Rörig: „Rund 1 Million Kinder sind in Deutschland von sexueller Gewalt betroffen. Expertise zeigt enorme Dimension von sexueller Gewalt an Kindern auch im internationalen Vergleich!“
Mädchen sind weitaus häufiger betroffen als Jungen. Die meisten Kinder erleiden neben sexueller Gewalt auch weitere Gewaltformen.
In einem „Forderungskatalog Forschung“ fordern der Beauftragte, Experten und Betroffene mehr Investment in Forschung, Vernetzung mit der Praxis und Partizipation von Betroffenen sowie Nutzung von Forschungswissen für Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Berlin, 22.02.2016. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, hat heute in Berlin die Expertise „Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch – Internationale Einordnung, Bewertung der Kenntnislage in Deutschland, Beschreibung des Entwicklungsbedarfs“ und einen „Forderungskatalog Forschung“ vorgestellt.
Bisher fehlt es in Deutschland an validen Zahlen zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch oder zur Differenzierung nach Geschlecht. Ein Vergleich der vorliegenden Hell- und Dunkelfeldstudien ist aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Studiendesigns kaum möglich, Entwicklungen und Tendenzen, ob Missbrauch zu- oder abnimmt und welche Faktoren hier möglicherweise eine Rolle spielen, sind so kaum zu benennen. Rörig hat deshalb Prof. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, und sein Team beauftragt, die aktuelle Datenlage für Deutschland im internationalen Vergleich darzustellen und Empfehlungen auszusprechen, wie eine verlässlichere Datenlage in Deutschland hergestellt werden kann. Hauptautor der Expertise ist Dr. Andreas Jud, Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern - Soziale Arbeit und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team von Prof. Fegert.
Rörig: "Die Expertise zeigt die enorme Dimension von sexueller Gewalt an Kindern. Es ist wichtig, dass Politik und Gesellschaft dieses Ausmaß verstehen lernen, um entsprechende Schutz- und Hilfsmaßnahmen endlich flächendeckend zum gelebten Alltag werden zu lassen. Missbrauch findet überall statt, in der Familie; in Institutionen, durch digitale Medien, in Flüchtlingsunterkünften oder durch organisierte Kriminalität, seine Formen reichen von sexualisierter Sprache bis zu Vergewaltigungen, auch von Babys und Kleinstkindern. Skandale machen die Dimension des Leids von sexuellem Missbrauch immer wieder erkennbar, oft werden daraus aber nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Um das Ausmaß und die gesellschaftliche Dimension von sexuellem Missbrauch insgesamt greifbarer zu machen, brauchen wir mehr Aufarbeitung, mehr Forschung und dringend eine verlässlichere Datenlage."
Rörig mahnte angesichts der aktuellen Debatte zum Asylpaket II nochmals eindringlich, Schutzstandards in Flüchtlingsunterkünften einzuführen: "Weiten Teilen von Politik ist die riesige Dimension sexueller Gewalt an Kindern offenbar bis heute nicht bewusst. Das im Asylpaket II vorgesehene erweiterte Führungszeugnis alleine reicht nicht aus, um Flüchtlingskinder in den Unterkünften wirksam vor sexueller Gewalt zu schützen. Es bedarf dringend weiterer Schutzmaßnahmen! Kinder haben ein Recht auf unseren Schutz, unabhängig von Herkunft, Religionszugehörigkeit oder Aufenthaltsstatus."
Dr. Jud: "Nur wer Umfang und Verbreitung sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen kennt, kann auch entscheidende Antworten zu ihrer Eindämmung finden. Ein Blick auf nationale und internationale Hell- und Dunkelfeldstudien zeigt eine immens hohe Zahl an Betroffenen. Leider weichen die verschiedenen Daten zur Häufigkeit aber mitunter deutlich voneinander ab, sodass genaue Einordnungen kaum vorgenommen werden können. Wir brauchen daher dringend einheitliche Definitionen und Standards in Forschung und Praxis."
Im Sommer 2015 hat Rörig gemeinsam mit seinem Beirat unter Federführung von Prof. Barbara Kavemann und Prof. Fegert ein Forschungshearing veranstaltet. Ziel war es, mit Betroffenen sowie weiteren Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis Wege zu erörtern, wie Forschung zu sexuellem Missbrauch zur Selbstverständlichkeit und stärker mit anderen Disziplinen und der Praxis vernetzt werden kann. Ein entsprechender Forderungskatalog "Forschung zu sexuellem Missbrauch - Vom Tabu zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe" wird jetzt den mit Forschung befassten Akteurinnen und Akteuren zugesendet.
Prof. Fegert: "Noch immer wird Missbrauch häufig als Randerscheinung und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen. Es braucht deshalb eine nachhaltige Forschungsagenda und regelmäßiges Monitoring. Hierfür ist interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich. Neben der Verlängerung von Förderschwerpunkten, braucht es die Verstetigung neu geschaffener Schwerpunkte und breite Förderinitiativen aus verschiedenen Bereichen."
Die Expertinnen und Experten betonten, dass Forschungsergebnisse konsequenter in Aus-, Fort- und Weiterbildung einfließen und die Partizipation von Betroffenen gewährleistet sein müssen.
Alex Stern, Mitglied Betroffenenrat und Mitglied Konzeptgruppe Forschung des Beirats des Unabhängigen Beauftragten: "Im Sinne der Betroffenen ist wichtig, dass mit und nicht an ihnen geforscht wird. Betroffene sexualisierter Gewalt haben bereits die Erfahrung machen müssen, von anderen Menschen zum Objekt degradiert zu werden. Um eine solche Erfahrung nicht zu wiederholen, müssen für die Forschung mit Betroffenen neue Wege gefunden werden, den Betroffenen größere Partizipationsmöglichkeiten als bisher einzuräumen."
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