„Was muss geschehen, damit nichts geschieht?“ – Wo stehen wir bei der Prävention von sexueller Gewalt in Deutschland?
- Missbrauchsbeauftragter würdigt Engagement von Kirchen, Wohlfahrt, organisiertem Sport und weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Prävention. Neuausrichtung der Initiative „Kein Raum für Missbrauch“ unterstützt Einrichtungen bei der Einführung von Schutzkonzepten. Die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ soll im Herbst 2016 starten.
- Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI) stellt erstmals Teilergebnisse seines Monitorings zu Schutzkonzepten vor. Demnach weisen Schutzkonzepte der untersuchten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen in die richtige Richtung, bergen aber noch Entwicklungspotenzial – wie auch in den Diskussionen der Fokusgruppen deutlich wurde.
- Fachberatungsstellen verzeichnen eine stark steigende Nachfrage von Fachkräften nach Beratung bei der Einführung von Schutzkonzepten und im Verdachtsfall. Die neue „Expertise Fachberatungsstellen“ macht die mangelnde Versorgungslage und die Bedarfe deutlich: Länder und Kommunen investieren nach wie vor nicht in eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Fachberatung sowie ihren weiteren Ausbau.
„Kein Raum für Missbrauch“ vor. Eine umfangreiche Website www.kein-raum-fuer-missbrauch.de mit vielen Informationen sowie kostenfreien Materialien – wie Flyern und Plakaten mit Fragestellungen wie „Wie nah ist zu nah?“ oder „Wer hilft mir helfen?“ – sollen Einrichtungen und Organisationen dabei unterstützen, Schutzkonzepte einzuführen und zu wissen, was sie im Verdachtsfall tun können. Aktuell entwickelt Rörig mit Präventionsfachleuten und mit Unterstützung der Kultusministerkonferenz im Rahmen von „Kein Raum für Missbrauch“ die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“. Sie wird voraussichtlich im Herbst 2016 mit einem Online-Portal sowie modularen und auch länderspezifischen Informationen bundesweit starten. Rörig: „Schulen sind für mich das Aktionsfeld Nr. 1 der Prävention, denn nur hier erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen – auch die vielen Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt außerhalb von Einrichtungen, wie in der Familie oder mittels digitaler Medien, erleiden.“ Das DJI stellt auf der heutigen Fachtagung den Teilbericht 1 des bundesweiten Monitorings zur Einführung von Schutzkonzepten in Einrichtungen vor, mit dem das DJI für die Jahre 2015–2018 vom Unabhängigen Beauftragten beauftragt wurde. Die ersten qualitativen Befragungen zeigen, dass die Fachdiskussionen vor Ort angekommen sind. Als besonders förderlich wird eine echte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen angesehen. Eine Herausforderung bleibt hingegen die Umgestaltung der Schul- bzw. Einrichtungskultur, sodass Grenzverletzungen und Übergriffe erschwert werden. Prof. Dr. Thomas Rauschenbach bewertet die Veränderungen der letzten Jahre als ermutigende Entwicklung: „Unsere Gesellschaft hat verstanden, dass der Schutz von Kindern ernster genommen werden muss, als dies lange Zeit der Fall war.“ Als in den Jahren nach 2010 die Missbrauchsfälle in Institutionen bekannt wurden, habe man zunächst vor allem zurückgeschaut, auf das Leid ehemaliger Opfer: „Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die vielen Betroffenen war wichtig, denn ihnen wurde viel zu lange nicht zugehört oder nicht geglaubt.“ Gleichzeitig sei klargeworden, dass sexueller Kindesmissbrauch nicht nur eine leidvolle Erfahrung der Vergangenheit sei: „Kinder, die in der Gegenwart betroffen oder bedroht sind, müssen besser geschützt werden“, fordert der DJI-Direktor. Dass immer mehr zivilgesellschaftliche Institutionen inzwischen Schutzkonzepte in ihren Einrichtungen umsetzen, stuft Rauschenbach als positiv ein: „Je aufmerksamer Einrichtungen und ihre Beschäftigten sind, je mehr aus dem verunsicherten Wegschauen eine Kultur des Hinhörens wird, umso eher wird sexuelle Gewalt bei Kindern aufgedeckt oder von vorneherein vermieden.“ Dennoch seien Konzepte nur ein erster Schritt: „Schutzkonzepte müssen durch eine allgemeine Kultur der institutionellen Wachsamkeit, eine grenzachtende pädagogische Haltung und eine qualifizierte Sexual- und Medienpädagogik ergänzt werden.“ Auf der Fachtagung wird auch erstmals die Expertise „Fallbezogene Beratung und Beratung von Institutionen zu Schutzkonzepten bei sexuellem Missbrauch“ vorgestellt, mit der der Unabhängige Beauftragte Prof. Dr. Barbara Kavemann vom Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg in Berlin (SoFFI F.) beauftragt hatte. Die Befragung von rund 500 Fachberatungsstellen zeigt, wie wenig sich die finanzielle und personelle Unterversorgung der Fachberatungsstellen verbessert hat, obwohl die Nachfrage von Fachkräften nach Beratung, auch durch die Vorgaben des neuen Bundeskinderschutzgesetzes, stetig steigt. Auch fünf Jahre nach Ende des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ haben die spezialisierten Beratungsstellen keine ausreichende Unterstützung von den Ländern und Kommunen erhalten, entsprechende Praxisstrukturen aufzubauen und ausreichende Angebote zur Verfügung zu stellen. Prof. Dr. Barbara Kavemann: „Die Leistung der spezialisierten Beratungsstellen für die Prävention sowie die Unterstützung von Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Hier müssen Länder und Kommunen stärker in die Verantwortung gehen. Dies betrifft in erster Linie eine angemessene finanzielle Ausstattung, aber auch fachliche Unterstützung, beispielsweise durch Fortbildungen in der Traumapädagogik. Die Politik und die Berufsverbände sind gefordert, endlich eine bessere Versorgung Betroffener anzugehen. Eine gute Unterstützung ist ein Teil gesellschaftlicher Anerkennung von Unrecht.“ Im Anschluss an die gemeinsame Fachtagung des Beauftragten und des DJIs veranstaltet der Unabhängige Beauftragte seinen Jahresempfang. Den Abend werden Dr. Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, mit einem Grußwort und Prof. Dr. Thomas Rauschenbach mit einer Ansprache eröffnen. Erwartet werden auch der Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten sowie die im Januar 2016 berufene Unabhängige Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch, deren Mitglieder sich dort erstmals öffentlich vorstellen werden.
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