Betroffenenbeteiligung | Pressemitteilungen | 10.05.2020

Rörig zur Vorstellung PKS 2019:

„Missbrauch ist ein weltweites Phänomen von dramatischem Ausmaß, seine Bekämpfung eine Nationale Aufgabe!“

Berlin, 11.05.2020. Zur  Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019 hat die Deutsche Kinderhilfe e. V.  heute zu einer Pressekonferenz eingeladen, an der auch der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, sowie der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, teilgenommen haben.

Statement des Missbrauchsbeauftragten Rörig: 

Ende Januar 2020 habe ich anlässlich meiner Pressekonferenz zu 10 Jahre »Missbrauchsskandal« beklagt, dass alle Anstrengungen der letzten Jahre nicht ausgereicht haben, Mädchen und Jungen wirksam vor sexueller Gewalt zu schützen – weder in der analogen noch in der digitalen Welt. 

Die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik 2019 unterstreicht diesen traurigen Befund: Wir haben einen weiteren Anstieg bei sexuellem Missbrauch und einen drastischen Anstieg bei den Missbrauchsabbildungen, der sogenannten Kinderpornografie. 

Ende Januar sprach ich auch vom ohrenbetäubenden Schweigen, das uns beim Thema sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen in Politik und Gesellschaft immer noch entgegenschlägt. Dabei hatte ich ausdrücklich nicht die Missbrauchsfälle von Staufen, Lügde oder Bergisch-Gladbach im Blick, sondern die vielen tausend Fälle, die nicht angezeigt und nicht zu Skandalen werden, die massenhaft und unsichtbar mitten unter uns stattfinden. 

Ende Januar hatten wir die ersten Corona-Fälle in Deutschland. Inzwischen hat die Corona-Krise unser Land fest im Griff. Schon vor dem Gebot sozialer Distanz erlebten viele Kinder gerade in der Familie Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt. Durch häusliche Isolation waren und sind viele Kinder jetzt noch größeren Gefahren familiärer Gewalt ausgesetzt. Trotz der inzwischen stattfindenden Lockerungen fehlt noch immer und viel zu oft der Kontakt zu helfenden Einrichtungen wie Kitas oder Schulen. 

Umso dankbarer bin ich allen Menschen, die Kontakte zu Kindern in belasteten Familiensituationen gerade jetzt unter den erschwerten Bedingungen und mit viel Kraft und Kreativität aufrechterhalten. 

Ich danke allen Engagierten in der privaten und öffentlichen Jugendhilfe, in den vielen Beratungsstellen und an den Krisentelefonen. Ich danke allen Lehrkräften, die es geschafft haben, für ihre Schülerinnen und Schüler auch online da zu sein. Ich danke allen aufmerksamen Nachbarinnen und Nachbarn. Und ich danke allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen und Organisationen, die sich in Zeiten von Corona für den Kinderschutz stark machen, zum Beispiel mit großem Engagement auch die Infoangebote unser aktuellen Initiative »Kein Kind alleine lassen« in Hausfluren, Geschäften oder auf Social Media verbreiten. 

Auch sexueller Missbrauch ist ein weltweites Phänomen von dramatischem Ausmaß und verbunden mit unendlichem Leid. 

Sexueller Missbrauch ist eine Pandemie, eine Dauerkrise in Deutschland und weltweit, ein universelles Problem, immer schon und immer noch.

Wenn ich jetzt beobachte, welche Kraft von Politik, Gesellschaft, den Hilfestrukturen und in den Familien aktuell entfaltet wird, um die Corona-Krise und ihre Folgen zu bekämpfen, bin ich voller Zuversicht und Stolz, was wir in Deutschland bewegen können, wenn der politische und gesellschaftliche Wille stark ist.

Andererseits packt mich derzeit die pure Verzweiflung: Öffentliche und private Haushalte werden auf Jahre hinaus schwer verschuldet sein. 

Als Missbrauchsbeauftragter bin ich in größter Sorge, dass Kinderschutz jetzt auf der politischen Prioritätenliste weiter nach unten rutscht. Denn: Wie schwer war es schon bisher, dem politischen Mainstream, der kinderschutzfernen Politik, Erfolge und Fortschritte im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen und seinen Folgen abzuringen.

Deshalb appelliere ich mit leidenschaftlicher Vehemenz an Politik und Gesellschaft: 

Der Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen muss trotz Corona-Krise intensiviert vorangetrieben werden. Keine meiner bisherigen Forderungen nach Stärkung von Prävention und Intervention, Hilfen und Aufarbeitung hat sich durch die Corona-Krise erledigt.

Nur wenn sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte zusammentun und auch nach der Corona-Krise ihr Bestes geben, erreichen wir in Deutschland endlich den ersehnten Rückgang der Missbrauchszahlen. 

Nur ein Bruchteil der Kraft, die jetzt im Kampf gegen Corona und seine Folgen eingesetzt wird, würde in meinem Themenfeld schon bahnbrechende Verbesserungen bringen und vielen tausend Mädchen und Jungen lebenslanges Leid ersparen. Ich habe hier nicht nur die milliardenschweren Hilfspakete vor Augen. Ich meine vor allem den starken politischen und gesellschaftlichen Willen, den Deutschland gerade so eindrucksvoll unter Beweis stellt. 

Auch der Kampf gegen sexuellen Missbrauch und seine Folgen ist eine nationale Aufgabe!

Johannes-Wilhelm Rörig
Berlin, 11.05.2020

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