Podcast | Folge: 97 | Dauer: 29:29

Sexuelle Gewalt bei den Pfadfindern – kann man seine Kinder dort hinschicken, Sven Reiß?

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Das Interview der Folge 97 als Transkript lesen

[00:00:01.790] - Sven Reiß

2010 an der Odenwaldschule. Da waren dann mehrere Missbrauchsfälle bekannt geworden und da war irgendwie deutlich klar: Das waren ja alles Jugendbewegte, die waren auch alle über die Jugendbewegung geprägt. Parallel war 2010 dann noch ein ganz Bekannter aus der Pfadfinderszene aus Kassel, wo dann auch bekannt worden ist, der hat auch massiv Jungen missbraucht. Und da war dann so, dass ich gesagt habe: Ne, da muss jetzt mehr passieren. Da haben wir einen Präventionsarbeitskreis gegründet, "Schatten der Jugendbewegung", wo wir gesagt haben, wir müssen über dieses Thema reden, das ist ja nun nicht klein und desto mehr man guckt, desto mehr findet man doch irgendwie auch dazu.

[00:00:37.550] - Nadia Kailouli

Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.

[00:01:01.290] - Nadia Kailouli

Wenn man an Pfadfinder denkt, dann fallen einem neben dem Klischee der täglichen guten Tat vor allem Abenteuer in Zeltlagern, tolle Gemeinschaftserlebnisse und Naturverbundenheit ein. Doch die Erfolgsgeschichte hat Schattenseiten. Anfang des Jahres hat der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder eine Studie zum sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen in den vergangenen rund 30 Jahren vorgestellt. Die Untersuchung geht von mindestens 50 Beschuldigten und 123 Betroffenen aus. Warum es bei Pfadfindern immer wieder zu sexueller Gewalt kommen konnte, hat auch damit zu tun, dass sexuelle Gewalt in Jugendbewegungen lange als pädagogischer Eros akzeptiert und ideologisch legitimiert wurde. Der Kulturwissenschaftler Sven Reiß, der selbst einmal Pfadfinder war, beschäftigt sich schon lange mit sexueller Gewalt in Jugendbewegungen. Und er ist Teil des Arbeitskreises "Schatten der Jugendbewegung", der sich der Aufarbeitung und Prävention sexueller Gewalt in Jugendbewegungen widmet.

[00:01:57.660] - Nadia Kailouli

Dann sage ich Sven Reiß, schön, dass du heute bei uns bist bei einbiszwei. Grüß dich.

[00:02:01.240] - Sven Reiß

Freut mich, hier sein zu dürfen.

[00:02:02.620] - Nadia Kailouli

Sven, Ich will direkt mit dir bei den Pfadfindern anfangen. Als du davon gehört hast, dass es eine Auswertung, eine Studie gab darüber, wie viele Betroffene es von sexualisierter Gewalt bei den Pfadfindern gab, hast du dir gedacht: "Naja, jetzt kommt es endlich mal raus, dass auch unter den Pfadfindern sexualisierte Gewalt ein Thema ist." Oder wie hast du da reagiert?

[00:02:24.370] - Sven Reiß

Na also die Sache selbst war mir eben schon seit Jahren so weit bekannt gewesen, dass ich es nicht völlig aus den Socken gefallen bin. Auch durch meine eigenen Recherchen, die schon seit mehreren Jahren sind, das eher Bestätigung dann war jetzt durch die Studie. Ich denke du meinst die die BdP Studie, die jetzt rausgekommen ist? Genau, das waren Dinge, die erwartbar waren und wo eigentlich klar ist, dass noch ein viel, viel größerer Graubereich, der noch unklar ist, oder unsichtbarer Bereich, der noch viel größer sein wird.

[00:02:51.760] - Nadia Kailouli

Du warst früher selber bei den Pfadfindern und ich habe da gar nicht so Berührungspunkte mit. Wenn, dann habe ich wahrscheinlich eher so Vorurteile. So nach dem Motto: "Was ist das da für eine Truppe, die Pfadfinder irgendwie so ein bisschen gleiche Kleidung und so ist das nicht auch so ein bisschen Studentenverbindungs-Niveau und so?" Kannst du uns vielleicht einfach mal einen Einblick da in die, ich sag jetzt mal nicht Szene, aber in die Welt der Pfadfinder geben?

[00:03:14.480] - Sven Reiß

Ja, vielleicht passt der Szene Begriff sogar irgendwo. Also gerade in Deutschland ist die Pfadfinderbewegung stark durch die Jugendbewegung, durch den Wandervogel geprägt. Um 1900 entstanden, Jugendliche, die gerade aus der grauen Stadt, aus Berlin und anderen Orten raus wollten, in der Natur wandern. Eigentlich erst mal klingt alles sehr unspektakulär, aber was sie dort fanden, waren Freiräume, Freiräume, eigenen Jugendlich- Jungsein-Dürfens. In der Zeit des Kaiserreiches in den 20er kam dann aus England diese Pfadfinder dazu. Das verschmolz sich alles so ein bisschen zur deutschen Jugendbewegung, zur bündischen Jugend. Kernelemente ist eigentlich ein Gemeinschaftserlebnis, Naturerlebnis, sind ja Nächte am Lagerfeuer, das Erlebnis aber eben von Kameradschaft, Freundschaften, gemeinschaftsstiftende Sache, Welt erleben, Welt entdecken, auf großen Fahrten unterwegs sein. So, das sind eigentlich so Kernbereiche dieses jugendbewegten Erlebnisraumes.

[00:04:05.140] - Nadia Kailouli

Warum ist dann, was ja so schön klingt, wie du es gerade beschrieben hast, diese Jugendbewegung, warum ist das dann so ein Nährboden für sexualisierte Gewalt?

[00:04:17.020] - Sven Reiß

Na ja, im Prinzip könnte man da jetzt eine ganz kurze und eine längere differenzierte Antwort geben. Die ganz Kurze: Überall, in allen Bereichen, wo ältere Leute und Jugend zusammen ist und Jugend oder auch Kinder zusammen sind, findet Missbrauch statt. Also natürlich findet dort auch etwas statt und es ist natürlich auch von den äußeren Strukturen her jetzt auch nicht verwunderlich, wenn da ein Älterer mit Jüngeren unterwegs ist. Viele Bereiche, wo die eben nicht so gut einsehbar sind, dass da etwas passiert. Das ist die kurze, banale Antwort. Ich habe mich dann aber eigentlich gefragt Das kann nicht alles sein. Und da kam immer meh, das hat, da gibt es Eigenlogiken. Es gibt also eine völlige Logik, warum das Ganze dazu gehört letztlich in die Richtung, dass das Geheimnis dieser pfadfinderischen Führung, dieser jugendbewegt, bündischen Führung, wie sich es auch nennt, ist eben ja, dass eine erotische Bindung, die auch sexuell sein kann, nicht muss zwischen den Gruppenführern und den Jüngeren, dass das Ganze etwas ist, was ein ganz besonderes Kitt gibt des Ganzen und was eigentlich so das Heimliche, was dahinter steckt, das sind Dinge, das findet man plötzlich in allen möglichen Schriften, das findet man irgendwie in der Bildsprache, wenn man sich so einige Zeitungen durchguckt. Darüber kam man immer mehr rein. Das hat eben auch eine Geschichte. Das ist so, ja.

[00:05:29.090] - Nadia Kailouli

Ja, wenn man jetzt so zuhört, dann merkt man schon so: Oh Moment, das kann jetzt auch schnell in die Historie gehen. Geht es ja auch. Ja, weil du gerade das 19. Jahrhundert angesprochen hast und bist dann auf Recherche gegangen und dies und das. Und das ist ja eigentlich eine sehr alte, traditionsreiche Entwicklung der Pfadfinder. Und sie ist aber ja heute noch aktiv, wenn das alles ja schon so alt ist, was ist deine Erklärung dafür, dass erst jetzt so viel ans Licht gekommen ist?

[00:05:57.290] - Sven Reiß

Letztlich ist das Ganze gar nicht so jung. Dass das Ganze ans Licht gekommen ist, also diese Jugendbewegung, Wandervogel, Pfadfinder, das Ganze entsteht alles in der Zeit um 1900. Und bereits 1912 gibt es einen, aus der Jugendbewegung stammend, Hans Blüher, der schreibt ein Buch "Der Wandervogel als erotisches Phänomen", wo er genau das schreibt, dass der Wandervogel also der eigentliche Kitt ist eben diese Beziehung, die auch sexuell sein kann zwischen dem Älteren und Jüngeren. Also das Ganze wird da schon gesagt, das wird debattiert. Da wird auch eigentlich die ganze Zeit über immer wieder, das wird natürlich ambivalent diskutiert. Also es sind nicht nur Eltern geschockt über solche Sachen, sondern auch die Jungen selbst fragen sich: "Was? Nein, das sind wir nicht. Oder bin ich jetzt irgendwie komisch? Und was läuft hier?" Da gibt es also Kontroversen. Es gibt in den 20er Jahren auch Verurteilungen teilweise, wo dann auch wieder große Debatten drum herum sind. Also es taucht immer mal wieder irgendwie so auf, aber eigentlich erst in den letzten Jahren ist eben klar geworden, wo wir auch Begriffe dafür haben, dass wir eben ganz klar sagen, das ist sexuelle Gewalt beziehungsweise sexueller Missbrauch was da stattfindet und es ist nicht mehr etwas, wie man es früher vielleicht diskutiert hat: "Das ganze ist unsittlich." Also wo man dann mit einer christlichen Moral oder sowas kam, wo man sich dann gleich als Jugendbewegter gesagt hat: "Damit haben wir nichts zu tun. Was interessiert uns? Wir haben unsere eigenen, haben wir unsere eigenen Moralvorstellungen. Also komm uns nicht mit Moral." Sondern da sind Dinge abgebügelt worden, weil das einfach anders konnotiert war die ganze Sache. Und jetzt, heute haben wir eben Begriffe wie sexueller Missbrauch und wo auch klarer ist, was passiert da. Und wir wissen auch, was die Folgen von dem sind. Das war früher auch nicht so deutlich allen. Letztlich, die Jungs in der Gruppe, die das Ganze nicht verarbeiten konnten in der Form, die sind gegangen, die waren nicht mehr sichtbar für die Gruppe und was mit denen wurde, ist vielfach nicht gefragt. Und das ist natürlich heute in einer Zeit, da wird ganz anders über Traumata, solche Dinge anders gesprochen, anders geredet, weswegen es folgerichtig ist, dass auch der Bereich heute, wie ja viele andere Bereiche auch heute Thema werden.

[00:07:47.950] - Nadia Kailouli

Du hast jetzt mehrmals schon die Begriffe Wandervogel genannt, Jugendbewegung genannt, dann Menschen genannt, die da schon drüber geschrieben haben, dass das ja irgendwie so nicht normal ist. Aber diese Beziehung oder das erotisch finden eines Jüngeren von einem Älteren. Du beschäftigst dich damit seit längerem ja jetzt nicht nur in der klassischen Recherche: "Ich gucke mir das mal an", sondern du erforschst das regelrecht. Fangen wir doch mal bei dem Begriff "Wandervogel", "Jugendbewegung" an! Wie hängt das mit dem Thema, worüber wir hier im Podcast sprechen, sexualisierte Gewalt, was, was findet da statt? Was ist das genau und wie kriegen wir die Kausalität zu diesem Thema hin?

[00:08:23.390] - Sven Reiß

Also erst mal ist es jetzt doch immer wieder wichtig, dass wir nach 1900 gucken. Also dieses Wandervogel, diese Entstehung des Wandervogels, das ist eine, das ist eine bürgerliche Bewegung. Es sind Bürgersöhnchen. Mädchen kommen auch später zu in ihren eigenen Gruppen, aber vor allem erst mal ist das Ganze eine männliche Geschichte. Hier Berlin Steglitz, irgendwie. Es ist vor allem bekannt geworden. Also diese Gruppen, die eben draußen in der Natur wandern gehen und wo dann eigentlich vieles am Anfang gar nicht so groß durchdacht ist. Aber dann kommen schnell verschiedene Strömungen dazu. Einige wollen sage: "Dieser Wandervogel, diese Jugend, die müssen wir auf einen völkischen Weg bringen." Das ist also diese Faszination von Jugend als Erwecker, als irgendwie etwas. Es muss eine neue, bessere Welt geschaffen werden und die kann nur völkisch sein, die kann sozialistisch sein, die kann aber auch auf bestimmte Art und Weise eine bürgerliche Kultur erretten. Eine bürgerliche Kultur, die um 1900 mich sehr verunsichert, ist eine männliche, bürgerliche Kultur. Wir haben so diese, dieses Geisteswissenschaftliche ist in der Krise, weil die Naturwissenschaften sind plötzlich groß geworden. Wir haben irgendwie ein Denken. Der Mann selbst ist irgendwie unklar geworden. Plötzlich gibt es eine Frauenbewegung. Männlichkeit wird in Frage gestellt. Was, weiß nicht, passiert alles. Es gibt plötzlich welche, die sich für Homosexualität einsetzen. Also wir haben einen verunsicherten Mann und wir haben ein verunsichertes Bildungsbürgertum. Und in der Zeit ist die Antike plötzlich als Sehnsuchtsort wieder da. Also das Ganze kann man sich angucken, viele Schulen aus der damaligen Zeit, Universitäten, dass dort so etwas ist, solche Jünglingsdarstellungen. Ähnliches findet sich vielfach auf Gemälden in irgendwelchen Büsten, Ahnliches, die diese Jugendlichkeit um in der Antike, also dieses Damals, Frühere, plötzlich wieder so als ein Sehnsuchtsort aufscheinen lassen. Und das Ganze im Gegensatz zu dieser naturwissenschaftlichen, technischen Moderne. So, und da sind jetzt einige, die im Wandervogel sagen: "Da ist doch etwas, das ist die neue Jugend, dort können wir in eine neue Zukunft sehen." Und wo dann, das sich plötzlich diese antiken Bilder auch wieder auftauchen und dann eine Rückbesinnung eben auf diese antike Päderastie plötzlich damit in Verbindung kommt.

[00:10:22.300] - Nadia Kailouli

Päderastie musst du auch mal erklären. Haben wir hier bei einbiszwei auch tatsächlich schon mal gehört und drüber gesprochen aus einer eigenen Betroffenheit. Aber vielleicht kannst du als derjenige, der dazu ja lange geforscht hat, uns diesen Begriff auch noch mal kurz erläutern.

[00:10:36.970] - Sven Reiß

Genau das ist auch, glaube ich, der Begriff, mit dem es erst klar wird, warum ich jetzt irgendwie von 1900, von irgend so einem verunsicherten Bildungsbürgertum und Antike rede. Denn jetzt gehen wir eben noch mal, noch weiter zurück in die Geschichte. Also Päderastie ist erst mal ein antikes Beziehungsmodell, was der Heranführung an die aristokratische Gesellschaft diente, der Bildung. Also wir haben einen älteren Mentoren und der sucht jetzt sich Jungen, Jugendliche, die sucht er sich aus nach Schönheit, nach Bildungsfähigkeit und führt die an die Gesellschaft heran, an die aristokratische, also an die Führungsebene heran. Es ist jetzt nicht irgendwas für den Pöbel, sondern das Ganze ist eine ganz klar elitäre Geschichte. Und das Ganze funktioniert eben aus dieser antiken Logik heraus über diese erotische, eine erotische Bindung, die dort entsteht, die sexuell sein kann, aber, und das ist wichtig, nicht muss. Also das Ganze ist da irgendwie mitschwabernd. Also diese, diese jung Schönheit, die wir teilweise auch vergöttert. Also es kommt plötzlich so ein Heiligkeitsebene, also eine spirituelle Ebene, dann auch noch mit rein. Und diese Gedanken, die kommen plötzlich um 1900 wieder auf. Das heißt, in dieser ganzen Kulturkritik, an dieser Moderne erscheinen nicht nur die Antike als irgendwie ein Ort, wo die Bildung etwas galt, sondern: "Ist nicht dieses frühere Modell etwas, was auch in die Gegenwart übertragen werden könnte?" Und das Ganze ist letztlich das, was dieser, den ich genannt habe, dieser Hans Blüher, der sagt, genau das ist eigentlich im Wandervogel passiert. Es ist eine Renaissance dieser antiken Päderastie, dieser erotischen Bindung, wo ein Mentor ist und ein Jüngerer und sich dadurch Großes ergibt.

[00:12:13.000] - Nadia Kailouli

Jetzt muss man natürlich aufpassen, dass man doch nicht die alte Historie, das, was da in der Antike und um 1900 so passiert ist, dass man das nicht als Rechtfertigung und Erklärung nutzt, zu sagen: "Ah, jetzt haben wir es aber hier die Wissenschaft zeigt oder die Geschichte zeigt, das gab es früher schon, und das ist ganz okay. Und das ist ganz normal, dass ältere Männer, junge gebildete Männer, junge, gebildete Jungs sich als ja Menschen aussuchen, in die sie sich verlieben, die sie erotisch finden, die sie anziehend finden." Und auch wenn es nicht unbedingt zu sexueller Gewalt kommt, dass es ja dennoch etwas ist, was wir in der Jetztzeit sagen, das geht nicht, das verurteilen wir. Wo liegt die Gefahr, dass man die Historie dafür ausnutzt, um sich zu rechtfertigen: "Das gab es schon immer, und das liegt in der Natur der Sache, in der Geschichte"?

[00:13:05.350] - Sven Reiß

Genau das passierte. Genau das war es ja, was passiert. Und tatsächlich von der Wissenschaft ausgehend. Also wir haben als erstes eben nicht irgendwelche Jugendbewegten, die das Ganze postuliert haben, sondern ganz am Anfang, also so um 1900, in der Zeit 1907, veröffentlicht der Altertumswissenschaftler Erich Bethe eine Schrift über die dorische Knabenliebe, indem er eben sagt: "Das Ganze und auch wenn es sexuell ist, das ist etwas Heiliges, Geweihtes. Und es war etwas, was von außen her erst mal als etwas Unsittliches ausschaut, wird dadurch, dass es in diesem Setting ist, wird das Ganze zu etwas Geheiligten, Erhabenen, ganz Großen." Das Ganze schreibt er 1907. Und das Ganze wird auf-, genau das wird aufgegriffen und plötzlich, dann gibt es eben diesen Hans Blüher. Der schreibt davon und sagt: "Ja, genau das ist es. Das Ganze kann, im Wandervogel wird so gelebt." Es gibt aber eben nicht nur den, sondern es gibt auch in der Reformpädagogik, alle rezipieren plötzlich eine Vorstellung der- Das ist ja auch noch, es ist ja, wie es wirklich in der Antike war, wissen wir vieles nicht. Und wir haben in der Antike auch eine Sklavengesellschaft. Da ist ganz vieles sehr, sehr wackelig, was wir uns hier irgendwie plötzlich in die Zeit um 1900 aufbauen. Aber das Ganze wird plötzlich anschlussfähig. Das heißt, diese Sache wird zur Legitimation genannt. Sie wird, es gibt den Reformpädagogen Gustav Wyneken. Der nutzt das Ganze, als er angeklagt ist, wegen Missbrauch von Jungs, von zwei Schülern nutzt er das Ganze zur Rechtfertigung, verweist exakt darauf, nennt genau diese Zitate, dass es eben etwas, was von außen hin unsittlich wird, wird plötzlich sittlich geheiligt. Genau das sagt er und deswegen sagt er auch: "Ich bin einfach ein genialer Erzieher. Mir steht das zu. Anderen steht es natürlich nicht zu, weil andere verbinden das Ganze nicht mit dem großen Idealismus und dem Bildungsanspruch." Und das Ganze finden wir, durchs ganze 20. Jahrhundert immer wieder dieser Bezug: "Schon die alten Griechen..." Und wir schreiben uns irgendwie, wir konstruieren uns ja völlig, wir schreiben uns in diese Geschichte ein.

[00:14:55.890] - Nadia Kailouli

Wie kriegt man das jetzt hin, dann zu sensibilisieren und zu sagen: Nur weil wir früher dazu noch keine Begrifflichkeit hatten, dass wir das klarer definieren konnten als sexuell übergriffig, als sexuelle Gewalt, als Grundboden für sexuellen Missbrauch. Wie nimmt man das denn dann in die heutige Zeit im historischen Sinne, dass man diese Schriften hat, aber sagt, diese Schriften sollten niemals dazu dienen, dass man sagt: "Wieso? Da haben wir es doch schwarz auf weiß. In der Antike wurde das doch so auch schon gelebt."?

[00:15:23.850] - Sven Reiß

Also das eine, glaube ich, was man sehr schnell sagen kann in der Antike, wie gesagt, gab es auch Sklavenhaltung, war auch völlig normal. Dadurch wird eigentlich klar: Wir können Geschichte nicht zur Rechtfertigung von Gegenwart verwenden. Funktioniert nicht. Das ist das eine. Das andere ist: Wir können heute ganz klar sehen, dass dieses ganze Setting basiert im Kern auf einem Macht-, Wissens- und Erfahrungsgefälle. Und auf Macht-, Wissens- und Erfahrungsgefälle basierende, wie auch immer geartete Sexualformen und auch egal zu welchem Alter, das funktioniert nicht. Deswegen müssen wir im Prinzip das Ganze. Wir müssen wirklich mal gucken, was sind das Ganze eigentlich für - auch gerade diese Rezeption -krude Eigenlogiken. Und die müssen wir dekonstruieren, um zu zeigen: "Nein."

[00:16:05.350] - Nadia Kailouli

Würdest du sagen, dass es heute - und mit den Pfadfindern haben wir da wahrscheinlich schon eine Antwort, weil sie ja noch heute aktiv sind -, aber Jugendgruppierungen, Jugendbewegungen, wo das von Gruppenleitern immer noch als Ideologie oder als Überzeugung gesehen wird?

[00:16:23.080] - Sven Reiß

Natürlich ist nicht mehr so stark wie, sage ich mal, noch in den 20er Jahren nicht so stark wie in den 50er, 60er Jahren, nicht mehr so stark wie in den 70er, 80er Jahren, wo das Ganze wirklich noch größere Kreise gab, wo gerade auch so ein Bild ist noch von elitären, männerbündischen Gemeinschaften. Das ist heute viel diverser geworden, dieses Bild also auch, was einen heutigen Jugendbewegung ist. Was sich heute als Jugendbewegung und in der Tradition dieser Bünde versteht, sind vielfach koedukative Gemeinschaften. Sind jetzt auch in den letzten Jahren Mädchenbünde ähnliches, da sind ganz andere Dinge, das sind auch Kinder ihrer Zeit. Aber natürlich gibt es bis heute einige von diesen Gruppen, die sich bewusst exklusiv halten und wo das durchaus Anklänge findet. Also für mich war eine Sache, weswegen ich mich dann sehr intensiv damit auch beschäftigt habe. Das war 2013, da waren das ganze real Gerichtsprozesse, wo das Ganze darum geht und wo das Ganze klar wurde: Es war die völlig normale Alltagskultur gewesen in der Gruppe. Also dieser Missbrauch und dieser Missbrauch, aber immer irgendwie auch verwoben in so einem Setting: "Wir dürfen das, wir sind ja irgendwie anders." Auch diese Sachen: "Schon die alten Griechen haben..." - das findet man heute noch durchaus vor Gericht als Aussagen wieder.

[00:17:30.170] - Nadia Kailouli

Vielleicht kannst du, weil du sagst, du hast dann auch angefangen, dich damit zu beschäftigen. Wir hören dir zu und kriegen hier total die Grundausbildung der antiken Sprache, auch so ein bisschen was eben in dieser Jugendbewegung dann so los war. Aber was hat dich persönlich denn dazu überhaupt bewegt zu sagen: "Ich guck mir das mal genauer an, was da eigentlich los war und wie die das betitelt haben und für sich definiert haben und da Theorien zusammengeschrieben haben"?

[00:17:56.700] - Sven Reiß

Also im Prinzip gestoßen bin ich drauf, dass ich mich als selbst jugendbewegt geprägt immer schon für die Geschichte interessiert habe von der Jugendbewegung. Also woher kommt das Ganze? Was ist das? Das ist ja irgendwie mehr als nur ein Rucksack nehmen, rausgehen, ein Lied trällern, so schön das ist. Aber irgendwie, da steckt ja mehr hinter. Wie ist das Ganze verbunden? Habe ich während meines Studiums habe ich erst ein Praktikum gemacht im Archiv der deutschen Jugendbewegung und war, dann hatte ich dort die Möglichkeit gehabt, eine Ausstellung zu gestalten: "100 Jahre Reformpädagogik, 100 Jahre Gustav Wyneken." Und da war so der Auftrag: Ich soll mal gucken, ob ich auch mal ein paar Dinge, die nicht so bekannt sind, finde. Und dann gucke ich eben in diese Kartons vom Nachlass rein. Und das erste, was ich irgendwie finde, ist dann eben Auszüge aus dem Gerichtsprotokoll, wo dann irgendwie drinsteht, dass die Aussage des Jungen: "Ja, und dann kam das Ganze zum Schenkelverkehr und erzählte mir, dass es ganz normal sei und eben nichts Schlimmes. Das ist jetzt was Schönes ist." Und und wo man denkt: "Was ist das jetzt? What?" Wir machen gerade eine Ausstellung "100 Jahre toller Gustav Wyneken" und da steht so was? Und das ist dann auch tatsächlich in der Ausstellung genannt worden. Dann haben mich Leute auch zur Seite gezogen, gesagt: Was ist das denn? Also wollen wir nicht... Wollen wir darüber jetzt reden? Also das ist ja alles. Das muss man ja auch alles in dem zeitlichen Kontext verstehen..." Und da dachte ich: "Okay, zeitlichen Kontext verstehen". Und das hat mich dann, sage ich mal, angefixt, dass ich gesagt habe: Gut, dann gucke ich mal weiter, irgendwie. Was heißt jetzt zeitlicher Kontext? Wieso war so was? Das ist Missbrauch und sexueller Missbrauch das Machtmissbrauch, das geht irgendwie gar nicht. Das ist irgendwie. Ein Lehrer meint: "Ich kann ein Schenkelverkehr nach griechischer Art mit meinen Schülern haben." Und dadurch war ich aufs Thema sensibilisiert. Und dann waren 2010 an der Odenwaldschule, da waren dann eben mehrere Missbrauchsfälle bekannt geworden und da war irgendwie ja deutlich klar, das waren ja alles Jugendbewegte, die waren auch alle über die Jugendbewegung geprägt. Parallel war 2010 dann noch ein auch ganz Bekannter aus der Pfadfinderszene aus Kassel, wo dann auch bekannt worden ist, der hat auch massiv Jungen missbraucht. Und da war dann so, dass ich gesagt habe: Ne, da muss jetzt mehr passieren. Dann haben wir einen Präventionsarbeitskreis gegründet, "Schatten der Jugendbewegung", wo wir gesagt haben, wir müssen über dieses Thema reden, das ist ja nun nicht klein und desto mehr man guckt, desto mehr findet man doch irgendwie auch dazu.

[00:20:04.160] - Nadia Kailouli

Wir haben dann die Leute reagiert? Du hattest gerade gesagt: Ja, sag mal, müssen wir da jetzt hier drüber reden?" Weil das ist ja auch eher was, ich will jetzt nicht sagen Elitäres, aber da trifft sich der Intellektuelle, der dann irgendwie so alte Schriften und alte Historiker und irgendwie ja Schriftsteller, keine Ahnung, sich angucken will, dann einen schönen Vortrag hören will. Wer war das eigentlich, was hat der da geschrieben und so. Und dann kommt dann eben der Lehrer, wo man sagt: "Huch, das will ich jetzt gar nicht hören, das passt ja jetzt hier gar nicht rein." Und du hast gesagt: "Nee, das müssen wir jetzt hören, ich gehe dem jetzt mal nach." Wie hat man da auf dich reagiert? Hat man gesagt: "Super, Sven macht das!" Oder hat man gesagt: "Ne, Sven, komm, damit bringst du noch mal so ein ganz anderes Thema hier rein, dann können wir diese ganzen tollen Kulturveranstaltungen nicht mehr machen."

[00:20:45.430] - Sven Reiß

Exakt letzteres. Also das Ganze kam deutlich mehr Kritik. Es kam schnell auch Dinge, dass ich meine eigene Sexualität verdrängen würde und ein Verfolgertyp sei, weil das hat ja schon Hans Blüher so gesagt. Tatsächlich hat er das Ganze gesagt, also plötzlich kann man sogar Dinge wieder, die eigentlich 100 Jahre alt sind, aufgreifen, um irgendwie jemanden zu diskreditieren. Also solche bizarren Dinge waren da dazwischen. Es war schnell dabei gewesen: "Du willst dich nur wichtig tun." Also klassische Sachen. Aber auch: "Darüber spricht man nicht. Das Ganze berührt hier Dinge an wir als als jugendbewegte Gemeinschaft. Wir stehen fest zusammen." Das Ganze ist irgendwie, das soll auch nicht in Verbindung gebracht werden mit irgendwie so was wie diesen ganzen sexuelle Gewalt und was jetzt geredet wird, weil das ist schon noch was anderes und das würde ich jetzt nicht ganz verstehen.

[00:21:31.390] - Nadia Kailouli

Aha.

[00:21:31.780] - Sven Reiß

Und da merkte man im Prinzip, das ist auch tatsächlich bei einer, sage ich mal, gerade bei einer älteren Generation also, die in den Nachkriegsjahrzehnten, also den 50er und 60er Jahren, in den jugendbewegten Gruppen geprägt worden sind, ist vielfach noch das es irgendwie man was wie auch immer mitbekommen hat. Und da glaube ich auch bei vielen, die haben gar nicht alles mitbekommen, weil was hieß das Ganze? Ja gut, man hat über Eros geredet, aber man hat doch nicht gedacht, dass das Ganze jetzt wirklich ins Sexuelle abgleitet, sondern irgendwie: "Okay, die sprechen von Liebe und überhöhen das ein bisschen und das ist irgendwie... Aber nein, darum geht es doch jetzt nun nicht, sondern nur um eine enge Bindung. Und klar haben wir eine engere Bindung als jetzt ein Lehrer zu seinen Schülern haben wir. Im Jugendbewegten hat der Gruppenleiter irgendwie eine nähere Bindung, klar. Aber dass da mehr ist? Hm." Aber dadurch, dass man plötzlich meinte, ja eigentlich war da doch mehr. Das ist gerade bei den Generationen schwierig.

[00:22:22.900] - Nadia Kailouli

Was glaubst du, was ist das Schwierige daran? Weil man die Szene nicht - ich sage das schlimme Wort - beschmutzen will, sondern zeigen will: "Bei uns war immer alles toll. Wir sind eine Gemeinschaft, wir halten zusammen. Wir gehen durch dick und dünn." Oder weil man sagt: "Bitte lass das weg. Ich möchte nicht, dass ich jemals so wie bei der Aufklärung, zum Beispiel von Fällen innerhalb der katholischen Kirche darüber reden muss, dass auch ich Betroffener zum Beispiel bin." Was glaubst du, was wiegt da mehr als Angst?

[00:22:51.630] - Sven Reiß

Was mehr wiegt, kann ich schlecht sagen. Sicherlich, das eine ist der ganz logische Institutionsschutz, der eben immer in irgendwelchen Gemeinschaften ist, erst mal Abwehr und "das klären wir unter uns" irgendwie. Dann gibt es bei den Pfadfindern teilweise auch Ehrengericht oder solche Institutionen, wo man merkt, das klappt aber auch nicht vernünftig da. Das ist das eine. Das andere ist dieser jugendbewegte - also Pfadfinder Wandervogel, dass packe ich mal als Jugendbewegung zusammen - dieser jugendbewegte Erlebnis- und Erfahrungsraum, der ist ganz stark identitätsprägend. Also ganz viele sagen, dass das Ganze wirklich ihr Leben ganz stark geprägt hat. So, und wenn da plötzlich jemand kommt und sagt: "Übrigens, da sind einige Bausteine in eurer eigenen Identitätskonstruktion, die müssen wir wegreißen." Das will man nicht, weil auch wenn man, wie auch immer man da drin verstrickt war, ob jetzt wirklich als - viele Natürlich, es gab viele, die sind Betroffene selbst. Es gibt viele, die sind zu Tätern geworden, aber auch nicht geblieben unbedingt. Also wo irgendwie Übergriffigkeiten waren, die aber irgendwie, auch solche Dinge haben wir und wir haben ein großes Feld von irgendwelchen, die irgendwie was geahnt haben, aber auch dann nicht groß gehandelt haben. Und das wer will das angehen? Ich verstehe jeden, der sagt so: "Ne."

[00:24:04.450] - Nadia Kailouli

Warum ist es denn aber dann trotzdem wichtig, dass wir das angehen und dass wir jetzt auch zum Beispiel hier in diesem Podcast genau darüber sprechen und das eben nicht einfach alles so unter den Tisch fallen lassen und uns mit Zahlen zufrieden geben und sagen: "Ja, das gab es da ja auch. Ist ja klar, gibt es ja überall, wo alt und Jung zusammenkommt."

[00:24:21.940] - Sven Reiß

Also das eine ist ganz klar. Ich denke, wir müssen immer nach dem spezifischen Eigenlogiken des Missbrauchs fragen. Wenn wir das Ganze verstanden haben, ist es, würde ich sagen, zum einen für die Betroffenen, dass sie irgendwie begreifen, was ist mir da passiert. Wir haben immer wieder dieses Problem, dass sich Betroffene diese Schuldumkehr, dass sich Betroffene selbst die Schuld an irgendwas geben, dass man auch deswegen dekonstruieren muss: Ne, da war ganz viel auch Tolles bei gewesen bei dem Ganzen. Und das Ganze war auch wirklich einer, der war auch der Gruppenleiter. Der Gruppenführer war jemand, der war auch Mentor, der hat dir Gitarre spielen beigebracht und das Ganze waren schöne Dinge. Und das andere gehörte da aber mit zu. Und das andere ist nicht schön. Also um erst mal, dass das zu begreifen. Irgendwie halte ich das Ganze für ganz, ganz wichtig. Dann natürlich auch, damit man dem nicht weiter auf den Leim geht. Und dann ist ein dritter Aspekt, dass man sieht, es geht eben nicht nur um Kinder, es geht nicht um Kindesmissbrauch. Weil gerade bei der Päderastie es ist nicht eine spezifische Vorstellung von Kindheit dabei, sondern es sind letztlich Jugendliche im Entwicklungsalter. Es ist dieses fragile Pubertätsalter, was da die Hauptgruppe ist und dass da ein Fokus drauf kommt. Ne, wir haben wirklich, wir haben Jugendliche, wir haben Jungen, das ist ein Problem. Wir haben teilweise auch junge Erwachsene. Es kann auch angehen. Das sind dann welche von 14,15,16,17,18,19 kann da auch bei sein und das klar ist: Ne, über den Bereich müssen wir auch reden, weil das ist ein Bereich, da ist genauso sexueller Missbrauch. Weil wir haben genau solche Machthierarchien da, die da mit eingewoben sind. Und da müssen wir hinschauen.

[00:25:49.230] - Nadia Kailouli

Du hast es gerade eben gesagt, damit es eben nicht noch mal passiert. Oder dass man sensibilisiert ist für das Thema. Deswegen ist es zu einem wichtig, darüber zu sprechen. Es gibt ja immer noch viele junge Menschen, Jungs, die sagen: "Ich will zu den Pfadfindern, ich gehe zu den Pfadfindern." Kann man guten Gewissens sagen: "Ja, klar, mach das."

[00:26:08.880] - Sven Reiß

Klar kann man guten Gewissens sagen, klar: "Ja, mach das." Aber man sollte sich angucken, was es für eine Gruppe ist. Die meisten Gruppen ist das Ganze. Heute hat das nicht mehr die große Bedeutung. Aber ich würde schon stutzig werden, wenn beispielsweise in einer noch heute herausgegebenen Zeitschrift von einer Gruppe plötzlich eigenwillig doch erotische Aufnahmen von Jungs drin sind. Welche, wo man denkt: "Nanu, das ist irgendwie. Hier ist eine Bildsprache, irgendwas ist mir im Bauch mulmig." Solche Gruppen gibt es. Nicht viele, wie gesagt, die meisten machen es ganz toll. Und es ist übrigens egal, ob das Ganze jetzt eine von diesen Großbünden sind oder von kleinen freien Pfadfinderbünden. Also ganz viele machen tolle Arbeit, aber man sollte bei so ein paar Dingen einfach mal, man sollte genauer hingucken. Beziehungsweise sollten dann eben vor allem, sage ich mal, auch natürlich die Eltern irgendwie da ein bisschen nicht völlig naiv alles mitmachen und wo man spätestens alle Alarmglocken schrillen sollten ist wenn dann beispielsweise der - und da kann man von, da kann man jetzt von Pfadfindern man kann da genauso vom Sportverein sprechen - wenn welche von diesen ganz tollen Gruppenführern, Gruppenleitern mit einmal anfangen, den eigenen Jungen ganz, ganz toll zu finden und ihn zu fördern, mit ihm noch mal außerhalb der Gruppe Aktivitäten zu machen. Dann sollten wirklich die Alarmglocken schrillen, weil das ist eigentlich nicht die Aufgabe. Von einer jugendbewegten Pfadfindergemeinschaft ist es eigentlich nicht die Sache, dass es plötzlich Zweierbeziehungen außerhalb der Gruppe gibt. Das wird es komisch.

[00:27:33.740] - Nadia Kailouli

Okay, das sind doch mal Sachen, mit denen man arbeiten kann. Sven Reiß, du hast uns einen wahnsinnig tollen Einblick gegeben in deine wissenschaftliche, forschende Arbeit zu diesem Thema und uns grundsätzlich glaube ich, ganz gut abgeholt, einfach auch mal zu gucken, inwieweit das, was früher passiert ist, heute irgendwie noch als Rechtfertigung genommen wird. Wo man aber eigentlich ganz klar sagen kann: "Nein, das war nicht okay." Sven Reiß, vielen, vielen Dank!

[00:27:55.370] - Sven Reiß

Ich Danke.

[00:28:00.620] - Nadia Kailouli

Ich finde das ganz gut, dass Sven hinten raus das noch mal so konkret gesagt hat: Also wenn euer Kind bei den Pfadfindern ist und da der Gruppenleiter sagt: "Mensch, der Markus oder der Sebastian. Mensch, der ist so begabt, der ist so toll. Wir machen da noch mal eine extra Schnitzeljagd." Vergiss es, Onkel. Also das muss man nicht machen. Und das ist ein Indiz dafür, irgendwas scheint da nicht in Ordnung zu sein.

[00:28:27.110] - Nadia Kailouli

Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Da kriegen wir zum Beispiel Fragen: "Wie soll ich mein Kind überhaupt fragen, ob da was passiert ist?" Oder zum Beispiel: "Wie sage ich meinem Kind, dass wenn Freunde zu Besuch sind und wir grillen, dass mein Kind nicht die Unterhose ausziehen soll?" Solche Fragen erreichen uns und dieses Thema beschäftigt euch und wir möchten euch dabei gerne unterstützen. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Einige von euch kennen Ulli Freund vielleicht schon aus der Folge 82 einbiszwei. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle "Missbrauchsbeauftragte". Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.

Mehr Infos zur Folge

Wenn man an Pfadfinder denkt, dann fallen einem neben dem Klischee der täglichen guten Tat vor allem Abenteuer in Zeltlagern, tolle Gemeinschaftserlebnisse und Naturverbundenheit ein. Doch die Erfolgsgeschichte hat Schattenseiten: Anfang des Jahres hat der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder eine Studie zum sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen vorgestellt. Die Untersuchung geht von mindestens 50 Beschuldigten und 123 Betroffenen aus, dazu kommen der Studie zufolge 24 Beschuldigte und 26 Betroffene, die zwar aus dem Pfadfinder- Zusammenhang stammen, aber nicht zum Verband gehören. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Jahren zwischen 1976 und 2006. Warum es bei Pfadfindern zu sexueller Gewalt kommen konnte, hat auch damit zu tun, dass sexuelle Gewalt bei den Pfadfindern lange als „pädagogischer Eros” akzeptiert und ideologisch legitimiert wurde.

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat in deutschen Jugendbewegungen eine gewisse Tradition: Schon der 1921 wegen sexuellem Missbrauch rechtskräftig verurteilte Reformpädagoge Gustav Wyneken verteidigte sich vor Gericht, indem er sein Handeln als „pädagogischen Eros” verklärte. Er berief sich direkt auf das Vorbild griechischer Päderastie. Verquaste Vorstellungen, und doch wurden sie innerhalb der Pädagogik und der Jugendbewegung immer wieder als Legitimation für Übergriffe an Pubertierenden rezipiert. Ein anderer Ideologe, der Philosoph und Wandervogel Hans Blüher, beschrieb vor einhundert Jahren die Wandervogelbewegung als ein männerbündisches, erotisches Phänomen: päderastische „Heerführer der Jugend“ seien demnach die eigentlichen „Wirbelpunkte“ der Bewegung. Seither mangelte es nicht an bagatellisierenden Erklärungen, die unter den Begriffen einer „starken Freundesliebe“ oder jener „Kraft des Eros“ rein geistige Beziehungen verstanden wissen wollten. Bei solchen Einblicken stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch Kinder in jugendbewegte Gruppen geben könne. Sven Reiß, der ausgiebig zum Thema „Sexuelle Gewalt in der deutschen Jugendbewegung” forscht, sagt: Man kann. Junge Menschen innerhalb der Szene sind sensibilisiert und brechen Tabus. Viele Bünde haben bereits eigene Präventionskonzepte zu diesem Thema und schulen ihre Mitglieder. Der Arbeitskreis „Schatten der Jugendbewegung“ fördert seit 2010 den offenen Austausch, bietet Schulungen an und widmet sich den Fragen möglicher Präventionsarbeit.

Schwarz-weißes Porträtfoto

LINKSAMMLUNG:

Veröffentlichungen von Sven Reiß

Website der Uni Kiel
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Vortrag von Sven Reiß: Homosexuelle Emanzipationsbewegung und sexueller Missbrauch
Zu YouTube

Arbeitskreis „Schatten der Jugendbewegung“
Zur Webseite

taz-Artikel von Sven Reiß: Sie nannten es Geheimbund (2013)
Zur Webseite der taz

Tagesschau: Dutzende Fälle sexualisierter Gewalt bei Pfadfindern. Ergebnis der Studie (2024)
Zur Webseite der Tagesschau

Informationen zur Studie „Grenzenlose Orte. Sexualisierter Gewalt im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) 1976 bis 2006”
Zur Webseite Pfadfinden

Sven Reiß: Körperliche Kulturkritik
Zur Webseite des Verlags

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

Wenn Sie Fragen oder Ideen zu einbiszwei haben:

einbiszwei@ubskm.bund.de

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