PODCAST | Folge 9 | Caroline Fetscher

„Taten sollten so beschrieben werden, dass kein Täter, keine Täterin jemals irgendetwas davon hat.“

Immer noch taucht in Schlagzeilen der „Kinderschänder“ auf, wird jegliche sexuelle Gewalt gegen Kinder als Pädophilie grob vereinfacht und in vielen Fällen wird falsch dargestellt, warum Kinder Opfer sexueller Gewalt werden und wie sie davor geschützt werden könnten. Caroline Fetscher schreibt seit 1997 für den Berliner Tagesspiegel und gehört zu denen, die über sexualisierte Gewalt sensibel und sprachlich klug berichten. Sie hat die großen Missbrauchsfälle in Deutschland journalistisch begleitet, war Kriegsberichterstatterin im Kosovo Krieg und hat ein Buch zum Attentäter von Las Vegas geschrieben.




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Caroline Fetscher [00:00:00]  Es muss so beschrieben sein, dass kein Täter sich daran auch nur im Allergeringsten befriedigen kann. Das heißt, das darf nüchtern, klinisch etc.. Es gibt auch bestimmte Worte, die ich vermeide. Ich schreibe nicht nackt, ich schreibe unbekleidet.

Nadia Kailouli [00:00:17] Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Einbiszwei? Ja genau, ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin leider kein Kuli und in diesem Podcast spreche ich mit Expert*innen, Journalist*innen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte: Wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei, schön, dass du uns zuhörst.

Nadia Kailouli [00:00:56] Wie sieht Berichterstattung über sexualisierte Gewalt gegen Kinder aus? Wie geht man damit um und was kann man falsch machen? Und warum ist die Berichterstattung überhaupt so wichtig und wie kann man gerade Kinder in der Berichterstattung schützen? Caroline Fetscher ist Journalistin und arbeitet seit 1997 beim Tagesspiegel. Ihre Schwerpunkte liegen dabei auf Menschenrechte und Kinderschutz. Egal ob Lügde, Münster oder die Odenwaldschule - Caroline Fetscher hat all die großen Fälle der sexualisierten Gewalt gegen Kinder recherchiert und darüber berichtet. Frau Fetscher, ich grüße sie.

Caroline Fetscher [00:01:33] Ich grüße sie.

Nadia Kailouli [00:01:36] Hallo. Warum ist es überhaupt so wichtig, dass wir über sexualisierte Gewalt berichten?

Caroline Fetscher [00:01:41] Ja, wie wir wissen, ist es ein ganz stark tabuisiertes Thema, immer schon gewesen. Also kann man eigentlich durch die Jahrhunderte vermuten und es kommt in Schüben an die Oberfläche, wie jetzt in Deutschland, zuletzt 2010. Mit diesen großen Fällen des institutionalisierten Missbrauchs, also auch in Institutionen wie dem Canisius Kolleg, diesem katholischen Gymnasium in Berlin, und der Odenwaldschule, eine Reformschule im Odenwald. Eine übrigens seit den 20er Jahren bestehende Schule, die in der Tat sogar schon in den 20er Jahren Prozesse hatte wegen sexueller Übergriffe von pädagogischem Personal auf junge Menschen. Und wenn solche Fälle auftauchen, gibt es, wie gesagt, diesen Schub an Berichterstattung. Wenn die dann wieder abflauen, dann haben wir oft jahrelang oder monatelang sehr wenig.

Nadia Kailouli [00:02:43] Warum ist das denn so, dass gerade bei diesen großen Fällen sich die Medien da so draufstürzen und das dann auch wieder loslassen, wenn es dann eben noch nicht mal geklärt ist, sondern eben einfach nur ans Licht gekommen ist?

Caroline Fetscher [00:02:55] Was die großen Fälle betrifft, finde ich, ist das sehr einfach zu erklären: Die sind spektakulär, gerade die Institutionen, auf die kann man mit dem Finger zeigen, das hat nichts zu tun mit mir, das sind die, das sind die Schulen, das sind die Internate, das sind vielleicht auch die Katholiken oder wer auch immer. Also es sind Großgruppen, auf die man weisen kann, und sehr, sehr viel weniger berichtet wird darüber, dass es sexuelle Gewalt in den Familien gibt. Es sind verstörende Erfahrungen für Kinder, es sind beschwerende, belastende Erfahrungen für Kinder und wenn wir das pro Schulklasse angucken, dann kommen wir auf eine sehr große Zahl. Hunderttausende von Kinder! Das heißt, dass aber auch in jeder Familie irgendjemand ist, der etwas weiß von irgendjemandem, und sei es in der Familie, sei es ein Nachbar oder ein Bekannter oder ein Freund eines Freundes. Fast jeder hat irgendeine Ahnung oder ein Wissen, da war schon mal was, da könnte was sein etc.. Und das ist ein sehr beunruhigendes Wissen und das möchte man eher nicht an sich heranlassen. Daher haben die Medien lange Jahre, also sage ich mal, zwei beliebte Objekte gehabt, was dieses Thema betrifft. Auf der einen Seite die Institutionen, von denen wir eben sprachen, da ist das Internat, in dem passieren die Schweinereien. Oder ist es der böse fremde Mann am Spielplatz, der Einzeltäter, der aus dem Gebüsch kommt. Ein "Kinderschänder" hat man ja dazu früher gesagt. Und schon dieses Wort ist sehr unreflektiert, denn es ist ja nicht jemand, ein Erwachsener, der dem Kind eine Schande macht, das Kind hat ja dann die Schande, sondern die Schande liegt ja, wenn überhaupt, dann bei dem Täter oder der Täterin. Aber das sind so die beiden Fälle, die die Medien eben sehr mögen, wo man das von sich wegschieben kann.

Nadia Kailouli [00:04:52] Jetzt haben sie gerade gut geschildert, warum man sich eben auf diese großen Fälle stürzt, auf die Institution, gerade als Medien. Aber wie schafft man das, um eben dem Leser, dem Zuhörer, dem Zuschauer zu vermitteln, Moment mal, wir haben jetzt hier eine riesen Story, aber diese lässt sich eigentlich runterbrechen auf ein Riesenproblem in unserer Gesellschaft.

Caroline Fetscher [00:05:12] Das kann man erst mal so sagen, wie Sie es sagen: Das geht uns alle an! Das ist dann so ein bisschen so wie bei Klimaschutz geht uns alle an und jeder kann so ein bisschen was dafür tun. Aber das ist natürlich noch nicht die Tiefenschärfe und die Dimension, die wir da haben wollen. Und die Medien haben eigentlich, wenn man jetzt den Affekt betrachtet, also die Emotion, von der aus ich als Redakteurin oder als Ressortleiter etc. mir überlege, will ich diese Geschichte machen, wir haben zwei Affekt-Richtungen, behaupte ich. Das eine Faszination - was ist das für eine scharfe Story? Und das andere ist Abwehr. Dieses "Um Gottes Willen, damit wollte ich nicht, und das könnte ja auch bei meinem Onkel, bei meiner Tante, irgendwie oder so was geben, was der Sache ähnelt". Und das sind diese beiden Affekte, die sozusagen auch miteinander in Konflikt stehen. Und die Faszination taucht immer dann auf, wenn wir zum Beispiel diese Prozesse haben, die sie vorhin in der Anmoderation kurz erwähnt hatten, Lügde, Münster, Bergisch-Gladbach, Staufen - in den letzten Jahren waren ja mehrere sehr große, spektakuläre Fälle, wo man aber auch wieder sagen konnte, das ist so ein ganz verkommenes Milieu, das ist irgendwie so ein Campingplatz, oder so ein Typ, der wohnt im Schrebergarten, in seiner Gartenlaube und das sind Arbeitslose, oder das sind, ja...auf jeden Fall völlig perverse und vollkommen andere Typen als die, die wir in unserer Umgebung kennen. Das ist faszinierend, das ist toller Stoff, das möchte man haben - eine Zeit lang. Dann berichtet man ein, zwei, drei Mal davon und dann hat man so geschildert, was ist da eigentlich passiert. Dann müsste es darum gehen, was bedeutet die Traumatisierung dieser Kinder? Was ist in einer Familie vorgefallen, wo ein Mensch zu einem solchen Täter wird? Der ist ja auch, ich sage jetzt mal ein bisschen idealistisch, als ein unschuldiges Baby zur Welt gekommen. Das war wahrscheinlich ein süßer kleiner Junge. Was ist denn mit dem passiert? Was ist da los gewesen? Was ist in der Generation davor los gewesen? Was hat der erlebt in seinem Aufwachsen, in seiner Sozialisation. Oder sie? Was hat sie erlebt? Also es gibt ja viele Täterinnen, 20% wird angenommen, nach den neuesten Studien, sind Täterinnen, also sind Frauen, die auch sich vergreifen oder übergreifen.

Nadia Kailouli [00:07:45] Jetzt haben sie gerade, ich will schon fast sagen, sehr schön bildlich gesprochen. Der Campingplatz und das unschuldige Baby, was da auf die Welt kommt. Wie schafft man das, dass eben diese große Story, dieser gute Stoff eben nicht zu einem Krimi wird, den man von sich weghalten möchte, weil man das gerade gelesen hat und sich denkt, oh, boah, das ist ein Krimi, krass, das spielt in meiner Gegenwart doch eigentlich gar keine Rolle, in meinem Umfeld. Und dann aber der respektvolle Umgang, diese Weiter-Recherche, diese Geschichte eben nahbar zu machen und zu zeigen, das ist nicht einfach nur guter Stoff, das passiert und zwar vor unserer Haustür.

Caroline Fetscher [00:08:24] Und es hat Ursachen. Also dafür muss ich mich mit Sozialpsychologie, mit Soziologie, mit Psychologie, ich behaupte immer auch mit Psychoanalyse, also symbolischem Denken beschäftigen. Wenn ich da wirklich in die Tiefe gehen möchte und Ursachen erkunden, was ja gleichbedeutend ist mit Präventionsforschung, also wenn ich die Ursachen kenne, kann ich die eher bekämpfen, als wenn ich das im Dunklen lasse. Und wenn ich sie bekämpfen kann, dann habe ich eine präventive Tat begangen, im guten Sinne. Und dieses, das erfordert einfach ein tiefergehendes Interesse, was weder Faszination noch Abwehr beinhalten darf. Also da muss ich ein intrinsisches Interesse daran haben, zu verstehen, was es für die Gesellschaft bedeutet, die Dimension der Sache sichtbar zu machen, hörbar zu machen und das so zu vertiefen, dass ich im Grunde so ein bisschen psychologische Volkshochschule mache, im besten Sinne. Und das ist, ja, das ist kaum vorgesehen. Also es gibt Gerichtsreporter, die richtig toll sind, die verstehen viel von Recht. Dann gibt es so True Crime Stories, die sind im Moment sehr beliebt, da werden so gerne die saftigen Details von irgendwelchen schlimmen Fällen ausgebreitet. Und dann gibt es Politik-Ressorts, die beschäftigen sich damit, was werden jetzt für Maßnahmen ergriffen? Welche staatlichen Gesetzesvorlagen gibt es oder welche Änderungen sind im Kinder und Jugendschutz vorgesehen? Und dann gibt es Feuilletons - also die Frage, zum Beispiel, ist überhaupt, wenn sie mich da so fragen, in welches Ressort fällt das eigentlich? Ist das Politik? Ist das Wirtschaft? Ist das, ja, das kann auch Sport sein, manchmal, also wenn wir die Trainer haben, die übergreifen. Aber dann habe ich einen Sportreporter! Der hat sich doch bisher mit Tennismatches oder mit Fußball oder so was beschäftigen. Soll der nun auf einmal in solche Missbrauchs-Szenarien eintauchen? Das heißt, ich bin als Journalistin, als Journalist auch nicht unbedingt vorgebildet, um mich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Nadia Kailouli [00:10:47] Ich möchte diese Aussage, die sie gerade gemacht haben, gleich nutzen, um zu unserem ersten Einspieler zu kommen. Denn sie sind ja schon seit Jahren Journalistin und berichten, aber der Nachwuchs hat ja auch noch nicht so viel Erfahrung. Warum es aber so wichtig ist, zukünftige Journalist*innen dahingehend besser zu schulen, hat uns der Journalist Andreas Unger erzählt. 2017 veröffentlichte er das Buch "Sensible Begegnung mit dem Leid" und lehrt damit zur sensibler Berichterstattung.

Einspieler Andreas Unger [00:11:12] Mir ist aufgefallen, dass wir Journalisten ja gar nicht anders können, als Bericht zu erstatten, wenn was schlimmes passiert ist. Dass es aber so eine und so eine Berichterstattung gibt. Und jetzt ist es so, dass das für die meisten - und für nahezu alle jungen Journalisten - Neuland ist. Wir gehen ja nicht in der Freizeit durch die Straßen und fragen Leute danach, was das Schlimmste ist, was ihnen jemals passiert ist. Und dieses Neuland versuche ich mit den jungen Kolleginnen und Kollegen zu betreten, in der Hoffnung, dass sie vielleicht den einen oder anderen Fehler im geschützten Raum machen, den sie dann draußen im Berufsleben nicht mehr machen.

Nadia Kailouli [00:11:53] Frau Fetscher, sie sind schon sehr, sehr lange dabei als Journalistin, gerade zu der Berichterstattung über sexualisierter Gewalt an Kindern und dem Kinderschutz. Wir wollen die Chance heute nutzen, mit ihnen ein bisschen detaillierter auch in diese Arbeit zu blicken. Können sie uns einen Einblick geben, was man überhaupt berichten darf und was nicht?

Caroline Fetscher [00:12:13] Was man berichten darf und was nicht, hängt von den Gerichten ab. Also das ist eine ganz juristische Frage. Ich darf an sich, zum Beispiel, nicht die Namen von betroffenen Kindern aufschreiben, also den Nachnamen, wenn ein solcher Fall wie das mit dem Staufener Jungen passiert ist. Wenn ich den ganz kurz skizzieren soll: Das war der Fall 2015 bis 2017, da hat eine Mutter mit ihrem Lebenspartner, Lebensgefährten nicht den gemeinsam, sondern ihren Sohn im Internet für Sex angeboten. Das Kind war, glaube ich, es war neun, als die Sache anfing, war elf, als sie aufhörte, so ungefähr. Das Kind war zwischendurch, weil die Familie sehr prekäre Umstände oder Zustände aufgewiesen hat, war das Kind in Obhut genommen worden bei einer Pflegefamilie. Man wusste, dass der Partner der Mutter vorbestraft ist für den Besitz oder die Herstellung von Missbrauchs-Abbildungen, also vulgo Kinderpornografie. Vor Gericht hat die damalige Richterin, das war Frau Voßkuhle, gesagt, sie gibt dem Mann eine zweite Chance, der war wieder auf freiem Fuß, und er soll aber bitte in diesem Setting, mit seiner Partnerin und deren Sohn, keine Freizeitaktivitäten mit dem Kind unternehmen. Ich habe damals geschrieben, hat er auch nicht, es war keine Freizeit, es war Kinderarbeit und zwar, mehr oder weniger, war das ein Kinder-Bordell für dieses Kind und ein anderes war auch noch involviert. Da, bei diesem schweren Fall, den alle Medien vorliegen hatten, über den auch fast alle berichtet haben, war es ziemlich klar, dass man nicht den Namen des Kindes - ich glaube nicht mal den Vornamen hat man richtig, also wahrheitsgemäß berichten können und sollen.

Nadia Kailouli [00:14:10] Ja, das ist dann immer, wenn in Artikeln steht "Name wurde von der Redaktion geändert".

Caroline Fetscher [00:14:14] Genau, Name wird von der Redaktion geändert. Der Name wird auch vom Gericht nicht rausgegeben. Die Verhandlungen mit Kindern finden auch hinter verschlossener Tür statt. Also Verhandlung, in denen ein minderjähriger Mensch aussagt über ein Sexualverbrechen finden statt hinter geschlossener Tür, das ist vollkommen klar. Also das ist nicht, das ist kein Zutritt für die Öffentlichkeit. Das kommt dann immer wieder dazu, dass einzelne Journalisten Einblick in Akten bekommen, meistens durch die Anwälte, und das sind in der Regel Journalisten, die das nicht missbrauchen. Dadurch gab es dann mal, ich kann mich glaube ich im Fall Staufen erinnern, da gab es in der Süddeutschen ganz großartige Berichterstattung. Dadurch gibt es dann manchmal große Hintergrundberichte, die einfach viel mehr erzählen, die das viel plastischer werden lassen, was da los war und zwar ohne daraus eine Sensation zu machen wie in der Boulevardzeitung, wo auf Seite eins steht "So sehr hat die kleine Annika gelitten". Also diese Art von Präsentation von Leid ist natürlich nicht nur unethisch sondern eigentlich im Grunde unzulässig. Aber das ist in so einer Grauzone, wo der Presserat dann auch nicht unbedingt einschreiten kann.

Nadia Kailouli [00:15:28] Jetzt sprechen sie gerade von den Kindern, die geschützt werden müssen, weil sie dann eben den Namen nicht nennen, zum Beispiel, oder Kinder auch in einem geschlossenen Raum verhört werden. Es gibt ja auch viele viele Missbrauchsfälle, wo Erwachsene oder junge Erwachsene, 20-jährige, dann eben davon erzählen oder das zur Anzeige bringen, was ihnen passiert ist, als sie Kinder waren. Wie geht man damit um? Weil da ist ja dann ein volljähriger Mensch, der aber von seiner Kindheit spricht.

Caroline Fetscher [00:15:59] Ja, da kann der Mensch ja selbst entscheiden, in wie weit er zum Beispiel in die Öffentlichkeit gehen möchte. Ich habe mehrfach Leserzuschriften bekommen von Menschen, die solche Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt haben - mein Vater war Pfarrer und er hat meine Schwester und mich usw. Und wollen Sie das nicht als Story? Und ich denke dann, ja, das wäre wahrscheinlich sehr spannend, aber dann frage ich erst, haben sie das bearbeitet? Haben sie es bewältigt? Sind sie in stabilen Verhältnissen? Haben sie eine Therapie gemacht? Überlegen sie sich das gut, bevor sie mit so etwas an die Öffentlichkeit gehen. Denn viele stellen sich das nicht vor, was es heißt, wenn man plötzlich seinen Namen oder seine Geschichte in der Öffentlichkeit hat. In vielen Fällen braucht es ja gar nicht den Namen. Allein die Leute, die die näheren Umstände kennen, die erkennen auch die Person. Und die sagen, Mensch, das war doch deine Geschichte, die da in der Zeitung stand. Und das muss man sich sehr gut überlegen. Und da haben die Medien eben auch einen ethischen Auftrag, Leute nicht in die Öffentlichkeit zu zerren. Also weder gegen deren Willen, sowieso, aber auch nicht die, die sich anbieten.

Nadia Kailouli [00:17:10] Betroffene, die sich äußern, die tun sich ja entweder sehr schwer, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen, oder sie erzählen eben sehr detailliert, wie man damit umgehen kann, hat uns Andreas Unger erzählt.

Einspieler Andreas Unger [00:17:21] Die Frage ist, ob der Grad an Explizitheit einem Ziel dient und ob dieses Ziel gerechtfertigt ist. Also ich gebe ein Beispiel: Ich schreibe über eine Frau, die vergewaltigt worden ist. Und diese Frau erzählt mir diese Tat detailliert und ich entscheide mich, das detailliert wiederzugeben, weil die Frau mir signalisiert, so war es, und deine Leserinnen und Leser sollen es auch wissen. Also sie hat das Bedürfnis, dass die Scheiße, die ihr widerfahren ist, als solche auch genannt wird, dass also sich die Tat nicht hinter so einem unanschaulichen Begriff wie Vergewaltigung verstecken kann. Und wenn ich dieses Signal bekomme, dann weiß ich, ich schreibe es auch so, ich schreib dann auch Details. Es gibt wiederum andere Protagonistinnen und Protagonisten, denen es wichtig ist, nicht zu explizit zu sein.

Nadia Kailouli [00:18:16] In welche Verantwortung kommen sie da als Journalistin? Weil ihre Aufgabe ist ja, darüber zu berichten. Jetzt haben sie uns ja sehr gut geschildert, wie es ist, wenn viele Betroffene sich bei ihnen melden und sagen, hey, sie haben die und die Story geschrieben, ich habe aber auch eine, und sie dann eben auf einmal in diese, ja, aufklärerische Rolle kommen zu sagen, Moment mal, vielleicht ist es gar nicht so gut für dich, wenn ich jetzt darüber berichte. Wie finden Sie da die Balance zwischen Journalistin sein und vielleicht, ja, ich weiß gar nicht, gibt es da auch den Vorwurf des Aktivismus?

Caroline Fetscher [00:18:45] Oh, sicher! Och, jetzt schon wieder Kinderschutz, och, schon wieder so ein Thema. Also sowas hören Kollegen ganz sicher, und Kolleginnen, die sich sehr häufig und intensiv damit beschäftigen. Ich denke, es ist für jeden und jede, die sich damit viel beschäftigt, gut, auch andere Sachen zu machen. Man soll nicht Campaigner sein, man möchte Aufklärer sein. Und ich habe eine ganze Reihe von Themen, sehr, sehr viele Themen. Ich mache auch politische Kommentare, ich beschäftige mich auch mit außenpolitischen Sachen, mit Krisenintervention, ich war im Kosovokrieg als Reporterin und so weiter. Also einfach auch tatsächlich den Horizont erweitern, das finde ich sehr wichtig. Denn wenn man wirklich nur fixiert ist auf solche Themen, dann läuft man Gefahr, bei jedem, fast jedem Thema, was emotional stark belastend ist, läuft man Gefahr, ins Burnout zu kommen oder abzustumpfen. Also das ist jetzt ein bisschen ein Gemeinplatz, aber das ist so und das ist mit diesen Themen auch so.

Nadia Kailouli [00:19:47] Sie hatten eben den Satz gesagt, dass sie dann ihre Aufgabe auch darin sehen, das an die Öffentlichkeit zu bringen. Wir Journalisten gehen ja oft eben an die Themen ran mit der Begründung, das ist von öffentlichem Interesse. Wann ist denn ein Missbrauchsfall von öffentlichem Interesse?

Caroline Fetscher [00:20:03] Erinnern sich an die Zahl, die sie genannt haben? Ein oder zwei Kinder in jeder Schulklasse sind betroffen von in irgendeiner Form sexualisierter Gewalt oder Übergriffigkeit durch erwachsene Personen. Das ist von gesellschaftlichem Interesse. Es hat auch mal ein, ich glaube, schwedischer Wissenschaftler war das, die Folgekosten errechnet, die so ein traumatisierter Mensch, so ein traumatisiertes Kind für den Rest seines Lebens kosten wird. Von allem angefangen, also von medizinischen Behandlungen, Therapien, eventuell, ja, ist da eine zerbrochen oder gebrochene Berufskarriere. Es kann sein, dass die künftige Familie drunter leiden wird, weil Missbrauch oft weitergegeben wird von Täterinnen. Also Täterinnen und Täter sind oft selber Opfer gewesen. Die Kosten pro Kind, ich glaube er hatte da sowas damals errechnet, das war 2014/15, von ungefähr eine Viertel Million Euro pro Kind kostet uns das, als Staat, als Gesellschaft. Und ich sage immer, selbst wenn wir nicht empathisch sind, sollten wir uns mal überlegen, das kostet ganz schön viel. Also, das können wir uns eigentlich gar nicht leisten, das brauchen wir auch gar nicht. Es ist ja destruktiv, dem zuzugucken und konstruktiv, sich zu überlegen, wie können wir dagegen vorgehen? Dazu braucht es den Mut, es braucht diese Courage zu sagen, es gibt es: Eins, zwei, es gibt ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Ich kenne Lehrer, die mir gesagt haben, das kann nicht sein. In den 20 Jahren, die ich unterrichtet habe, habe ich kein einziges solches Kind erlebt. Das heißt, sie haben nicht hingesehen, sie hatten keine Handhabe oder hatten kein...Gespür vielleicht, oder die Intuition, aber dann haben sie das weggewischt, und sie haben nie gelernt, auf was muss ich achten, wie kann ich fragen, an wen kann ich mich wenden, wenn ich einen Verdacht habe? Diese Angst zu verlieren vor der Denunziation, das finde ich enorm wichtig. Ein gefährdetes Kind zu melden, ist Kinderschutz und ein gefährdetes Kind nicht zu melden ist Täterinnen- und Täterschutz. Das muss man sich wirklich ganz klar machen.

Nadia Kailouli [00:22:33] Wie sieht das in der Berichterstattung mit dem Täterschutz aus? Wir haben ja darüber gesprochen, wie der Kinderschutz oder der Opferschutz aussieht. Aber schützt man oder sollte man in der Berichterstattung auch den Täter schützen?

Caroline Fetscher [00:22:43] Selbstverständlich hat nach Artikel eins des Grundgesetzes jeder Mensch eine Würde, die unantastbar ist. Und dieser Täter und die Täterin waren ja selber meistens auch Opfer. Aber diese Geschichte zu erzählen finde ich enorm wichtig. Also zu erzählen, wo kommt das her? In der vorigen, in der vorvorigen, in der vor vor vorvorigen Generation. Meistens, bei schweren Taten, behaupte ich, sind drei Generationen beteiligt. Zwei reichen nicht. Um also Lügde herzustellen, dieses Setting mit dem Mann, der sein Stiefsohn oder seinen Pflegesohn so bestialisch missbraucht hat und das gefilmt und tausendfach verkauft hat usw., das ist die Geschichte mit der Gartenlaube. Also da reicht eine Generation nicht und zwei Generationen auch nicht aus, meiner Ansicht nach. Also zumindest das Verständnis zu wecken, dahinter steckt viel, viel mehr. So ein Täter ist nicht ein Monster, das auf die Welt kam als Monster. Gar kein Täter, niemand, keine Täterin, auch kein Despot, kein Tyrann, kein Herrscher, gar niemand kommt so auf die Welt, als Bestie oder als Monstrum. Allein dieses Verständnis zu schaffen, finde ich schon wichtig. Und das heißt nicht entschuldigen. Verstehen ist nicht entschuldigen und Verstehen ist nicht Verständnis haben ja, sondern es ist begreifen, es ist erfassen.

Nadia Kailouli [00:24:11] Wenn wir jetzt nochmal zurückauf die Betroffenen kommen, auf die Opfer kommen. Wenn es jetzt Fälle sind von Kindern, wo in der Berichterstattung das Kind geschützt wird, wie sieht es da mit der Familie aus? Weil die Berichterstattung zeigt oft auch ziemlich detailliert, was da passiert ist, wer der Täter ist, in welchem Raum es passiert ist. Und dann lesen das Angehörige, Großeltern, Onkel, Tante. Ist es gut, wenn man sich das durchliest?

Caroline Fetscher [00:24:37] Also, ich bin vielleicht völlig anderer Meinung als die meisten. Ich finde, es muss alles raus ans Licht. Alles. Also solange eine Familie sagt, da hinten ist irgendwo, bei dem Cousin ist eine Schweinerei passiert, da wollen wir alle nicht drüber reden, so lange verändert sich nichts in der Gesamtgesellschaft. Also warum kann man drüber reden, dass jemand einen Motorradunfall hatte? Weil er so saublöd und unvorsichtig gefahren ist. Da können alle drüber reden, ja, schau mal da, und das hat er davon und so weiter. Warum kann man nicht über diese Dinge reden, die bisher so tabuisiert waren, aber die einfach ans Licht gehören? Denn ohne, dass wir das enttabuisieren, kommen wir nicht richtig weiter. Wir kommen nicht zu diesen ein, zwei Kindern pro Klasse hin. Das darf dann so wenig tabu sein, dass auch der Lehrer das schon in seiner Familie erlebt hat, dass man über so Sachen spricht. Ja, das hat es gegeben, das war nicht in Ordnung. Ja, das hat es gegeben, da haben wir was gesagt. Oder das hätte der gerne gemacht, das haben wir nicht zugelassen. Wenn eine Lehrerin und ein Lehrer schon sozusagen in einem Umfeld aufgewachsen sind und in ihrer Ausbildung an der Universität schon verstanden haben, wie man gucken muss, dass man gucken kann auf solche Fälle und ein bisschen was begriffen haben von Psychotraumatologie. Wenn eine Lehrerin, ein Lehrer ein solches Grundverständnis hat, dann kann die mit dem Kind sprechen, dann kann die oder der mit den Verwandten sprechen, dann können die Verwandten anfangen, untereinander zu sprechen. Und da finde ich, ist nicht die Berichterstattung, also sozusagen die Diskretion der Berichterstattung ist nicht das Hauptproblem, sondern die Ethik der Berichterstattung. Das heißt, wenn ich über die Familie erzähle, wie erzähle ich dann? Nicht eben "So leidet die Mutter der kleinen Anna" oder so weiter, das ist einfach nicht die Art, wie man schreiben sollte. Also das Ausstellen von Leid.

Nadia Kailouli [00:26:37] Können sie uns ein Beispiel vielleicht versuchen zu geben? Wie berichtet man am respektvollsten? Also ich weiß, sie können jetzt hier nicht einen Artikel runtereißen, aber...

Caroline Fetscher [00:26:44] Das ist eine Haltung und das muss man spüren, wenn man liest. Die Haltung wäre eine von Empathie und gleichzeitig Distanz. Das heißt, ich bohre mich nicht da rein in die Geschichte, sondern ich schaue die an und ich stelle mir vor, um Gottes Willen, das muss sehr, sehr, sehr viel Leid erzeugt haben, das begreife ich. Und es sind Dimensionen, die kann ich selber nicht erfassen. Aber ich kann begreifen, dass es die hat. Ja, und dann gehe ich einen Schritt zurück und sage, okay, was hätte es gebraucht? Was braucht es? Was ist geschehen? Was waren die Bedingungen dafür, dass das geschehen konnte? Und was wird es brauchen dafür, dass es nicht wieder geschehen kann? Und in dem Staufener Fall, zum Beispiel, da habe ich mich privat tatsächlich mal erkundigt, ob nicht ein Spendenkonto für den Jungen eingerichtet werden kann, der jetzt in einer Pflegefamilie lebt, weil es so was manchmal gibt, auch für Opfer rassistischer Gewalt und so, dass man sagt, wenn jemand als Kind was erlebt hat, dass der dann wenigstens im Alter der Volljährigkeit, dass der dann eine kleine Sockel-Summe hat, um eine Ausbildung anzufangen, ein Studium anzufangen. Und sowas haben Zeitungen auch schon gemacht in solchen Fällen von rassistischen Übergriffen, dass sie dann aufgerufen haben zu so einer Spende. Bei dem Jungen geht es nicht, bei dem Kind, aus verschiedenen rechtlichen Gründen, aber soweit darf es manchmal schon gehen und das indiskrete Berichten hat ein Zungenschlag. Das unterscheidet sich, das spüren sie beim Lesen, das merken sie. Lerne ich da was oder lerne ich da nichts? Bin ich nur voyeuristisch herausgefordert oder ergreift mich da auch etwas? Oder ist das auch eine kognitive und politische Herausforderung, dass ich darüber nachdenke? Moment mal, warum habe ich da eigentlich bisher noch nichts gesagt bei dem Fall soundso, den ich doch kenne? Oder was haben eigentlich die Politiker vor im Bundesfamilienministerium, wenn sie das angehen wollen? Was kann ich in meinem Beruf eventuell da auch tun? Als Erzieherin, als Professor, als Lehrerin, als...und so weiter. Also, wenn mich ein Text auch herausfordert nachzudenken, dann würde ich sagen, ist er ethisch in Ordnung. Und das ist nicht die Frage, ob ich jetzt sage, im Kinderzimmer gibt es rote Gardinen, das ist dann zu detailliert, das ist zu intim. Das ist nicht der Punkt, um den es geht. Die Haltung, ist das, worum es geht.

Nadia Kailouli [00:29:24] Sie haben gerade das Streitwort im Journalismus erwähnt: Voyeurismus. Sie sind schon ein bisschen länger dabei in diesem Beruf. Wie hat sich das für sie verändert? Ist Voyeurismus am Ende das, was uns geholfen hat in der Berichterstattung oder geschadet?

Caroline Fetscher [00:29:41] Voyeurismus hilft nie. Da gibt es überhaupt nichts dran zu rütteln. Aber den haben alle. Alle wollen das wissen, egal, ob das irgendwie Prinz Charles und Camilla ist oder was ist da Schreckliches passiert am Ende der Straße, als da der Polizeiwagen kam? Jeder Mensch hat das in irgendeiner Weise. Keiner ist davon frei. Also vielleicht ein alter Eremit, der als Philosoph auf der Bergspitze lebt und nichts mehr sieht und kein WLAN hat, natürlich. Aber wir sind alle in gewisser Weise voyeuristisch. Nur hilft uns das als Haltung nicht voran. Ich glaube, es kann ein ganz bisschen helfen, das Interesse zu wecken. Meinetwegen an diesem Fall Lügde oder an dem Fall Staufen, zu sagen, guckt mal, Leute, da ist was wirklich Schreckliches passiert. Aha, das will ich wissen, da will ich mehr davon wissen. Zunächst mal als Reaktion eines Lesenden ist das voyeuristisch. Aber dann zu sehen, ach so, oho, da steckt mehr dahinter und darüber muss ich reflektieren, darüber will ich mit anderen diskutieren, das ist dann die nächste Stufe. Also man kann diesen Funken Voyeurismus, der nicht ausbleibt, bei gar keinem affektiv berührenden Thema, den kann man schon nutzen, um ein besseres Feuer anzuzünden als nur ein sensationsgieriges.

Nadia Kailouli [00:31:10] Ich möchte aus ein paar Schlagworten versuchen, eine Schleife zu schlagen. Und zwar sagten sie gerade WLAN, ja, da kommen wir zu den digitalen Medien, alles das, was wir schreiben, kann ich irgendwann auch im Netz abrufen und das über Jahre hinweg. Was heute veröffentlicht wird, bleibt eigentlich für immer im Netz. Und da gehen wir wieder auf den Kinderschutz und eben diese detaillierte Beschreibung von dem Tatort, von der Tat. Jedes Opfer als Kind wird groß und kann seine Geschichte irgendwann vielleicht im Internet wiederfinden. Was ist da so ihre Erfahrung?

Caroline Fetscher [00:31:46] Ich habe was gelesen, was ich prima finde, was zum Beispiel Kliniken machen mit Kindern, die schwer misshandelt wurden, blaue Flecken, Striemen usw., und die auch von ihrem Elternhaus rausgenommen werden, also Inobhutnahme nennt man das ja im Jargon des Jugendamts. Früher hat man gesagt, ach, das Kind soll gar nichts davon wissen, du kommst in eine Pflegefamilie und am besten soll es ganz vergessen, was da früher war. Heute sagt man, wir fotografieren das, wir sprechen mit dem Kind drüber. Das Kind kriegt ein Fotoalbum mit - nicht nur von den Striemen und den blauen Flecken, auch von der Zeit in der Klinik, der Übergang in die Pflegefamilie, was man noch hat aus der alten Familie. Das heißt, man schenkt dem Kind Erinnerungen. Ob die Medien das tun, wenn ein Kind später nachschaut, das war mein Fall - wie weit das für ein Kind wichtig oder für einen dann erwachsenen Menschen wichtig oder unwichtig ist, kann ich nicht wirklich beurteilen. Eins wird das Kind sehen, auch, sagen wir mal, der Staufener Junge sehen: Die ganze Welt hat sich drum gekümmert. Es war Unrecht. Und viele, viele, viele Leute haben gesagt, das darf nicht sein. So darf man mit Kindern nicht umgehen. Und das kann auch ein Trost sein.

Nadia Kailouli [00:33:03] Kommen wir zurück zu dem Thema Berichterstattung und die Folgen daraus. Und da denke ich ganz speziell an diejenigen, die einen Bericht lesen, eine Geschichte lesen über einen Fall und vielleicht selbst im jugendlichen Alter sind und erkennen, oha, ich habe auch so eine Geschichte. Wie verantwortungsvoll muss man Geschichten erzählen von anderen, die auch jeden anderen eben betreffen können, die zwar nicht in dieser Geschichte involviert sind, aber daraus an ihre eigene Geschichte erinnert werden?

Caroline Fetscher [00:33:37] Also im besten Fall werden sie daran erinnert. Es kann auch vorkommen, dass Leute sagen, ich erinnere mich zum allerersten Mal an so was. Und im allerbesten Fall bringt die Geschichte selbst, also der Text, der Bericht, die Reportage einen Hinweis darauf, an wen sich so jemand wenden kann. Also, dass, wenn da meinetwegen der UBSKM erwähnt ist, wenn da eine Hotline für Kinderschutz erwähnt ist, wenn da...die Telefonseelsorge wird manchmal einfach nur als erste Anlaufstelle auch genannt, zum Beispiel in Berichten über Suizide, was extrem wichtig ist. Das macht jetzt fast jedes Medium inzwischen. Wenn sie selber solche Gedanken haben, dann rufen sie diese Nummer an! Also ich finde es nicht schlimm, dass jemand erinnert wird an seine Geschichte. Das ist ein zu steriles Denken, wenn man sagt, das soll nicht triggern, das soll nicht traumatisieren - die ganze Welt kann mich triggern, wenn ich was erlebt habe, was schlimm war. Da stand vielleicht im Regal bei meinem Onkel irgendeine Sport-Trophäe und immer wenn ich eine Sport-Trophäe sehe, fühle ich mich getriggert. Das lässt sich überhaupt nicht ausschließen. Und es ist auch nicht schlimm, weil es ist mir an sich die Chance gibt, darüber nachzudenken, Moment mal, da habe ich etwas nicht bewältigt, da will ich vorankommen, das will ich wissen. Ich will mir Hilfe suchen, ich brauche Hilfe. Diese Art von Sterilität des Schreibens, wo dann zum Schluss weder Name noch Ort, noch Schilderung, noch Tatvorgang, wo dann gar nichts mehr drinsteht, da kommen wir nirgends hin. Das sind dann schalldichte Kästen.

Nadia Kailouli [00:35:35] Kommen wir zu der Tat. Wie detailliert erzählen wir von der Tat?

Caroline Fetscher [00:35:47] Also ich hab ein paar Prinzipien. Es muss so beschrieben sein, dass kein Täter sich daran auch nur im Allergeringsten befriedigen kann. Das heißt das darf nüchtern, klinisch etc.. Es gibt auch bestimmte Worte, die ich vermeide. Ich schreibe nicht nackt, ich schreibe unbekleidet. Da habe ich das Wort Kleid drin. Es sagt dasselbe aus. Aber das Wort "nackt" hat schon fast sozusagen eine intime und intimisierende, entblößende Assoziation und "unbekleidet" klingt anders. Es gibt solche Dinge, auf die achtet jeder und jede Journalistin individuell anders, denke ich mal. Aber ich habe ein paar Prinzipien bei Berichten. Aber ich finde durchaus, dass eine Tat genannt sein muss, dass man eben nicht drüber weg huscht, da ist was Schlimmes passiert. Das ist genau dasselbe Tabu unter dem falschen Rubrum "Ich will nicht triggern, du sollst nicht triggern.", wird dann genauso tabuisiert wie die Oma, die gesagt hat, ach, da wollen wir nicht drüber reden, das ist doch gar nicht schön. Och, das war doch gar nicht, nein, nein, nein - da machen wir dasselbe, wir machen dasselbe nach. Wir müssen gute Worte finden, klare Worte, die trotzdem nicht falsche oder, sage ich mal, unerwünschte Affekte und Effekte haben.

Nadia Kailouli [00:37:13] Wie ist das für sie als Journalistin? Wie machen sie sich frei davon? Oder vielleicht wollen sie sich davon gar nicht frei machen, zu berichten, aber nicht zu helfen? Oder läuft das immer Hand in Hand? Sind sie nicht immer irgendwie...

Caroline Fetscher [00:37:29] Ich sage ja ich bin Berichterstatterin und nicht Aktivistin. Vielleicht in gewisser Weise Campaignerin insofern, als ich aufklären will. Das wollen sehr viele Kollegen, das wollen auch die Kollegen, die über den Klimaschutz berichten oder über Corona. Wir wollen aufklären und wir wissen auch nicht alle Antworten, aber wir wollen zumindest den Stand der Erkenntnis weitergeben und das ist hilfreich in sich. Also ich denke, wenn das, was wir an sinnvollen Informationen in die Welt geben und an Haltungen zeigen, von Leuten als, ja, ich sage mal Inspiration oder als Assistenz, als Hilfe begriffen wird, dann haben wir auch mitgeholfen. Also wir sind ja nicht Sozialarbeiter in dem Sinn. Wir können aber versuchen, jetzt, in dem Fall sexualisierte Gewalt gegen minderjährige Menschen, können wir versuchen uns vorzustellen, das liest jetzt eine Kita-Erzieherin und die sagt sich, hmm, ich möchte auch mal so einen Workshop machen. Ich will darüber auch mal mehr wissen. Ich will auch lernen, wie man da mit Eltern oder Großeltern drüber redet, wenn man einen Verdacht hat. Also dann ist schon viel geschehen. Und ich finde, wir sind außerordentlich privilegiert als Journalistinnen und Journalisten, dass wir Informationen verbreiten dürfen und Dinge, die uns am Herzen liegen, erklären dürfen.

Nadia Kailouli [00:39:04] Caroline Fetscher, ich danke ihnen sehr, dass sie uns heute einen so intensiven Einblick gegeben haben in ihre journalistische Arbeit, gerade was die Berichterstattung zu sexualisierter Gewalt betrifft. Vielen Dank.

Caroline Fetscher [00:39:15] Sehr gerne.

Nadia Kailouli [00:39:17] Oh, das war für mich wirklich ein super spannendes Gespräch. Weil das so viele Einblicke darin gibt, warum Berichterstattung über sexualisierte Gewalt an Kindern eben so wichtig ist, aber eben, wie behutsam man damit umgehen muss. Und ich fand genau wie sie das so beschrieben hat, sie schreibt nicht nackt, sie schreibt unbekleidet. Das ist so ein Satz, der so wichtig bei mir in Erinnerung bleibt, weil man daran eben erkennen kann, wo die Nuancen liegen, um diese Berichterstattung, die wir alle brauchen und die wichtig ist, eben respektvoll zu machen.

Mehr Infos zur Folge

In dieser Folge sprechen wir mit ihr darüber, wie Berichterstattung über sexualisierte Gewalt gelingen kann. Warum sie der Meinung ist, dass es nahezu unmöglich ist, mit Berichterstattung nicht zu triggern. Warum Sie das Wort “nackt” nicht verwendet, sondern stattdessen “unbekleidet” schreibt. Und wie es gelingen kann, Voyeurismus zu nutzen, damit Menschen sich auch jenseits der Sensation für das Thema interessieren.   

Wie journalistischer Nachwuchs auf den Umgang mit traumatisierten Interviewpartner:innen vorbereitet werden kann, weiß Andreas Unger, Journalist und Autor des Buches „Begegnung mit dem Leid“. Er gibt regelmäßig Seminare zum Thema an Journalistenschulen und hofft, dass junge Journalisten lernen, unsensible Berichterstattung zu vermeiden.

Mehr Informationen und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Auf der Website des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs gibt es Tipps für die Interviewführung zum Thema sexuelle Gewalt: https://beauftragter-missbrauch.de/presse/ueber-missbrauch-berichten/12-tipps-fuer-eine-sensible-berichterstattung-ueber-betroffene-sexueller-gewalt 

Auf der Website sind außerdem Tipps zum Umgang mit Medien für Betroffenen veröffentlicht: https://beauftragter-missbrauch.de/presse/ueber-missbrauch-berichten/12-tipps-fuer-den-umgang-mit-medienanfragen 

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Medienberichterstattung über sexuellen Kindesmissbrauch“ von Prof. Dr. Nicola Döring und Roberto Walter (2020) sind hier einsehbar: https://www.nicola-doering.de/wp-content/uploads/2020/07/Qualit%C3%A4tskriterien-Berichterstattung-Kindesmissbrauch-D%C3%B6ring-Walter-2020.pdf

“Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las Vegas.” heißt das aktuelle Buch von Caroline Fetscher.

Hilfe und Informationen zu sexuellem Missbrauch gibt es beim Hilfe-Portal und beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

presse@ubskm.bund.de

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