ahnung, verarschen?"
[00:14:21.540] - Caroline Rosales
Ja, es ist ja ein bisschen wie im Sozialismus in der DDR oder in der Sowjetunion: Es ist ja immer der Mensch schuld und nie das System, so, weil sonst hätte das System ja versagt. Und das ist, finde ich, immer ein gutes Argument, wenn es um MeToo geht oder um Frauen. Es geht nie um das Individuum, weil auch ich war irgendwann Berufsanfängerin und ich habe mir gedacht, ich habe fünf Jahre studiert und zwei Jahre volontiert und jetzt ist das Ergebnis, dass keiner sich ernsthaft für meine Artikel interessiert, obwohl ich aus einer Akademikerfamilie komme und alles und ich mit meinem Chefredakteur Abend essen muss. Seriously? Aber auf der anderen Seite, wenn ich das jetzt nicht mache, dann war alles umsonst. Dann gehe ich raus und dann sagen sie: „Ja, die Caroline, die kann halt nicht schreiben. Na ja, Pech, ne." Und das doch so was von unfair und völlig unverhältnismäßig. Und ehrlich gesagt gibt es auch sehr viele privilegierte Frauen, zu denen ich mich auch zähle, die sich natürlich dann trotzdem auf solche Situationen einlassen, weil sie sagen: „Das kann doch jetzt nicht wahr sein, dass es hier zu Ende ist." Und du hast bis jetzt alles für deine Karriere getan. Du hast so lange studiert und so lange warst du fleißig und du hast immer gelernt im Leben: Wenn du fleißig bist und gute Noten hast und dir auch noch Mühe gibst, dann wird das was. Und dann plötzlich steht da der Chef und sagt: „Noch wach?" Und ich will auch nicht, dass meine Töchter eines Abends SMS bekommen in der Nacht und dann nicht wissen, was sie machen sollen. Und das ist, glaube ich, deswegen, es gibt kein "selber Schuld". Das ist systemisch bedingt.
[00:15:40.630] - Nadia Kailouli
Um jetzt hier die Menschen auch zu abzuholen, die sagen: „Na ja, Gendergerechtigkeit. Es gibt ja auch Frauen, die…" Inwieweit ist in deinen Gesprächen, die du geführt hast, auch von Frauen die Rede gewesen, die ihre Macht missbraucht haben? Vielleicht jetzt nicht innerhalb von sexualisierter Gewalt, aber von psychischer Gewalt, von Machtmissbrauch. Haben dir die Frauen auch solche Geschichten erzählt?
[00:16:04.430] - Caroline Rosales
Es gibt innerhalb der Schlagerbranche sicherlich auch Komplizinnen, also wie die Ghislaine Maxwell oder eben auch wie im Rammstein-Skandal, die Frauen, die sozusagen die jungen Frauen dem Sänger zugeführt haben. Das gibt es ganz sicher. Und ansonsten habe ich Frauen als Täter:innen noch nie erlebt, also wo ich nie reingegangen bin in der Schlagerbranche, weil das einfach nicht mein Beritt ist, ist das homosexuelle Milieu, weil da fühle ich mich nicht befugt. Genau, aber ich glaube, da wäre sehr viel Handlungsbedarf.
[00:16:40.200] - Nadia Kailouli
Jetzt sprechen wir einmal über die Täter, obwohl der Fokus immer eigentlich auf den Betroffenen liegen sollte und bei uns vor allem auch so ist. Nichtsdestotrotz, gerade in dieser Branche, bei dieser Geschichte, wollen die meisten wahrscheinlich wissen: „Ja, wer war das denn?" Wie gehst du mit dieser Frage um, sowohl in dem Roman, als auch so als Journalistin?
[00:17:01.130] - Caroline Rosales
Also ich kann dazu nur so viel sagen, dass es reicht, den Fernseher anzumachen und die Schlagersendungen zu schauen. Dann sieht man die Täter.
[00:17:10.360] - Nadia Kailouli
Wie ist das, wenn man so eine Geschichte macht? Wissen wir ja, wenn du das als Journalistin veröffentlichst, da musst du dich nicht nur mit den Betroffenen beschäftigen, mit einer Konfrontation an die Täter oder an das System, irgendwie, sondern du musst dich vor allem auch mit rechtlichen Fragen beschäftigen. Wie ist das, wenn man so eine Geschichte in einen Roman packt? Inwieweit hat dich diese Frage beschäftigt?
[00:17:34.200] - Caroline Rosales
Na ja, Presserecht mache ich ja seit 20 Jahren und ich habe ja auch, wie gesagt, für Springer gearbeitet, sehr viel Unterhaltung gemacht oder „Klatsch", wie man das nennt, "Gesellschaft", wie man es in Hamburg nennt. Und Ich habe mich natürlich sehr, sehr viel mit presserechtlichen Fragen in meinem Leben beschäftigt, manchmal sogar auf täglicher Basis. Und so ist das bei mir so ein bisschen in Markt und Knochen übergegangen und ich weiß ungefähr, was ich sagen kann, ohne dass ich dafür belangt werde. Und das ist einfach mein Kapital, weil ich bin da eigentlich ziemlich tiefenentspannt, weil, wie gesagt, auch wenn es ein schreckliches Modewort ist, aber es ist Teil meiner DNA. Ehrlich gesagt wäre ich auch gespannt, wer da kommen soll, weil dann könnte man ja auch ein offenes Gespräch darüber führen.
[00:18:20.510] - Nadia Kailouli
Dieses Know-how über Presserecht oder überhaupt über Rechte, die man hat, wenn man einen Missbrauch veröffentlicht oder anprangert oder überhaupt meldet, über den wissen viele nicht und die meisten haben eher Angst, das zu äußern, was ihnen widerfahren ist. Ist dir das auch passiert, dass du eben Frauen getroffen hast, die gesagt haben: "Ich musste hier weitermachen, weil ich weiß gar nicht, welche Möglichkeiten habe ich denn, wenn ich jetzt sage, der hat mir das und das angetan, wenn ich sage, der hat mich vergewaltigt? Es gibt keine Zeugen."
[00:18:51.820] - Caroline Rosales
Genau, das ist das Problem in Deutschland. Das ist das Problem an der Rechtsprechung, weil wir haben ein sehr schlechtes Zivilrecht, anders als in Amerika, weil wir haben ein Zivilrecht, das sagt, die Betroffene ist alleine in der Verantwortung, die Schuld des Täters zu beweisen. Und in Amerika ist es ein System, beide müssen, also der Täter muss beweisen, dass er es nicht war und die Betroffene muss beweisen, dass er es war. Und dazu kommt es zu viel ausgeglicheneren Prozessen und viel mehr Vergewaltigungen landen auch vor Gericht. In Deutschland ist es ja immer noch so, dass ein Prozent aller Vergewaltigungen mit einem Schuldspruch enden. Und der Rest ist alles Graubereich und das sollte uns doch sehr wundern. Schlimm, was auch noch dazukommt, ist im Presserecht, wenn ich einen Artikel mache über eine Sängerin, die Schlimmes erlebt hat, dann wird wahrscheinlich erst mal medienrechtlich gegen mich vorgegangen. Das kann ich super ab, weil ich bin eine große Zeitung oder ein großes Medium oder ein großer Sender und ist alles fein. Das ist einfach Tagesgeschäft. Und so schütze ich meine Protagonistin. Wenn es aber dann in die zivilrechtliche Ebene geht, dann ist schon auf dem Level, also sozusagen auf Stufe zwei so, dass die eidesstattlichen Versicherungen, das sind die, wo die Betroffenen unterschreiben, dass ihre Geschichte so stimmt – und das ist auch rechtlich bindend –, dass die an die Anwälte des Täters gehen, mit Klarnamen. Das heißt, in dem Moment sofort – und deswegen klagen ja auch viele diese Anwaltskanzleien sofort zivilrechtlich -, hat der Täter den Namen der Betroffenen. Und damit kann er ihn auch durchstechen, öffentlich machen. Und damit ist jeder Schutz für die Betroffene aufgehoben. Und das ist so ein Skandal im Rechtssystem, weil das darf ja eigentlich gar nicht sein. Und dann noch in Stufe drei muss die Betroffene, weil da geht es um zivilrechtliche Ansprüche, auch noch vor Gericht aussagen. Und wenn sie das nicht tut, dann hat das Medium einen großen Schaden und muss eine große Summe bezahlen. Und dadurch kann eigentlich keine MeToo-Geschichte richtig in Deutschland erzählt werden. Und ich meine, du bist selber Journalistin Du weißt, wie viele MeToo-Geschichten in Deutschland nicht erzählt werden.
[00:20:48.650] - Nadia Kailouli
Vor allem, wie viel Geschichten man in den Redaktionen – das weiß ich auch von anderen Kolleginnen oder Kollegen – vorgetragen werden, dass man dazu gerne eine Geschichte machen möchte und es dann heißt: „Oh ja, schwierig, keine Ahnung, nein, lass mal lieber."
[00:21:01.630] - Caroline Rosales
Genau.
[00:21:02.040] - Nadia Kailouli
Und erst mal vielen Dank dafür. Wir haben ja mit dir noch eine richtige Rechtsexpertin zu dem Thema hier bei uns. Damit habe ich jetzt gar nicht gerechnet, aber es ist sehr, sehr gut, dass wir da auch mal drüber sprechen. Aber du als Journalistin, die in diesem Themenbereich recherchiert hat, jetzt nicht nur zu diesem Roman, sondern auch zu anderen Themen, wie stehst du selbst dazu, MeToo-Geschichten noch zu veröffentlichen oder die an Zeitungen oder Magazinen heranzutragen?
[00:21:30.660] - Caroline Rosales
Ich kriege viel mit, weil ich in der Show-Branche mich bewege, ich bewege mich auch in der Filmbranche sehr, sehr viel. Und ich versuche immer noch, meinen journalistischen Kolleginnen Hinweise zu geben, aber ich rechne längst nicht mehr damit, dass das irgendwann gedruckt wird, weil es gibt sehr wenige Journalistinnen auch, die wirklich extrem Imageverlust und Gerangel und jahrelange Rechtsstreite in Kauf nehmen, um diese Geschichten öffentlich zu machen. Und die kann man eigentlich gar nicht genug loben, weil das ist wirklich Lebenszeit die verloren geht für diese Frauen, also für diese Kolleginnen. Aber das gibt einfach viel, viel zu wenige davon.
[00:22:06.840] - Nadia Kailouli
Was würde denn deiner Meinung nach mit den Gesprächen, die du bisher geführt hast, hilfreicher sein, um Menschen aus der Medien- und Kulturbranche besser zu schützen oder beim Missbrauch die Täter dann da rauszuholen?
[00:22:19.280] - Caroline Rosales
Ehrlich gesagt, die Täter sind absolut bekannt. Jeder weiß, wer es ist und jeder weiß, dass diese Leute immer wieder gefeiert werden, weil sie Geld in die Kinokassen bringen und weil sie "bankable" sind, wie man so schön sagt. Und es gibt so viele männliche Hauptrollen, die sozusagen nur "bankable" sind, weil sie die Kinohauptrolle spielen. Und ein Produzent sagt: „Es gibt zehn Typen in der deutschen Filmbranche, mit denen ich meinen Film finanziert kriege und mit denen ich an der Kinokasse Gewinn mache. Und mehr sind das nicht. Und die werden immer wieder besetzt und die werden auch immer weiter geschützt. Wir hatten letztes Jahr die Geschichten über Til Schweiger, der ist sicherlich einer davon. Die anderen sind branchenbekannt und jeder hat mal mit denen gearbeitet. Gerade von meinen jungen Schauspielerinnen, mit denen ich arbeite, die kennen die alle und die kennen auch die Geschichten und die haben sie auch teilweise selbst erlebt.
[00:23:08.370] - Nadia Kailouli
Aber wo liegt dann der Fehler? Also ich frage mich gerade: Ist das alles so ein Trump-Phänomen? Jeder weiß ganz genau, wie beschissen der Typ sich verhalten hat, wie übergriffig der war, keine Ahnung was. Und trotzdem hat er seine Wählerschaft, die sagen: „Ich glaube das nicht. Ich bin Trump-Fan." Gleiche bei Til Schweiger, da ist viel rausgekommen, oder Rammstein, ja, die Fanbase, die bleibt. Und solange die Fanbase bleibt, muss man den Fans irgendwie ja dann auch diesen Menschen noch weiterhin zur Verfügung stellen. Also wo liegt der Fehler? Sind wir als Gesellschaft der Fehler, dass wir darüber hinwegsehen, wenn sich ein Prominenter oder so daneben benimmt, obwohl das ja gelinde gesagt ja zu niedrig ausgedrückt ist, dass wir dann sagen: „Mein Gott, okay, soll er vielleicht gemacht haben? Ist mir egal. Ich bin trotzdem Fan. Ich will seine Filme sehen."
[00:23:49.580] - Caroline Rosales
Also man windet sich ja gerade in der Rammstein-Frage sehr darum, dass es keinen strafrechtlichen Tatbestand gab, weil es eben nie zur Anzeige gekommen ist und es eben auch nicht zum Prozess gekommen ist. Und trotzdem müssen wir ja weiter abwägen, was wir gesellschaftlich okay finden oder nicht. Und wenn eine Fanbase entscheidet und wenn sie eben nur aus Incels besteht, okay, fair enough, dann soll das deren Entscheidung sein, weiter diese Musik zu hören. Aber ich möchte als vierfache Mutter auch meine Töchter schützen dürfen in dieser Gesellschaft und auch ich habe ein Recht, so etwas nicht aushalten zu müssen. Es ist ja auch die Frage: Wie viel hält eine Gesellschaft aus? Wie viel sollten Frauen in dieser Gesellschaft aushalten müssen? Und bei Rammstein hatten sie halt das große Pech, dass es um junge, sehr junge Frauen ging, die durchaus ein wokes Selbstverständnis und Weltbild haben, die gesagt haben: „Es reicht, wir wollen unsere Geschichte erzählen dürfen und wir haben das Recht, unsere Geschichte zu erzählen." Und wir haben eben das Phänomen dann eben, dass große Anwaltskanzleien, verhindern wollen, dass Frauen ihre Geschichte erzählen dürfen und ein Recht auf ihre Geschichte haben. Und da sehe ich einen kleinen Hoffnungsschimmer, weil immerhin erzählen diese Frauen ihre Geschichte und dann crowdfunden sie eben das Geld, dass sie weiter ihre Geschichte erzählen dürfen. In der Schlagerbranche ist sozusagen noch die Selbstzensur da, dass die Frauen sagen: „Das kann ich nicht machen." Also das ist sozusagen die Vorstufe des Patriarchats. Die selbstregulieren sich noch und sagen: „Nein, nein, das mache ich von mir aus nicht." Immerhin sprechen Frauen jetzt heutzutage.
[00:25:16.970] - Nadia Kailouli
Aber du hast eigentlich das schlimmste Machtinstrument angesprochen, und zwar Geld. Und wenn du natürlich Menschen mit Konsequenzen drohst, die die Existenz bedrohen, und zwar, dass deine finanziellen Mittel dann nicht nur aufgebraucht sind, sondern du dich im schlimmsten Fall sogar verschuldest, wenn du sprichst, ist eben das ein Zeichen dafür, dass unser System mit diesen Geldmachtsystemen einfach dazu nur beiträgt, dass wir in so einer Art Missbrauchsgesellschaft unter anderem leben müssen in gewissen Branchen. Jetzt würde ich gerne den Sprung schaffen, noch über dein anderes Buch eben zu sprechen, weil das, glaube ich, gerade thematisch ganz gut passt, und zwar „Sexuell verfügbar". Das wurde ja eben auch verfilmt als Serie in ARD-Mediathek. Alles gut, schenk dir ein. Und du hattest eben deine Kinder angesprochen. Du bist Mutter von vier Kindern und ich finde, das gerade war ein ganz guter Satz: „Ich möchte das Recht haben, meine Kinder davor zu schützen." Bei „Sexuell verfügbar" geht es ja unter anderem auch darum, wie Kinder schon im Kindesalter eben dahin trainiert oder erzogen werden: „Mensch, jetzt lass dich doch mal. Der Onkel will dir doch nur ein Küsschen geben." Wie bist du dazu gekommen, zu sagen, „Ich muss mir dieses Thema noch mal genauer angucken" und hat dein Mutter-sein da den ausschlaggebenden Punkt gegeben?
[00:26:33.860] - Caroline Rosales
Sicherlich. Und tatsächlich ein kleiner Fakt am Rande ist auch, dass in der Fiction-Serie, in der ARD-Serie „Sexuell verfügbar", die ich gemacht habe, meine beiden ältere Kinder die Hauptrollen spielen, also die Kinderhauptrollen. Das heißt, die müssen schon mit mir einiges mitmachen als Mutter. Und sicherlich hat das Muttersein einen Ausschlag gegeben, wobei ich bin, seitdem ich 28 bin, Mutter, also für deutsche Verhältnisse eine junge Mutter gewesen. Das heißt, das Muttersein hat irgendwie immer mein Leben begleitet oder dominiert, wie man es eben sieht. Deswegen war das gar nicht so sehr der Ausschlag. Der Ausschlag war die #MeToo-Bewegung und ich war elektrisiert, wie viele Millionen, Milliarden Menschen auf dieser Welt, weil auch Oprah Winfrey hat immer gesagt, die #MeToo-Bewegung muss den Vergleich mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nicht scheuen. Es steht auf einer Ebene und das ist die größte Bürgerrechtsbewegung des 21. Jahrhunderts gewesen und das hat einen Erdrutsch ausgelöst. Und ich glaube, jeder hat nach #metoo über sein Beziehungsverhalten oder über seine früheren Beziehungen noch mal nachgedacht und gedacht: „Das war vielleicht nicht cool, das war nicht okay. Ach lustig, war das jetzt doch gegen meinen Willen?" Und ich glaube, da habe ich angefangen "Sexuell verfügbar" zu schreiben und es war so ein vier Monate langer Wutanfall, weil ich hatte nicht mehr Zeit für das Buch und ein Verlag ist an mich herangetreten, also Ullstein, mein Verlag jetzt, und die haben gefragt: „Möchtest du etwas sozusagen post MeToo schreiben?" oder „Es muss ja weitergehen." Und irgendwie hatte ich da wirklich die maximale Freiheit. Und dann habe ich halt angefangen, anhand meiner Biografie eben aufzuarbeiten, was mir als Mädchen passiert ist und was eigentlich dazu geführt hat, dass ich irgendwann nicht mehr Nein sagen konnte und dann auch in missbräuchliche Situation reingeraten bin, beruflich, aber dann auch einfach in Beziehungen. Und der Höhepunkt des Buches oder der vorläufige Höhepunkt ist dann, dass es eine Szene gibt, die ich erlebt habe, wo ich Sex habe und wo sehr viel darüber diskutiert wurde: "War das Vergewaltigung? Sie wollte es doch auch." Also das ist so, es tastet so die Grauzonen ab.
[00:28:35.100] - Nadia Kailouli
Warum glaubst du, ist es wichtig für uns alle, dass wir so, ich will nicht sagen so offen, aber so breit gefächert über dieses Thema sprechen. Du bist Journalistin, du bist Filmemacherin, du hast eine Serie produziert, du hast einen Roman geschrieben, du bist immer noch bei der Zeit und schreibst dort, das sind ja verschiedene Wege, um diese Themen rauszubringen. Warum glaubst du, ist das wichtig? Oder stumpfen wir damit ab, weil wir sagen: „Ach, das beschallt mich hier die ganze Zeit von allen Ecken. Ja, das ist halt Alltag, das ist halt normal."
[00:29:12.770] - Caroline Rosales
Also ich glaube, das ist unsere Bubble, die ganze Zeit beschallt, aber es beschallt ja … Unsere Bubble sind ja nicht mal ein Prozent aller Deutschen und das ist unsere Berlin-Bubble. Und ich hoffe, dass das immer noch weiter Kreise zieht. Und ich glaube, dass man nur durch Penetranz und ständiges Druck in den Raum sozusagen größere Schallwellen erzeugt. Es war für mich eine Riesenchance, eine Serie mit der ARD über dieses Thema zu machen, eine Fiction-Serie, weil das einfach noch mal komplett ein neues Publikum erreicht hat. Es muss ja weitergehen. Wir merken es ja auch mit dem Rechtsruck nach der Europawahl, dass wir längst nicht am Ende sind. Ich habe auch zum ersten Mal in meinem Leben jetzt, zum zweiten Mal, aber das erste Mal ist jetzt erst mal egal, eine Kampagne gemacht zur Abschaffung des Paragrafen 218, dass es das komplette Recht auf Abtreibung geben soll und muss in Deutschland. Und ich glaube, dass man da nicht so wirklich aufhören kann. Ich bin es dem auch manchmal müde, aber ich versuche mich … Also meine Wut reicht noch, glaube ich, ein paar Jahre aus.
[00:30:15.440] - Nadia Kailouli
Okay, wow. Da werden wir also noch ein bisschen was von dir hören, was ich sehr gut finde. Noch mal eine Frage zu dem Thema: Ab wann wird man ernstgenommen? Das beschäftigt mich irgendwie. Wann werden Frauen ernstgenommen, die über diese Themen sprechen und von wem werden sie ernstgenommen? Wie blickst du darauf, als diejenige, die sehr offen darüber spricht, was sie selbst erfahren hat in dem Roman, die das fiktional umsetzt, die hier in Interviews sehr offen darüber spricht? Wird man da eher ernst genommen oder wird man da eher bemitleidet von Machtmenschen?
[00:30:47.630] - Caroline Rosales
Das ist eine sehr, sehr gute Frage. Ich bin froh, dass du diese Frage stellst, weil ich habe ja sozusagen über meine eigene Missbrauchs- und, wenn man so will, Vergewaltigungserfahrung gesprochen und das war für mich natürlich auch als Journalistin das höchste persönliche Risiko, was man nur eingehen kann, weil man natürlich dann sofort als Frau zweiter Klasse oder "die will sich nur wichtig tun, die spielt sich auf, die macht aus ihrem Privatleben ein Case", also so alles. Und das nimmt dir wahnsinnig viel Seriosität von deiner Person weg, auch beruflich, weil man natürlich auch als Journalistin immer neutral bleiben muss und eben nicht sich selber damit involvieren darf. Aber ich habe dann auch auf der anderen Seite gedacht: „So, fuck it!" Weil ich bin weiß, ich bin reich, ich habe vier Kinder, ich habe eine glückliche Partnerschaft und ich habe alle Freiheiten. Und wenn ich es nicht mache, das wäre ziemlich arm von mir. Also wer soll es denn sonst machen? Und das muss man halt auch sehen. Und ich finde auch, deswegen sollten viel mehr Frauen, die in privilegierten Positionen sind, viel offener damit umgehen.
[00:31:51.100] - Nadia Kailouli
Ich finde, das ist der perfekte Schlusssatz, obwohl ich noch ewig mit dir weitersprechen könnte. Aber es war eine Bereicherung, dass wir dich als Gast gewinnen konnten. Caroline Rosales. Vielen Dank.
[00:32:01.340] - Caroline Rosales
Dankeschön.
[00:32:06.180] - Nadia Kailouli
Ja, nach dem Gespräch schaue ich mir die Hitparade natürlich jetzt noch mal mit ganz anderen Augen an. Nicht, dass ich es jeden Tag sehe, aber to be honest, wir kennen es. Und nach dem, was Caroline uns da jetzt so erzählt hat von ihren Recherchen und Gesprächen, kann man schockiert sein oder sich wieder einmal fragen: Ja, sexuelle Übergriffe, sexuelle Gewalt ist eben ein Thema inmitten unserer Gesellschaft und da ist die heile Schlager-Welt eben nicht von ausgeschlossen.
[00:32:36.110] - Nadia Kailouli
An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich mal bei euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei schwierigen Themen dranbleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal und wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine E-Mail könnt ihr einfach schreiben an: presse@ubskm.bund.de.
Mehr Infos zur Folge
Die Welt des deutschen Schlagers – das ist ein Ort, an dem immerfort geschunkelt wird, wo Herzilein nicht traurig sein muss und wo andauernd die Sonne scheint. Die Welt des deutschen Schlagers: – das ist aber auch ein Ort der sexuellen Übergriffe und Gewalt, sagt die Journalistin und Autorin Caroline Rosales. Zwei Jahre hat sie recherchiert, insgesamt 100 Schlagersängerinnen angefragt, mit 40 gesprochen, 10 haben sich wirklich geöffnet. Darüber hat sie ein Buch geschrieben, „Die Ungelebten”. „Sexuelle Gewalt in dieser Intensität habe ich nicht erwartet”, sagt sie.
Schon vor „Die Ungelebten” ging es bei Rosales um die sexuelle Verfügbarkeit von Frauen – die tatsächliche oder vermeintliche. In ihrem autobiografischen Sachbuch „Sexuell verfügbar” hat sie sehr offen die eigenen Erfahrungen als Redakteurin im Springer-Verlag verarbeitet, im Klappentext liest sich das so: „Caroline Rosales erzählt nah an ihrer eigenen Geschichte, wie bereits kleine Mädchen darauf konditioniert werden, lieb und höflich zu sein und dem Onkel doch ein Küsschen zu geben. Und wie aus diesen Mädchen Frauen werden, die mehr auf das Gegenüber achten als auf sich selber.“
Rosales ist der Meinung, dass heute immer noch gilt: „Betroffene sind Frauen zweiter Klasse, wenn ihre Fälle bekannt werden. Sie sind ruiniert, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen”.
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Ihr Buch „Sexuell verfügbar” wurde als Serie verfilmt, in der ARD-Mediathek:
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Podcast-Folge des Deutschlandfunk Kultur: #metoo im Schlager: Caroline Rosales und ihr Roman „Die Ungelebten”
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Caroline Rosales zu Gast bei Markus Lanz zum Thema „Die Wahrheit über das System Julian Reichelt”:
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EMMA-Artikel von Caroline Rosales
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Brigitte-Artikel über Caroline Rosales: „Vereinbarkeit ist die größte Lüge des 21. Jahrhunderts”
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