Podcast | Folge: 90 | Dauer: 40:51

Vom Pflegebruder missbraucht – warum schreibst du jetzt darüber, Joe Bausch?

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[00:00:02.420] - Joe Bausch

Wie kannst du etwas erzählen, was du gerade langsam erst anfängst zu begreifen? Wie willst du das Menschen erzählen, die mit dir keinen einzigen Ton über Sexualität geredet haben? Wie willst du das erklären, wenn die einzige Aufklärung, die du auf dem Bauernhof mitbekommen hast, die ist, wie du siehst, wie Schweine oder wie Rinder zum Eber oder zum Bullen getrieben werden?

[00:00:31.910] - Nadia Kailouli

Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.

[00:00:54.560] - Nadia Kailouli

Die Stimme, die ihr gerade gehört habt, die kennt ihr natürlich. Das ist der immer etwas bärbeißige Gerichtsmediziner aus dem Kölner Tatort. Gespielt wird er von Joe Bausch, der auch im wirklichen Leben als Mediziner gearbeitet hat. Über 30 Jahre lang als Gefängnisarzt. Joe Bausch hat jetzt ein neues Buch geschrieben, „Verrücktes Blut: Oder: Wie ich wurde, der ich bin", heißt es. Darin erzählt er von seinem Vater, einem jähzornigen Mann, der keine Schwäche duldete, von einer rauen Kindheit auf dem Bauernhof mit viel Arbeit und wenig Unbeschwertheit. Und Joe Bausch schreibt auch über den 13 Jahre älteren Pflegesohn der Familie, der ihn als Kind jahrelang missbraucht hat. Heute ist er unser Gast bei einbiszwei.

[00:01:36.160] - Nadia Kailouli

Triggerwarnung. In dieser Folge gibt es explizite Schilderungen sexueller Gewalt. Wenn es dir damit nicht gut geht, dann höre diese Folge besser nicht.

[00:01:45.970] - Nadia Kailouli

Ich sage herzlich willkommen bei einbiszwei: Joe Bausch. Ich grüße Sie.

[00:01:49.750] - Joe Bausch

Guten Tag. Hallo. Hi.

[00:01:51.220] - Nadia Kailouli

Wir sind uns zugeschaltet. Ich finde es super, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben und dass wir Sie hier für unseren Podcast gewinnen konnten. Ich würde aber gerne ganz woanders anfangen. Und zwar auch bei ihrer Kindheit, aber vor allem da, wo Sie aufgewachsen sind und wie Sie aufgewachsen sind. Man kennt Sie von Talkshows. Man kennt Sie als Schauspieler und wenn man Sie so erlebt, auch ich, ich habe Sie natürlich vorher auch schon gesehen, dann dachte ich immer der Joe Bausch, das ist echt ein cooler Typ, der steht so da und der ist so stark. Und was aber sich nicht so vermittelt ist: Joe Bausch ist in der Zeit groß geworden und aufgewachsen, in der Nachkriegszeit. Wenn ich das so sage, was macht das mit Ihnen?

[00:02:30.890] - Joe Bausch

Ja gut, das besorgt mir Erinnerungen, gar keine Frage. Also Nachkriegszeit, das sagt mir was. Ich bin am 19. April 1953 geboren. Ich dachte immer, Nachkriegszeit ist so 45 bis 50 oder so was. Aber ich bin aufgewachsen und geboren im Westerwald und auf einem Dorf und da vergeht die Zeit ein bisschen langsamer. Das heißt, da war wirklich noch Nachkriegszeit.

[00:03:03.100] - Nadia Kailouli

Wie würden Sie sagen, wenn Sie heute als erwachsener Mensch darauf gucken, wie Ihre Kindheit verlaufen ist, wie würden Sie das beschreiben?

[00:03:11.590] - Joe Bausch

Schwarz-weiß. Also, wenn ich daran denke oder wenn ich mich daran erinnere, dann sehe ich schwarz-weiße Bilder vor mir, auch wenn es sicherlich damals schon Farbe gab. Aber meine Erinnerung ist wirklich schwarz-weiß. Auch meine Träume, die ich lange Zeit hatte aus dieser Zeit, waren interessanterweise halt eben in schwarz-weiß und nicht in Color. Und so ungefähr war es halt eben auch. Man darf nicht vergessen, der Westerwald ist nicht unbedingt eine wohlhabende Gegend. Es ist da unten im Süden des Westerwaldes auch nicht ganz arm, aber es ist eine Gegend, in der die Menschen hart arbeiten mussten für ihr Überleben, für ihr Einkommen und damit sie halt im Endeffekt, ja, drei Generationen auf einem Bauernhof ernähren konnten. Weil so war das auf einem Bauernhof. Die Alten, die dort lebten, die mussten ja auch versorgt werden, die hatten ja keine Rente oder nicht in Renten einbezahlt. Das heißt, sie mussten von der Generation in der Mitte versorgt und ernährt werden und die Jüngeren halt eben auch. Und das war schon ein hartes Brot.

[00:04:25.790] - Nadia Kailouli

Als Sie jetzt gerade schwarz-weiß erwähnt haben, habe ich an „Das weiße Band" gedacht, an den Film „Das weiße Band". Und dieser Film hat ja auch was mit Ihnen gemacht, richtig?

[00:04:35.870] - Joe Bausch

Ja, klar. Ich habe diesen Film 2009 gesehen. Ich weiß noch ganz genau, es ist nicht umsonst, dass ich mein Buch mit dieser Szene anfange, dass ich diesen Film sehe. Und dieser Film hat mich in einer Art und Weise mitgenommen, im wahrsten Sinne des Wortes, also sowohl emotional als auch mitgenommen auf eine Erinnerungsreise, die ich schon eigentlich für abgeschlossen hielt. Und ich habe den Film dreimal gesehen und danach wurde es emotional immer noch nicht besser. Aber ich habe damals eigentlich die erste Entscheidung getroffen, diese Geschichte mal, mal festzuhalten. Mal wieder zu schreiben. Damals noch gar nicht in der Absicht, daraus ein Buch zu machen, sondern einfach eher so aus dem Impetus heraus, dass das etwas ist, das ich gerne für die Nachwelt, vielleicht für meine Tochter oder für Menschen, die mich kennen, festzuhalten. Und da war der Gedanke das erste Mal geboren, über diese Zeit auch zu schreiben. Weil ich erkannte, mich zu Teilen, ich erkannte meinen Vater wieder. Der Film spielt im Jahr 1913/14, also im Geburtsjahr meines Vaters, und ich konnte mir mehr als gut vorstellen, dass diese Erfahrungen, die dort im Film auch gezeigt wurden, dass das etwas war... Ich habe meinen Vater zum ersten Mal da gesehen und ich habe ihn verstanden und habe mir gedacht: „Das war seine Kindheit." Über die Kindheit meines Vaters hatte ich vorher nie nachgedacht groß. Aber dann fing es an, und dann habe ich mich auch intensiver damit beschäftigt.

[00:06:14.300] - Nadia Kailouli

Das Buch, das Sie ansprechen, ist Ihr neues Buch, das da heißt: „Verrücktes Blut: Oder: Wie ich wurde, der ich bin". Sie sprechen, über dieses Buch wollen wir natürlich heute auch intensiver sprechen. Jetzt haben Sie Ihren Vater beschrieben, wie Sie ihn wiedererkannt haben durch den Film. Würden Sie sagen, Sie haben Ihrem Vater auch in gewisser Form dann diese Strenge und Härte, die Sie ja aufgrund der Zeit, in der Sie geboren worden sind und der Situation, die Sie aber auch als Kind gespürt haben, auch ein bisschen verziehen haben?

[00:06:45.140] - Joe Bausch

Absolut. Ich hatte ihm das schon vorher verziehen, weil Kinder lieben ihre Eltern, egal was ist und meinen Vater auch geliebt, gar keine Frage. Aber ich habe zum ersten Mal auch einen Einblick bekommen, eine Vorstellung davon bekommen, wie er aufgewachsen ist. Und ich habe mir dann überlegt: „So ist der aufgewachsen." Sein Vater kam aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause, war ein verwundeter „Krüppel". Mein Vater musste mit zwölf, 13 Jahren schon Aufgaben übernehmen, die man heute keinem 30-Jährigen zumuten würde. Er war der Älteste, so wie ich selbst auch. Mein Vater hat das alles geschafft und wurde dann aber trotzdem auch 1942 oder 43 noch in den Krieg geholt. Ich glaube 42. Hatte er selber Kriegserlebnisse, über die er erzählt hat, die ich als Kind auch mitgehört habe. Ich saß meistens unter dem Küchentisch und habe gehofft, dass man mich nicht entdeckt, um möglichst viel davon aufzusaugen. Natürlich sind das Geschichten von Härte, von Lieblosigkeit, von Gewalt auch, die mein Vater erlebt hat. Und da kann ich sagen: „Gut, also es ist eigentlich ein großes Glück und eine große Leistung von ihm gewesen, die Entwicklung von 1913 als Kind bis zu dem Mann, der 1983 starb, im Alter von 70 Jahren, hingekriegt zu haben." Das muss man heute einfach mit großem Respekt so sehen. Und da ist es nicht nur so, dass man ihm verzeiht, sondern dass man das noch mal sich vor Augen führt. Ich glaube, diese Generation, die halt einfach als Kind schon in den Krieg geboren wurde, den nächsten Krieg als Jugendliche, noch bevor sie geheiratet haben, als junge Männer erlebt und dann auch überlebt haben. Die gesehen haben, dass zwei ihrer Brüder, die beiden jüngeren Brüder meines Vaters, es waren insgesamt vier, sind an einem Unfall gestorben. Der andere an Blinddarmentzündung, ist er gestorben. Wenn man das erlebt hat, dann wird einem klar, dass die, ich sag mal, diese Generation hat eigentlich, es ist ein Wunder, dass die auch noch ab und zu gelacht haben, sich Geschichten erzählt haben, über die sie lachen konnten. Das muss man wirklich im Nachgang noch als großes Geheimnis begreifen.

[00:09:07.240] - Nadia Kailouli

Nun haben Sie persönlich ja darüber hinaus noch anderes erlebt, Schweres erlebt und zwar Missbrauch erlebt. Darüber schreiben Sie auch in Ihrem Buch. Warum haben Sie sich entschieden, diese Missbrauchserlebnisse zu veröffentlichen und darüber eben so transparent, wie Sie es ja tun, in Ihrem Buch zu schreiben?

[00:09:28.120] - Joe Bausch

Ich kann Ihnen das sagen: Als ich das erste Mal über das Buch nachgedacht habe, hatte - ich denke immer filmisch und schreibe auch filmisch - hätte ich das Buch mit so einer Missbrauchsszene begonnen und das ist eigentlich der Lektorin zu verdanken, dass es anders gekommen ist. Weil wir haben lange darüber gesprochen und wir haben auch darüber gesprochen, ob diese Szenen, ob diese Erlebnisse in das Buch hinein kommen oder nicht. Und alleine die Tatsache, dass wir so lange darüber gesprochen haben, auch über Scham usw., haben mir noch mal klargemacht: „Ich muss darüber schreiben." Es kann nicht sein, die Opfer haben überhaupt keinen Grund zur Scham und es wäre mir vorgekommen, als würde ich mich im Nachgang noch mal irgendwo für etwas schämen, wofür es überhaupt keinen Grund gab. Niemals. Weder damals noch später, geschweige denn heute. Dann wird darüber geredet, heute: „Das kann man doch ruhen lassen und so", das wollte ich nicht. Und ich habe ja nun mal auch die Erfahrung gemacht, als ich mit meiner Mutter über dieses Thema sprechen wollte. Das war ungefähr in der Zeit, als meine Tochter ungefähr so alt war wie ich, als der Missbrauch begann, also zwischen vier und fünf. Hat damals die Unterhaltung darüber, das vorsichtige Bohren von mir halt eben abgeblockt. Sie hat damals gesagt: „Erzähl mir was anderes, das will ich jetzt nicht, das Thema will ich nicht." Und ich habe es dann sein lassen. Und ich kann mich erinnern, ich fand das unheimlich verletzend damals. Und ich habe es auch meiner Mutter natürlich verziehen. Klar. Meine Mutter hat darum gekämpft, dass das Ansehen auch der Familie, aber auch das Andenken an den Pflegebruder halt einfach intakt blieb und so zumindest auch ihre Erinnerung an das, was da war, unbeschädigt blieb.

Aber wissen Sie, ich bin mittlerweile schon selber ein alter Mann, 71, ich darf über meine Geschichten schreiben und ich habe einfach gedacht: „Okay, alleine die Tatsache, dass ich drüber nachdenke, ob es hineingehört oder nicht, es sind so viele Sachen da drin, die für mich genauso wichtig sind. Und dann machst du das." Und das Zweite ist, ich habe, seitdem ich darüber gesprochen habe - ungefähr ab meinem 20. Lebensjahr konnte ich darüber reden schon mit meiner Freundin, mit guten Freunden, Bekannten konnte ich das - habe ich so viele Menschen getroffen, denen ähnliches passiert ist, dass ich denke: Wir sind schon verdammt viele, dass ist nicht die Ausnahme, sondern es ist oft.

Schließlich auch noch ein weiterer Aspekt: ich kämpfe seit jetzt 27 Jahren an der Seite von Klaus Behrendt und Dietmar Bär in Tatortvereinen Straßen der Welt e.V. für die Kinderrechte weltweit. Und wir setzen uns seit dem Tatort Manila ganz entschieden halt eben auch für die Rechte von Kindern weltweit ein. Aber auch besonders: Wir engagieren uns gegen sexuellen Missbrauch durch Tourismus oder was auch immer, in der Familie, ganz egal. Und das mache ich seit mittlerweile 26 Jahren. Und dann meine eigene Geschichte zu erzählen und etwas außen vor lassen, was ich auch kenne und was mich ja auch mit den Menschen verbindet, für die ich da kämpfe und eintrete, das hätte ich wirklich als das hätte ich schäbig gefunden.

[00:12:58.420] - Nadia Kailouli

Sie haben es gerade angesprochen: Der Missbrauch hat stattgefunden durch Ihren Pflegebruder, der Pflegesohn Ihrer Eltern. Und Sie haben gerade die Kinderrechte angesprochen, für die Sie sich seit Jahren einsetzen. Würden Sie sagen, zu Ihrer Zeit, als Sie ein Kind waren und Ihnen das passiert ist, war das Thema Kinderrechte gar nicht geboten?

[00:13:18.370] - Joe Bausch

Ach, wir reden von 1953. Also ich glaube, über die Rechte von Kindern hat da keiner nachgedacht. Also Kinder standen sozusagen...Rechte hatten die Eltern, Rechte, hatten alle anderen. Das Recht, dich zu züchtigen, das Recht, dich zu schlagen. Lehrer durften zuschlagen, Nachbarn haben dich sofort auch sanktioniert, wenn du irgendwas gemacht hast. Was, was weiß ich, sei es ein paar Kirschen klauen oder irgendwas gemacht hast, was ihnen nicht passte. Also das war an der Tagesordnung und da wäre keiner auf die Idee gekommen zu sagen: „Hallo? Kinderrechte, Kinder werden nicht geschlagen." Ich kenne einen wichtigen Satz aus dieser Zeit, wenn wir geschlagen wurden. Da rief dann jemand mal: „Schlag Sie nicht gegen den Kopf, das macht sie blöd." Und natürlich hätte man es gesehen. Aber auch ich meine, wenn auf der Straße irgendein Mensch ein fremdes Kind oder das eigene gezüchtigt hat, geschlagen hat, dann ging doch keiner dazwischen und hat gesagt: „Sag mal, äh, was ist los mit euch?" Was ich heute machen würde oder mache, wenn ich das in der Öffentlichkeit erlebe, dass ich dazwischengehe oder zumindest das in der entsprechenden Weise kommentiere, das gab es da nicht. Es war eine Tatsache. Meine Eltern selber, mein Vater hat nichts anderes kennengelernt. Die Lehrer, die das, die uns schlugen, hatten selber auch nichts kennengelernt. Es war immer noch die Tradition einer „schwarzen Pädagogik", wie man heute sagt. Die war ja mit dem Ende des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus eigentlich beendet. Das waren ja Pauker und Menschen, die waren in dieser Zeit sozialisiert aufgewachsen und sie kannten es auch nicht anders. Also sorry, also es klingt furchtbar, aber das Schicksal, was ich in dieser Zeit, also diese Tatsache, dass wir als Kinder gezüchtigt wurden, so nannte man das ja, das ist ja nicht nur mir so gegangen, das ging ja vielen so.

[00:15:14.770] - Nadia Kailouli

Nichtsdestotrotz, während es legitim war, sage ich mal, zu dieser Zeit Kinder öffentlich zu schlagen, war es ja dennoch nicht legitim, Kinder öffentlich zu missbrauchen. Der Missbrauch war, also der sexuelle Missbrauch, der fand sozusagen ja dann doch hinter verschlossenen Türen statt, wie zum Beispiel im Kinderzimmer. Würden Sie sagen, auch der sexuelle Missbrauch.

[00:15:38.730] - Joe Bausch

Im Kinderzimmer oder in der Scheune oder sonst wo.

[00:15:40.350] - Nadia Kailouli

Ja. Würden Sie sagen, auch der sexuelle Missbrauch war aber damals, zu Ihrer Zeit, als Sie Kind waren, irgendwie bekannt in der Nachbarschaft, in Ihrer Familie, dass man irgendwie wusste: „Das, was der Pflegebruder da mit Joe macht, ist nicht in Ordnung. Aber wir wollen es nicht wissen. Wir wollen es nicht sehen."

[00:15:56.250] - Joe Bausch

Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir ganz sicher. Also, wenn beispielsweise mein Vater davon was gemerkt hätte oder davon erfahren hätte, hätte er Uwe - das war immer so meine Fantasie - der hätte ihn wahrscheinlich irgendwie ans Scheunentor genagelt oder erschlagen. Also das war damals so, dass wenn das ruchbar wurde, wurde das heftig sanktioniert. Ich will nicht in Abrede stellen, dass andere Formen des sexuellen Missbrauchs, innerhalb von Familien teilweise auch verschwiegen wurden. Aber im Falle von meinem Pflegebruder, von Uwe, war das es halt eben auch, der war zwar in die Familie gekommen, aber der war natürlich nicht Familie. Er hatte seinen eigenen Nachnamen. Er war zwischendurch mal wieder bei seiner Familie, hat dort gearbeitet und den Kontakt verloren und alles, kam wieder zurück. Er hat gestohlen, er hat gesoffen am Ende und ist tragisch gescheitert. Aber ich glaube insofern, ich bin davon überzeugt, dass meine Eltern und auch das Umfeld das nicht wusste, auch nicht befürchtet haben, weil Sexualität war ja kein Thema. Sexualität war irgendetwas, über das wurde nicht gesprochen. Sexualität, wenn man sexuelle Gedanken hatte oder so was, da musste man das beichten. Und selbst die Fantasie in Gedanken, Worten und Werken, so heißt es im katholischen Beichtspiegel. So wurden wir ja sozusagen einer inquisitorischen Beichte unterzogen. Da wurde nachgehakt. Aber natürlich ist irgendwann mal etwas, was überall ist, wenn der Täter aus dem Nahbereich oder aus der Familie sogar kommt, dass auch eine familiäre Dynamik natürlich dafür sorgt, dass die Opfer schweigen. Die Opfer es nicht benennen und dass man denkt: „Hey," ich meine, Uwe war ja jemand, den habe ich so kennengelernt, dass er mir halt eben aus dem „Kosmos Lexikon der Welt" vorgelesen hat, dass er mit mir gemeinsam im Weltatlas gestöbert hat und hat mir sozusagen ein bisschen was von der Welt erklärt. Und da kam dann halt sozusagen Nähe, Erklärung, Zärtlichkeit und irgendwann halt eben sexueller Übergriff und Missbrauch. Das kam langsam. Das passiert ja nicht sofort mit einer Gewalt. Und erst als die Gewalt dazu kam, dass man das Gefühl hat: „Hey, der erstickt mich, der ist groß und kräftig und ich habe Angst und ab jetzt tut es weh." Da bin ich ja im Endeffekt sozusagen losgerannt in der Scheune, bin abgestürzt und Gott sei Dank ist mir nicht viel passiert, weil ich war leicht, ich war biegsam und war trainiert auch irgendwie, als Bauernbub ist man kräftig...Mir ist deshalb nichts, bis auf ein paar Prellungen, nichts passiert. Aber er hat wahrscheinlich gemerkt, ab jetzt kann er sich nicht mehr sicher sein, dass andere Sachen passieren und dass man das erfährt.

[00:19:13.630] - Nadia Kailouli

Sie beschreiben das auch sehr, ich würde sagen, detailliert in Ihrem Buch und man liest es, es klingt komisch, aber man liest es irgendwie...

[00:19:20.470] - Joe Bausch

Ja, man muss, man muss darüber schreiben. Ich glaube, wenn man darüber schreibt, kann man nicht so allgemein, Larifari. Wissen Sie, Sexualstraftaten beginnen bei Exhibitionismus und enden in schwersten Formen von zerstörerischer Gewalt. Und ich glaube, wenn man darüber redet, muss man auch so ehrlich sein und muss versuchen, es so zu beschreiben, wie es war, wie man es selber auch erlebt hat. Weil es gebietet die Authentizität, aber auch die Präzision.

[00:19:47.750] - Nadia Kailouli

Absolut. Ich finde das auch eher positiv als negativ. Mir ist es beim Lesen teilweise so gegangen, dass ich selber für mich so eine, ich weiß gar nicht, ob Ambivalenz das richtige Wort ist, weil man beschrieben bekommt, wie er sich um Sie gekümmert hat, natürlich. Und man spürt, Sie haben das gerne gehabt, dass er sich gekümmert hat, dass er mit Ihnen im Bett lag und Ihnen vorgelesen hat. Und dann haben Sie gemerkt, heute aus erwachsener Sicht können Sie das gut beschreiben, das, was er dann aber dabei macht, das ist irgendwie nicht in Ordnung, dass er sich an mir reibt, zum Beispiel. Konnten Sie sich daran zurückerinnern, dass Sie selbst in diesen Momenten diese Ambivalenz haben? „Ich finde es schön, dass er da ist. Aber irgendwie ist es jetzt nicht mehr schön, dass er da ist?"

[00:20:27.820] - Joe Bausch

Na klar. Das ist genau diese Ambivalenz. Es ist einerseits sehr schön. Es ist eine tolle Situation. Und wir haben ja als Kinder auf dem Bauernhof, unsere Eltern hatten keine große Zeit für Zärtlichkeit. Zärtlichkeit fand statt, was weiß ich, von Nachbarmädchen, die mit uns Papa, Mama, Kind gespielt haben. Oder halt in dieser Situation. Deshalb sage ich ja, eigentlich waren wir oder war ich ein geborenes Opfer. Ich war wissbegierig, ich war dankbar. Ich wollte wissen, was die Welt im Inneren zusammenhält. Und da war jemand. Das waren insgesamt zwei Bücher oder drei mit dem Atlas. Und da sind wir quasi gemeinsam, vielleicht irgendwo in unbekannte Welten gestartet und nur ich war klein und oder ich war vier oder fünf und er war halt immer, er war zehn Jahre älter, elf Jahre wahrscheinlich, genau weiß man das nicht so. Und war in der Pubertät. Und ich habe natürlich am Anfang das nicht...Merkte, das ist irgendwie anders und irgendwo ist einer, heute würde man sagen: „Der ist irgendwie erregt", nicht nur aufgeregt oder begeistert, sondern irgendwas ist noch was anderes und dann tut sich da auch was irgendwo hinter meinem Rücken und da macht einer an sich rum. Und heute weiß ich das alles natürlich. Längst weiß ich das. Spätestens als ich selbst später in die Pubertät kam, war mir klar, was da läuft. Und natürlich war mir noch viel schlimmer, in dem Moment, wo wir losgezogen sind an Sonntagen und sind unterwegs gewesen und zum Spaziergang und er hat immer nur mich mitgenommen und meinen kleinen Bruder, der war so ein bisschen, der war so ein bisschen sperrig, würde man sagen und nörgelte. Und ne, den ließ er zu Hause und mich nahm er gerne mit. Und kaum waren wir ein Stück weit weg im Wald, es waren immer die festen Stellen im Fichtenwald, irgendwo ein paar Meter vom Weg ab und dann hat er sich halt die Hose runter gezogen und ich musste ihn masturbieren und das ging halt ruhig auch drei, vier mal an so einem Sonntagnachmittag. Und als das dann immer mehr wurde, dann wurde es langsam auch bedrohlich. Und dann war auch klar, sage ich mal, der Kontext wurde plötzlich ein anderer. Der Kontext, in dem das stattfand, war klar: „Das ist nicht in Ordnung." Aber die Dreistigkeit, mit der es teilweise stattfand im Kinderzimmer. Und wir hatten ja drei Zimmer, zwei Zimmer. Vorne schläft mein kleiner Bruder, ich auch mit ihm und dann hinten er zum Durchgangszimmer.

Aber das es auch nachher stattfand, während meine Eltern in der Scheune oder im Stall unten gearbeitet haben und er oben in der Scheune halt so eine Pferdedecke ausgebreitet hat, um mich da auszuziehen und sich an mir zu befriedigen. Das fand ich, dann war mir klar: „Das ist jetzt too much." Aber wie kannst du etwas erzählen, was du gerade langsam erst anfängst zu begreifen. Wie willst du das Menschen erzählen, die mit dir keinen einzigen Ton über Sexualität geredet haben? Wie willst du das erklären, wenn die einzige Aufklärung, die du auf dem Bauernhof mitbekommen hast, die ist, wie du siehst, wie Schweine oder wie Rinder zum Eber oder zum Bullen getrieben werden? Und wir haben uns das natürlich aus der Entfernung angeguckt, weil das fand ja hinter geschlossenen Türen statt und wir wollten natürlich sehen, was ist dahinten. Und es war natürlich alles erschreckend. Das war ja nicht positiv besetzt. Und insofern ist mir dann auch, bis heute, ich meine, irgendwann ist mir natürlich, war klar: „Das beängstigt mich, das bedroht mich. Ich fühle mich auch körperlich überwältigt. Das ist dann nichts mehr mit sanftem Überreden zu tun." Und dann bin ich ja auch quasi geflüchtet und abgestürzt. Und der hat sich wahrscheinlich gedacht, das hätte auch, ich hätte mich schwerst verletzen können. Da wusste ich: „Ab jetzt ist irgendwo der Point of no return." Also, er hat es danach nicht mehr versucht. Und ich habe lange Zeit natürlich mich gefragt: „Warum hast du das meinem Vater, meiner Mutter nicht erzählen können, was da passiert?" Und hab mich auch oft gefragt, als meine Tochter so alt war wie ich in der Zeit und ich merkte, ich habe ein Kind, die ist pfiffig, die ist schlau, die ist aufgeklärt. Und dann dachte ich mir: „Hey, ich war genauso alt und ich konnte darüber nicht reden." Und ich denke, es hatte was damit zu tun, dass uns im Endeffekt sozusagen die, ja, die Worte, die Sprache, die Kenntnis, all das, was Kinder heute haben, das fehlte uns. Uns fehlten im wahrsten Sinne die Instrumente. Ich konnte später, als ich 20 war, konnte ich mit meinen Freundinnen darüber reden: „So war das." Und ich habe das so auch erzählt und hmm naja gut...Aber ich konnte mir immer nicht erklären, warum ich das damals nicht geschafft habe, zu meiner Mutter hin zu gehen, zu meinem Vater hin zu gehen, zu sagen: „Das und das macht der mit mir." Das ist vielleicht der Grund, warum man sich oder warum sich viele Opfer zeitlebens schämen. Weil sie sich dafür schämen, dass sie das mit sich so lange herumgetragen haben und offenbar sich fragen: „Was ist falsch mit mir, dass ich das nicht auf die Kette gekriegt habe, das zu kommunizieren?" Meine Eltern, weil meine Eltern waren ja nicht, denen war das ja nicht egal, die waren schon fürsorglich. Wahrscheinlich hatte ich Angst, dass mein Vater irgendwas Furchtbares antut, dass meine Mutter weint oder sonst irgendwas, dass ich wahrscheinlich möglicherweise als der ja, ich habe ja diese, am Anfang diese Nähe gesucht und jetzt musste ich quasi den Preis dafür bezahlen. Wie auch immer, die Denke war: „Ich habe keine Ahnung." Fakt ist, dass ich da von dem Moment an, wo Uwe vom Hof verwiesen wurden, rausgeschmissen. Mein Vater hat ihn rausgejagt, da war er 21 1/2 und dann war er weg und damit war gut. Und für mich war das Schlimme, dass ich mich daran erinnere: Er lag in seinem Bett und hatte Rattengift gefressen. Also Alkohol getrunken, Rattengift gefressen, wahrscheinlich demonstrativ suizidal oder wie auch immer. Jedenfalls der Hausarzt hat ihm den Magen ausgepumpt, ihm furchtbar den Kopf gewaschen und ich stand an diesem Bett. Fand ja alles sozusagen in der Öffentlichkeit statt. Ich habe mir damals gewünscht, dass er stirbt und das hat mich viel länger beschäftigt als alles andere, dass ich mir damals den Tod von jemandem gewünscht habe. Und dann dachte ich: „Ja, dann ist es vorbei, dann." Aber es war nicht so. Ich glaube, das ist das, was Opfer am längsten beschäftigt: „Wann war sozusagen der Zeitpunkt, wo ich hatte darüber reden können und warum habe ich das da nicht getan?" Und wie gesagt, das Ganze ist ja so, das ist auch ein wichtiger Aspekt meiner Geschichte, dass man kapiert, wenn da irgendein fremder Mann irgendwo in dieses Dorf kommt und dich quasi mitschleppt und vergewaltigt, dann kann man darüber reden. Wenn das aber im Nahfeld, innerhalb sozusagen der eigenen Mauern, da wo man sich sicher fühlt, da, wo man auch zärtlich ist, da wo man lebt... Und die Täter sind ja nicht nur böse, sondern die sind freundlich, charmant, zugewandt, aufmerksam. Dann wird es schwieriger, weil man kann es nicht einordnen, man will aber auch keine Fehler machen. Ich kann mir... Das ist das Perfide in so einem familiären Kontext im Nahbereich, da wo es ja viel häufiger passiert, sind 80%... Über 80% der Fälle, das weiß ich, das wissen wir alle, passieren eben im Kleinen, also im Nahbereich. Das sind Stiefväter, Stiefbrüder, Brüder, wie auch immer, da passiert's. Und da ist man natürlich auch selber emotional ganz anders eingebunden als bei einem Fremden, der dir so was antut. Du willst es doch gar nicht wahrhaben. Ich glaube, das Entscheidende ist, manche Sachen kann man abspeisen. Das macht man und denkt: „Okay, damit hast du den Preis bezahlt. Dass du jemand hast, der dir vorliest, der mit dir wandert, der mit dir spazieren geht, der zärtlich zu dir ist und dir aus dem Buch vorliest oder wie auch immer. Das ist halt so, dass man einen Preis bezahlt. Vielleicht ist es so."

[00:28:59.620] - Nadia Kailouli

Wenn man Ihre Geschichte jetzt durch ihr neues Buch hört und damit auch ein bisschen mehr von Ihnen erfährt, wie sie groß geworden sind und sich dann aber anschaut, was Sie für einen Werdegang haben, dass Sie Mediziner sind, dass Sie Schauspieler sind. Sie stehen im öffentlichen Leben. Sie haben mehrere Bücher schon geschrieben. Dann kehrt da natürlich eine Bewunderung ein für Ihren Werdegang. Und wenn dazu dann auch noch Ihre, ja Ihre Missbrauchsgeschichte, Ihre Geschichte kommt, wie Sie eigentlich groß geworden sind, jetzt auch ohne den Missbrauch, sondern aus diesen familiären Verhältnissen. Haben Sie Verständnis für die Menschen, die dann noch mal mehr Bewunderung haben und sagen: „Wow, und guck mal, was aus dem geworden ist." Können Sie das nachempfinden?

[00:29:40.110] - Joe Bausch

Es wird mir gesagt, dass es so ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass jemand sagt: „Guck mal, was aus dem geworden ist." Ich finde das sehr subjektiv, für mich gesehen. Ich bin glücklich über meine Entwicklung, aber ich halte sie jetzt nicht für so außergewöhnlich. Aber ich kann Ihnen was sagen: Der Response, den ich gerade jetzt, seitdem das Buch auf dem Markt ist und seitdem ich darüber rede - das bleibt ja nicht aus, war auch klar, dass diese Passage gewisser Aufhänger sein wird, worüber da gesprochen wird - erfahre ich etwas, was auch sehr schön ist, nämlich das, was ich vorweg schon kannte aus Gesprächen, ohne öffentlich damit umgegangen zu sein, dass Menschen sagen: „Danke, mir ging es genauso." Ich habe heute wieder zwei oder drei Kommentierungen auf Facebook, Nachrichten von Menschen, die mich nicht kennen, die das einfach nur mitkriegen aus den Talkshows oder aus dem Buch, mir sagen: „Ich habe das auch so erlebt und so war es. Und danke, dass Sie das offen machen", weil manchen Leuten fehlt die Distanz dazu, die Kraft dazu und auch der Mut oder wie auch immer. Und wir haben auch in gewisser Weise, wie gesagt, in der Kombination, die ich eingangs vorgetragen habe, mich zu engagieren für die Kinderrechte. Und dann kann man auch sagen: „Hey, ich weiß, wovon die ein oder anderen Opfer reden, ich weiß, wie das ist, bis es anfängt." Und ich finde es auch deshalb wichtig, es zu erzählen, um klarzumachen: Man kann so ein Erlebnis verarbeiten. Man kann es sogar so verarbeiten, dass man anschließend 32 Jahre seines Lebens als Arzt in einem Hochsicherheitsgefängnis arbeiten kann, in dem viele dieser Straftäter, die halt nicht... Also das sind meistens die aus dem nicht engeren Umfeld, sondern die anderen, einsitzen. Und ich konnte mit diesen Tätern, die teilweise viel Schlimmeres gemacht haben als das, was ich erlebt habe oder was man mit mir gemacht hat. Konnte ich, aber, mit denen konnte ich sprechen, ohne Vorurteil und auch empathisch, wie als Arzt. Weil das hat mich natürlich auch interessiert, aber ich habe mich vorweg halt schon mit diesem Typus beschäftigt. Meine Technik war halt eine andere. Ich war nie in der Therapie. Ich meine, meine Technik war eher irgendwann mal, als ich anfing, Schauspieler zu werden, Figuren, Menschen zu spielen, die solche Merkmale hatten. Also Missbraucher, Vergewaltiger, Totschläger. Menschen mit psychopathischen oder narzisstischen Störungen. Solche Menschen zu spielen und dafür muss man sich ja in deren Kopf begeben, in deren Geschichten begeben usw. und das führt dazu, dass man sich a) selbst besser versteht, aber auch, dass man so einen Täter versteht. Und ich kann mich erinnern, dass mal irgendein Täter zu mir sagte, so im Laufe des Gespräches: „Ich habe doch nichts Besonderes gemacht, ich habe doch nichts gemacht. Okay, ich habe den Penis des Jungen in den Mund genommen. Mehr war das doch nicht." Und dann habe ich ihn nur angeguckt und habe ihm gesagt: „Wissen Sie, können Sie sich nicht vorstellen, dass ein Fünf- oder Sechs- oder Acht-Jähriger das nicht möchte, dass Sie das tun und dass das eben eine falsche Wahrnehmung von ihrer Seite ist". Also das ist ja auch das Irre, dass viele dieser Missbraucher, die ich dann später kennengelernt habe, es sind ja gescheiterte Personen, es sind ja Menschen, die sozial scheitern, so ähnlich wie Uwe das auch ist. Menschen, die auch teilweise eine beschissene Geschichte hatten. Und es sind teilweise natürlich auch Menschen, die irgendwie auf einem Entwicklungsstadium eines 15-, 16-Jährigen hängengeblieben sind. Ich kenne diese Kernpädophilen. Wenn man mit denen geredet hat, dann dachtest du, du redest mit einem 15-Jährigen, jedenfalls in mancher Hinsicht. In der Wahrnehmung anderer, also in der Wahrnehmung, wie Kinder so sind und was Kinder brauchen. Und ich habe das nicht veröffentlicht. Ich habe nicht gesagt: „Ja, wissen Sie, ich weiß, wovon Sie reden. Ich habe das selber...", das habe ich nicht gemacht, aber brauchte ich auch nicht. Ich konnte einfach nur zuhören, ohne dass in mir irgendeine Emotion hochkam, die mich belastet hätte.

[00:34:01.590] - Nadia Kailouli

Können Sie uns vielleicht beschreiben, mit welcher Haltung Sie dann trotzdem da saßen, als Mediziner und als Mensch, der selbst betroffen ist, das aber nicht zum Thema gemacht hat. Das klingt fast so, als hätten Sie Verständnis? Korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch benenne. Verständnis für die Täter gehabt in Ihrer Erklärung, dass Sie dachten, sas ist doch alles nicht so schlimm. Sie haben dann aufgeklärt na ja, gut. Aber wie war Ihre Haltung, als Sie eben mit Menschen gearbeitet haben, wo Sie wussten, das sind Sexualstraftäter?

[00:34:34.840] - Joe Bausch

Das ist ganz einfach. Ich kann versuchen, natürlich die Argumentation der Täter mir anzuhören. Das ist ja das Mindeste, wer Fragen stellt, kriegt Antworten, auch wenn mir die Antworten nicht passen. Oder wenn ich manchmal gesagt habe: „Hey Leute, also wenn das Ihre Wahrnehmung gewesen ist, dann weiß ich nicht, was mit Ihnen los ist." Also Fakt ist eines, man kann versuchen, sage ich mal, die Motive oder die Gedanken von Tätern zu verstehen. Das habe ich immer gewollt. Ob das Mörder gewesen sind oder Sexualstraftäter, ist mir wurscht. Ich habe das gewollt. Ich wollte das kennenlernen. Aber das heißt nicht, dass ich sie verstanden hätte. Oder, dass ich sie hätte nachvollziehen können. Es ist immer auch eine Entscheidung da. Wissen Sie, meine feste Überzeugung ist: Egal, was jemand selbst für eine furchtbare Kindheitserfahrung hat, egal, was er selber erlebt hat, es gibt immer einen Punkt, wo man selber vor seinem Gewissen, das hat jeder in gewisser Weise, entscheidet, etwas zu tun oder nicht zu tun. Und ich habe großen Respekt vor den Missbrauchern oder den Kindesmissbrauchern, die so viel Energie aufbringen, dann halt sich selbst vorher in Behandlung zu geben. Es gibt Zentren dafür in Düsseldorf, in anderen Universitätsstädten, wo man hingehen kann und kann, sich behandeln lassen und dann sagen: „Helft mir! Weil ich merke, ich bin jetzt nicht mehr in der Fantasie, sondern ich bin jetzt schon in der Umsetzung von Fantasiebegriffen." Und das ist wichtig.

Und wissen Sie, als Arzt ist mir nichts, ich habe immer gesagt: „Wissen Sie, als Arzt ist mir nichts Menschliches fremd." Und auch das gehört zum menschlichen Spektrum dazu. Ob es uns gefällt oder nicht. Die Frage ist: „Wie wollen wir so damit umgehen, dass wir, die Kinder können sich nicht selber schützen, wie wir Aufmerksamkeiten dafür schaffen und ein Verständnis dafür schaffen, dass unseren Kindern das nicht passiert?" Das ist doch mal eine Frage. Ich meine also, das ist meine Konsequenz daraus. Ich kann das was war, nicht ändern. Ich bin, ich sitze nicht heute traumatisiert in der Ecke. Aber ich schreibe deshalb darüber, weil heute in jeder Klasse in Deutschland sitzen noch zwei Kinder, die Ähnliches erfahren, Gleiches oder Schlimmeres erfahren, immer noch in jeder Klasse. Wir führen momentan eine lange politische Diskussion darüber, ob wir im Darknet, im Internet, was wir zulassen an Inhalten, was wir kontrollieren, was wir nicht kontrollieren wollen. Und während wir schon seit zehn Jahren diskutieren, wird es nicht besser, sondern es hat sich nichts geändert. So. Sie wissen, ich bin Schirmherr der Polizeiseelsorge. Das heißt, ich habe in dieser Eigenschaft Polizeibeamte besucht, die im Darknet oder im Internet sich die grausamsten Geschichten anschauen. Das spottet all dem, was ich jemals gehört und gesehen habe. Und müssen das aushalten und müssen gucken, dass die Täter überführen, um dieses riesige Business, was sich dahinter verbirgt, zu bekämpfen. Und da würde ich mir wünschen, dass wir nicht nur betroffen, betreten, bestürzt sind, wenn man das alles gelesen hat, was ich geschrieben habe oder wenn man mir zuhört oder sich nicht nur in Empörung und Entsetzen genügt, sondern dass man sagt: „Okay, was können wir tun? Was kann jeder von uns tun?" A) Hingucken, b) Sachen benennen, c) seine eigenen Kinder aufklären und beobachten und denen das Rüstzeug geben, damit sie halt nicht, sage ich mal, bereitwillige, ideale Opfer sind. Und und und. Da gibt es vieles, was wir tun können. Das ist heute anders als 1953 bis 1962. Heute kommt man an diese Quellen. Wir reden darüber in dieser Gesellschaft. Wir haben diesen Podcast. Es gibt Anlaufstellen und und und. Es hat sich vieles geändert. Aber Fakt ist, es existiert immer noch weiter. Und dann muss man, denke ich und das ist mir wichtig gewesen, auch als prominentes Gesicht, kann man nicht nur seine Prominenz nutzen, um halt auf dieses Thema hinzuweisen, sondern sagen: „Hey, ich weiß etwas davon. Ich kenne mich damit aus. Ich habe das selber erlebt, erlitten, aber ich habe gelernt, das Leben auszuhalten. Und sie haben mich nicht gekriegt und dauerhaft besiegt, sondern ich nehme meine Erfahrungen heute mit, um ein Stück weit eine Lanze zu brechen für diejenigen, die jetzt gerade sich darum kümmern, dass diesen furchtbaren Auswüchsen möglicherweise doch möglichst ein Riegel vorgeschoben wird."

[00:39:31.330] - Nadia Kailouli

Herr Bausch, mit Ihrem Aspekt, finde ich, setzen Sie hier einen ganz guten Punkt und Appell für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer, dass die jetzt die Ruhe bekommen, mal über Ihren Appell nachzudenken. Und ich sage: vielen, vielen Dank! Sie haben sehr viele Fragen beantwortet, ohne dass ich Sie stellen musste. Joe Bausch, vielen, vielen Dank, dass Sie heute unser Gast waren. Danke Ihnen.

[00:39:50.380] - Joe Bausch

Ja, Danke für das Zuhören. Dankeschön. Tschüss.

[00:39:56.890] - Nadia Kailouli

So wie Joe Bausch spricht, so liest sich tatsächlich auch sein Buch. Und deswegen empfehle ich dieses Buch hier gerne noch mal "Verrücktes Blut Oder: Wie ich wurde, der ich bin" heißt es. Und sein letzter Appell ist ja sozusagen auch unsere Grundhaltung hier bei einbiszwei. Enttabuisieren und offen über dieses Thema sprechen: sexualisierte Gewalt. Und deswegen hier meine Einladung an euch. Hört euch gerne auch die anderen Folgen von einbiszwei an!

[00:40:24.700] - Nadia Kailouli

An dieser Stelle möchte ich mich auch ganz herzlich mal bei Euch bedanken, dass ihr uns so treu zuhört und dass ihr auch bei schwierigen Themen dran bleibt. Wenn ihr wollt, dann folgt uns doch gerne, abonniert unseren Kanal und wenn ihr uns persönlich einmal schreiben wollt, dann könnt ihr das natürlich sehr gerne tun. Eine E-Mail könnt ihr einfach schreiben an: presse@ubskm.bund.de.

Mehr Infos zur Folge

Die Schrecken und Entbehrungen des Krieges stecken den Menschen noch in den Knochen. Ohnehin herrscht in dieser Gegend seit jeher ein raues Klima. Für freundliche Aufmerksamkeit haben die Eltern keine Zeit, für zärtliche Zuwendung keinen Sinn. Josef Hermann, der sich später Joe nennen wird, ist ein aufgewecktes Kind. Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, noch vor der Einschulung lesen lernt mit den Zeitungen, die auf dem Plumpsklo ausliegen, und von klein auf im Familienbetrieb mithelfen muss. Aufs Gymnasium darf er nur, weil er weiterhin schuftet bis zum Umfallen. Schläge sind an der Tagesordnung – und der Pflegesohn, den seine Eltern aufgenommen haben, missbraucht ihn.

Ein Mann mit Glatze und Lederjacke steht vor einem Gefängnis mit drei Fensterreihen

Joe Bausch ist Rechtsmediziner, Buchautor und Schauspieler. Man kennt ihn bspw. als den immer etwas bärbeißigen Gerichtsmediziner aus dem Kölner Tatort. Auch im wirklichen Leben hat er als Mediziner gearbeitet, über 30 Jahre lang als Gefängnisarzt. Joe Bausch hat jetzt ein neues Buch geschrieben. „Verrücktes Blut: Oder: wie ich wurde, der ich bin” heißt es. Darin erzählt er von seinem Vater, einem jähzornigen Mann, der keine Schwäche duldete. Von einer rauen Kindheit auf dem Bauernhof im kargen Westerwald in den Fünfzigerjahren, mit viel Arbeit und wenig Unbeschwertheit. Und: Joe Bausch schreibt auch über den 13 Jahre älteren Pflegesohn der Familie, der ihn als Kind jahrelang missbraucht hat.

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Das Buch „Verrücktes Blut” und auch alle anderen Bücher von Joe Bausch gibt es hier:
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einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

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