Berlin. Am 28. Januar 2015 jährt sich zum fünften Mal die Veröffentlichung eines Berichts in der „Berliner Morgenpost“ über Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg, der damals eine Lawine von weiteren Betroffenenberichten wie beispielsweise aus dem Kloster Ettal, der Nordkirche/Ahrensburg oder der Odenwaldschule auslöste.
Heute zogen der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Sabine Andresen (Goethe-Universität Frankfurt/M.), der Schulleiter P. Klaus Mertes SJ (ehemaliger Leiter Canisius-Kolleg, heute: St. Blasien) sowie die Betroffenen Matthias Katsch (Betroffener Canisius-Kolleg), Anselm Kohn (Betroffener Missbrauch in Ahrensburg) und Adrian Koerfer (Betroffener Odenwaldschule) anlässlich des Jahrestages in Berlin eine kritische Bilanz: Verbesserungen bei der Prävention, insbesondere in Schulen, und die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission bleiben zentrale Forderungen.
Rörig: „Bis 2010 gab es zu oft Verharmlosung und Vertuschung. Die breite Öffentlichkeit konnte sich bis dahin offenbar nicht vorstellen, in welchem Ausmaß Erwachsene Kinder missbrauchen. Die Lawine von Betroffenenberichten hat Deutschland tief geschockt und berührt und Konsequenzen nach sich gezogen: die Sensibilität in Kitas, Schulen, Kirchengemeinden und Sportvereinen ist gewachsen, ein Fonds wurde aufgelegt, Verjährungsfristen wurden verlängert und das Strafrecht verschärft. Dies alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt noch immer nicht gelebter Alltag ist. Nur wenige Einrichtungen haben umfassende Schutzkonzepte, nur wenige Eltern wissen, welche neuen Gefahren durch die digitalen Medien in die Kinderzimmer drängen. Viele tausend Mädchen und Jungen sind heute noch schutzlos sexueller Gewalt ausgesetzt. Es mangelt an finanziell abgesicherten spezialisierten Beratungsstellen und Therapieplätzen bei sexuellem Missbrauch. Solange nicht alle uns bekannten Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden, bleibt Missbrauch weiterhin ein Skandal in Deutschland! Missbrauch darf nicht länger zum Grundrisiko einer Kindheit gehören.“
Positiv äußerte sich Rörig über aktuelle Signale aus dem Bundestag, nach denen es voraussichtlich ab 2016 eine Aufarbeitungskommission geben könnte. Im März soll außerdem der beim Beauftragten angesiedelte Betroffenenrat seine Arbeit aufnehmen. Rörig: „Das sind wichtige Signale für Betroffene für mehr Anerkennung, Mitsprache und Dialog auf Augenhöhe.“Prof. Dr. Andresen: „Wenn wir heute über sexuelle Gewalt und ihre Aufarbeitung seit 2010 sprechen, sollten wir die Geschichte der Frauenbewegung nicht vergessen. Sie hat gegen die Ausblendung und Banalisierung des Leides in der Gesellschaft ihre Stimme erhoben und Forderungen einer Liberalisierung des Sexualstrafrechts bei sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern zurückgewiesen. Auch die Forschung in Medizin, Psychologie oder Pädagogik muss sich dem Vorwurf der Ausblendung stellen. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen geht es um Aufmerksamkeit für die Würde und Integrität der Heranwachsenden, für ihre Rechte, auch ihre sexuellen Rechte.“P. Mertes SJ: „Der größte Gewinn von 2010 ist, dass kirchlich und auch gesellschaftlich Sprachlosigkeit bei Opfern, Mitwissern und auch bei Tätern aufgebrochen wurde. Das ist zugleich die Voraussetzung für Aufklärung und Prävention. Mein Grundsatz dazu lautet: „Schulen und andere pädagogische Institutionen müssen auf die Gewalt reagieren, die sichtbar ist, um sehend zu werden für die Gewalt, die unsichtbar ist.“Katsch: „Das Bewusstsein in der Gesellschaft hat sich durch die breite Debatte der letzten Jahre gewandelt. Missbrauch ist Gewalt. Er ist eine Beziehungstat, in deren Mittelpunkt nicht die Sexualität, sondern die Macht gegenüber dem Kind steht. Dieses Machtgefälle setzt sich heute fort, wenn Bischöfe sich beharrlich weigern, mit Betroffenen auf Augenhöhe über ihre Forderungen zu sprechen. So sehr wir alle präventiven und sonstigen in die Zukunft gerichteten Maßnahmen für die Kinder von heute begrüßen, so energisch muss ich an diesem fünften „Jahrestag“ darauf hinweisen, dass die an uns begangenen Taten bislang weder systematisch noch unabhängig aufarbeitet worden sind, so wie wir bisher keine angemessene Entschädigung erhalten.“Kohn: „Zwischen den Worten der Kirche und ihren Taten liegt ganz offensichtlich eine Kluft. Die Kirchen sollten Vorbild im Umgang mit Missbrauch in der eigenen Institution werden, achtsam im Umgang mit den Betroffenen und konsequent im Handeln. Aber Mahnungen gehen auch an die Politik: Die Stellung der Kirchen im Staat sollte überprüft werden. Die Kirchen sollten nicht „generös“ selbst entscheiden können, welche Wiedergutmachung sie in ihr Budget einstellen. Es braucht eine übergeordnete staatliche Instanz, eine institutionsunabhängige Aufarbeitungskommission, die aufklärt und auch neue Maßstäbe für Entschädigungen aufstellt.“Koerfer: „Kindesmissbrauch ist so dramatisch aktuell wie die Verbrechen der Boko Haram, des sog. IS, der Taliban. Nur passiert alles hier viel lautloser. Die Verweigerungshaltung gegenüber Betroffenen von Institutionen wie der Odenwaldschule kann nur dazu führen, diese Haltung zum alleinig gültigen Kriterium für weitere öffentliche oder auch private Förderung zu machen. Wahrheitswahrnehmung, Verantwortungsübernahme, Schuldeingeständnis und Empathie - das müsste der Lackmustest für alle Institutionen sein! Und damit stellt sich für mich auch die Frage der Mitwisserschaft: Mein Appell geht heute an die Mütter von Kindern, deren Männer missbrauchen, an die Kolleginnen und Kollegen von Lehrern, Priestern, Pfarrern, Sportlehrern, die missbrauchen und viele mehr: Mit nur ein wenig mehr Mut, der so unendlich wichtig wäre, könnten Mitwisser jetzt gerade, in dieser Minute, hunderte von Kindern vor den fatalen Folgen von Kindesmissbrauch retten. Hier und überall. Jederzeit. Immerzu.“
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