Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend,
zunächst einmal möchten wir uns für die Möglichkeit bedanken, dass wir unsere Erfahrungen und Perspektiven zur Schaffung eines Landesbetroffenenrates in Nordrhein-Westfalen (NRW) einbringen können. Gerade auch aus Ihrem Bundesland erreichen uns häufig Anfragen u.a. zu Stellungnahmen, Expertisen oder Teilnahme an Anhörungen. Ihr Ansatz, Betroffene regelmäßig zu beteiligen, ist richtig und wichtig. Gleichzeitig stellen Sie selbst zurecht fest, dass wir als ehrenamtlich arbeitendes Gremium durchaus an Grenzen kommen, alle bundesweit auflaufenden Anfragen zu bewältigen. Schon länger fordern wir nicht nur aus diesem Grund die Einrichtung eigenständiger unabhängiger Betroffenenbeteiligung in jedem Bundesland. Dass nun die Initiative zur Einrichtung eines Landesbetroffenenrates auch in NRW endlich ergriffen wird, begrüßen wir sehr.
Betroffenenbeteiligung ist für uns ein Qualitätsmerkmal. Betroffene sind Expert*innen in eigener Sache mit vielfältigem Erfahrungswissen, persönlichen wie auch arbeitsbezogenen Kompetenzen und individuellen Lebenswegen. Auf der Grundlage dieses Erfahrungsschatzes und der Expertise zu Bedarfen von Betroffenen lassen sich bestehende Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene, gleichgültig, ob heute Erwachsene oder Kinder und Jugendliche angemessener bestimmen, ausbauen und ergänzen. Als Betroffene können wir Ressourcen ebenso wie strukturelle Defizite aus eigener Erfahrung benennen und wissen am besten, was wir in der jeweiligen Situation gebraucht hätten.
Da unseres Erachtens nur ein sachorientierter Ansatz der Betroffenenbeteiligung sinnvoll ist, möchten wir als Ausgangspunkt unserer Ausführungen ausdrücklich betonen, dass eine Anbindung des Betroffenenrates an die Kinderschutzkommission von uns als nicht zielführend und kontraproduktiv angesehen wird. Die Expertise und Perspektiven von Betroffenen reduzieren sich nicht allein auf die gegenwärtigen Themen des Kinderschutzes. Allein Ihre Bitte zu dieser Stellungnahme zeigt, dass auch die Anfragen an uns bereits weit über reine Fragen des Kinderschutzes hinausgehen und unsere Expertise in den unterschiedlichsten auch politischen Prozessen gefragt ist. Eine Anbindung an die Kinderschutzkommission würde inhaltlich und in der öffentlichen Wahrnehmung eine einseitige Reduzierung der Arbeit des Betroffenenrates auf die Ausgestaltung des Kinderschutzes im Bundesland nach sich ziehen und gleichzeitig die Belange sowie berechtigten Interessen von heute erwachsenen Betroffenen vernachlässigen.
Sollten Sie als Parlament und Kinderschutzkommission den Ansatz verfolgen, dass ein Betroffenenrat ausschließlich zu Fragen des Kinderschutzes arbeitet, so wäre aus unserer Sicht von der Schaffung dringend abzuraten, da es u.E. den originären Auftrag eines solchen Gremiums in Frage stellt.
Die Expertise von Betroffenen ist so vielfältig wie die Betroffenen selbst und umfasst u.a. auch Themen wie Versorgungslücken im Schutz- und Hilfesystem, Forschung zu Gewalt und Gewaltfolgen, Bildungs- und Ausbildungsinhalte u.a. von pädagogischen und medizinischen Berufen, kindgerechte Justiz, Finanzierungsbedarfe von Fachberatungsstellen oder sozialrechtliche Entschädigungsleistungen. Betroffene begleiten als Expert*innen sowohl institutionelle als auch familiäre Aufarbeitungsprozesse. Oftmals geht es in der Arbeit des Betroffenenrates um ressortübergreifende Arbeitsprozesse und Gesetzgebungsverfahren. Die defizitäre Versorgung zu thematisieren und sich an Verbesserungsentwürfen zu beteiligen, gehört eben genauso zur Arbeit eines Landesbetroffenenrates wie die konkrete Beratung des Parlaments zu Fragen des Kinderschutzes und Schutzkonzepten.
Die hier genannten sind Beispielthemen, mit denen Sie sich neben den politischen Entscheidungen zum Kinderschutz auch und gerade in den jeweiligen Bundesländern auseinandersetzen müssen. Einen Landesbetroffenenrat bei dieser inhaltlichen Breite an eine Kinderschutzkommission anzusiedeln, würde den Einbezug bei Themen, die stattdessen vor allem erwachsene Betroffene betreffen (z.B. berufliche Rehabilitation), verkomplizieren. In Deutschland gilt in wesentlichen Bereichen, die Kinder und Jugendliche sowie erwachsene Betroffene betreffen, das Landesrecht. Das erfordert und legitimiert eine nachhaltig ausgestaltete Betroffenenbeteiligung auf Landesebene.
Natürlich muss und wird das Expert*innenwissen von Betroffenen helfen, die Herausforderungen im Kinderschutz zu bewältigen. Durch eine konsequente Betroffenenbeteiligung können Machtstrukturen und Systeme, die sexualisierte Gewalt möglich machen, besser identifiziert werden. Ziel muss am Ende immer eine übergreifende gesellschaftliche Handlungskompetenz sein, um Täter*innen Räume zu nehmen, ihre Strategien zu durchbrechen und den Schutz von Kindern und Jugendlichen umfassend zu gewährleisten. Insofern bleibt die beratende Stimme in der Kinderschutzkommission zu begrüßen, zugleich aber kann der ständige Sitz nur ein Teil der Arbeit und des Auftrages des Betroffenenrates sein.
Dass sich die Verhältnisse zwischen den einzelnen Bundesländern sehr unterscheiden, wird uns im Betroffenenrat bei der UBSKM oft kommuniziert. Dass der Bund aufgrund von Landesrecht auf viele betroffenen- und kinderschutzrelevanten Änderungsbedarfe keinen gestaltenden Einfluss hat, erfordert und begründet im Besonderen die Einrichtung eines Landesbetroffenenrats, der landesspezifischer und somit zielgenauer agieren kann.
Sinnvoll erscheinen aus den bisher genannten Gründen derzeit eine ressortübergreifende Konstituierung und Anbindung an die Landesregierung. Bei gleichzeitiger Schaffung einer/es unabhängigen Landesbeauftragten in Anlehnung an das UBSKM-Amt kann/muss der Landesbetroffenenrat hier angebunden werden. Eine Reduzierung des Amtes auf den Kinderschutz und die Kinderrechte erscheint auch hier wenig zielführend. Unabhängigkeit von parteipolitischer Vereinnahmung und vor Vereinnahmung außerparlamentarischer Interessen sollte garantiert werden.
Der Landesbetroffenenrat sollte aus unserer Erfahrung auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage sowie einer eigenen Geschäftsordnung seine Arbeit aufnehmen. Auf den laufenden Gesetzgebungsprozess UBSKM wird verwiesen. Schon zum Schutz der einzelnen Mitglieder müssen unter anderem Auftrag, Anforderungen, Rechte, Verbindlichkeiten, Ehrenamtspauschale, Arbeitsweise oder strukturelle Rahmenbedingungen klar und transparent per Gesetz geregelt sein. Eine landesspezifische gesetzliche Grundlage kann auch eine willkürliche Vereinnahmung oder gar Auflösung des Landesbetroffenenrates durch veränderte politische Bedingungen verhindern.
Durch die Einrichtung eines Landesbetroffenenrats legen Parlament und Landesregierung die Grundlage für eine kontinuierliche Betroffenenbeteiligung einschließlich der beratenden Begleitung auch länger andauernder Prozesse. Für Sie, die Landesregierung und das Parlament inkl. Kinderschutzkommission ist es zukünftig eine positive Herausforderung, für beratende Betroffene Ihre politischen Prozesse nachvollziehbar und die ehrenamtliche Beratung damit möglich zu machen. Wenn Sie eine funktionierende wie wirksame Betroffenenbeteiligung und nicht nur ein Feigenblatt realisieren wollen, dann müssen Sie Ihre politischen Prozesse hinsichtlich Geschwindigkeit und Nachvollziehbarkeit an die ehrenamtlichen Möglichkeiten eines zukünftigen Landesbetroffenenrates anpassen und nicht umgekehrt. Die beratende Funktion realisiert sich nur konsequent, wenn Sie die Beteiligung des Betroffenenrates in politischen Prozessen grundsätzlich und frühzeitig mitdenken sowie ein kooperatives Zeitmaß für die Zusammenarbeit anlegen.
In NRW gibt es Regionen mit sehr eigenem Charakter und eigener Geschichte, die sich in ihrer Sozial- und Infrastruktur zum Teil stark voneinander unterscheiden. Damit in und für NRW die passenden Entscheidungen getroffen werden können, ist es von Vorteil, wenn die Zusammensetzung des Betroffenenrates tatkontextübergreifend auch diese regionalen Unterschiede abbildet. Ebenso wichtig ist, dass ein Landesbetroffenenrat die Bevölkerung NRWs in ihrer Diversität hinsichtlich ihrer Ressourcen, Altersgruppen, Geschlechter, Behinderungen und Religionszugehörigkeiten abbildet. Dementsprechend müssen sämtliche Rahmenbedingungen für das Ehrenamt dahingehend geprüft werden, dass sie Personen in Sozialleistungsbezügen nicht ausschließen, Barrierefreiheit garantieren und keine beruflichen Nachteile für die Ehrenamtlichen verursachen.
Die Anforderungen und Anfragen an die einzelnen Mitglieder aber auch an das Gremium als Ganzes werden in einem so großen Bundesland quantitativ herausfordernd sein. Eine ausreichende Anzahl an Mitgliedern kann Belastungsgrenzen minimieren und ist Bedingung für eine gelingende Betroffenenbeteiligung in so vielen Prozessen wie nötig.
Das Auswahlverfahren muss transparent und nach klaren Kriterien erfolgen. Die Mitgliedschaft in einem Betroffenenrat ist kein Selbstläufer, sondern sowohl inhaltlich als auch organisatorisch wie emotional herausfordernd. Das muss im Auswahlverfahren berücksichtigt werden. Die Betroffenen sollten nach vorab zu definierenden Kriterien von einem festgelegten Auswahlgremium ausgewählt und berufen werden. In diesem Auswahlgremium sollten/müssen Betroffene stimmberechtigt vertreten sein. Wir verweisen an dieser Stelle auf die Expertise zu Auswahlprozessen zur Mitgliedschaft in einem Betroffenenrat seitens der UBSKM und ihres Arbeitsstabes.
Ausdrücklich möchten wir aus Erfahrung davor warnen, dass der zu gründende Landesbetroffenenrat per Auftrag oder gesetzlicher Ausgestaltung eine „eigenständige Interessenvertretung für die Betroffenen“ sein soll. Ein Landesbetroffenenrat kann und soll in einem übergeordneten Sinne die Perspektiven von Betroffenen kommunizieren und in politische Prozesse implementieren. Den Anspruch einer Interessenvertretung darf er jedoch weder als Selbstverständnis haben noch sollten Sie die Erwartungen an ihn so formulieren wie im vorliegenden Antrag.
Betroffenenbeteiligung in Form eines Landesbetroffenenrates gewährleistet den Einfluss und die Berücksichtigung der Perspektiven von Betroffenen in politischen wie gesellschaftlichen Prozessen. Die Gleichsetzung mit einer (von allen Betroffenen demokratisch zu wählenden) Interessenvertretung würde aber zwangsläufig zu unerfüllbaren Erwartungen von Betroffenen an den Landesbetroffenenrat führen.
Ein Landesbetroffenenrat kann weder per Gesetz noch Selbstverständnis individuell gewünschte Beratungsangebote und Arbeitsaufträge realisieren. Dies ist nicht Sinn und Zweck eines Betroffenenrates. Grenzen und Möglichkeiten müssen transparent und offen kommuniziert werden, um eine unrealistische Erwartungshaltung an den Betroffenenrat und damit verbundene Enttäuschungen zu vermeiden.
Klar ist, dass die Basis Ihrer Initiative, Beteiligung von Betroffenen zu ermöglichen, eine ausreichende Finanzierungsgrundlage sein muss, die flexibel angepasst wird, wenn Arbeitsumfang und Aufträge des Landesbetroffenenrates sich im Zuge der Etablierung der Arbeit entsprechend erhöhen. Neben der Ehrenamtspauschale sollten auch Möglichkeiten der individuellen Supervision allen Mitgliedern des Landesbetroffenenrates zur Verfügung stehen. Partizipation zu gewährleisten und zu ermöglichen, ist nicht mit der Einsetzung eines Betroffenenrates abgeschlossen. Die einzelnen Mitglieder müssen auch die entsprechenden Rahmenbedingungen haben, um diese anspruchsvolle ehrenamtliche Tätigkeit für sich wie auch als Gremium im Ganzen bewältigen zu können.
Für die Arbeit eines Landesbetroffenenrats ist es unerlässlich, dass eine klare Regelung hinsichtlich von Personen- und Sachschäden gefunden wird, die im Zusammenhang mit der ehrenamtlichen Tätigkeit entstehen könnten. Eine Übernahme der Haftung durch das Land erachten wir als wichtig, da nicht alle Versicherungsgesellschaften öffentliche Ehrenämter in deren Privathaftpflichtversicherungen abdecken.
Die direkte Partizipation von Betroffenen an politischen Prozessen in Form von Mitarbeit und Mitgliedschaft ist noch nicht selbstverständlich. Sie ist für alle Beteiligten herausfordernd. Die konkreten Rahmenbedingungen gilt es mit Betroffenen, weiter zu diskutieren und vor allem ihr Erfahrungswissen bei der konkreten Ausgestaltung zu berücksichtigen.
Das alles umzusetzen, geht selbstverständlich nicht von heute auf morgen. Das wissen auch wir. Aber Sie können mit der notwendigen Konsequenz mittel- und langfristige Betroffenenbeteiligung ermöglichen. Die Stärkung und Weiterentwicklung partizipativer Prozesse fördert das Empowerment aller Beteiligten. Über die finanziellen Ressourcen hinaus, sollte ein notwendiger Leitgedanke den Landesbetroffenenrat als lernende Struktur begreifen und den in ihr Beteiligten zukünftig notwendige Anpassungen und Veränderungen ermöglichen.
Eine transparente und konsequente Betroffenenbeteiligung ist keine großmütige Geste, sondern ein Qualitätsmerkmal für jeden Prozess der Weiterentwicklung im gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Zur weiteren Expertise wird auf die beiden bei der Anhörung zum vorliegenden Antrag anwesenden Vertreter*innen des Betroffenenrates am 07.09.2023 verwiesen.
Der Betroffenenrat bei der UBSKM
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