Berlin, 17.02.2025. Journalist*innen machen anderen Menschen Informationen zugänglich. Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche tragen sie eine besondere Verantwortung. Denn Medienberichte machen Themen, die gesellschaftlich tabuisiert sind, besprechbar. Sie prägen gerade bei wenig alltäglichen Themen,
• wie über ein Thema gesprochen wird,
• was ein großer Teil der Bevölkerung zum Thema lernt – und
• wer als kompetent wahrgenommen wird, sich zu diesem Thema zu äußern.
Wir hören immer wieder: „Betroffene haben so schreckliche Gewalt erlebt. Können wir überhaupt mit denen sprechen?“ - Ja, das können Medienschaffende – und das sollten sie auch.
Sexualisierte Gewalt ist vor allem ein Machtthema. Täter*innen können Taten begehen, weil sie wenigstens in der Tatsituation Macht über ein Kind oder eine*n Jugendliche*n haben und meist auch zeitweise darüber, das Opfer vom Sprechen über die Gewalt abzuhalten. Täter*innen nutzen ihre Macht oft für den Aufbau von Drohkulissen, die Kinder und Jugendliche kaum beiseiteschieben können. Selbst wenn ihnen das gelingt, ist eine weitere Machtfrage, wem zugehört und wer als wie (un)glaubwürdig bewertet wird. Gisèle Pelicot hat während des Prozesses gegen ihren heutigen Exmann und gegen rund 50 weitere Männer gesagt, zwi-schenzeitlich habe sie sich wie auf der Anklagebank gefühlt. Wenn Betroffene innerfamiliärer sexualisierter Gewalt abseits von Gerichtssälen gegenüber ihren Familien die Gewalt offenlegen, werden aber selten die Täter*innen im Anschluss in der Familie zur persona non grata, sondern meist die Opfer.
Dass andere Personen über uns Betroffene sprechen, hat eine anhaltende Tradition. Gerade der Einfluss des Sexualwissenschaftlers und Professors für Sozialpädagogik an der Universität Hannover Helmut Kentler verdeutlicht, dass sexualisierte Gewalt in Teilen der Pädagogik lange ideologisch verklärt und bagatellisiert wurde. Ärzt*innen und Therapeut*innen waren wiederum oft dafür zuständig, individuelle Auswirkungen der Gewalt auf Betroffene zu erklären. Die Strafverfolgungsbehörden wurden befragt, was Betroffenen passiert sei. Die Medienberichterstattung wiederum basiert dann oft ausschließlich auf diesen Erläuterungen. Dass auch hier Betroffene meist nicht für sich selbst sprechen dürfen, hat ebenfalls eine lange Tradition und vor allem Folgen.
Jedoch durch Bagatellisierung, Pathologisierung oder reißerische Opfergeschichten konnte sich ein bestimmtes Bild Betroffener in der Bevölkerung verbreiten. Es zeigt Betroffene als schutzbedürftige, zerstörte Gestalten, die als Kinder „Seelenmord“ ausgesetzt gewesen seien. Und kaputte, seelenlose Objekte wären natürlich nicht sprachfähig. Dem Klischee nach wären sie jedoch selbst dann keine zuverlässigen Gesprächspartner*innen, wenn sie sich äußern könnten. Ihre Wahrnehmung sei nämlich grundsätzlich verdreht, da sie ausnahmslos 24/7 psychisch schwer belastet sind.
Wie problematisch Klischees zementierende Medienbeiträge sind und wie man es besser machen kann, ist leicht recherchierbar und nachzulesen.
Die Veröffentlichung „Respekt und Würde“ von Wildwasser Berlin e. V. aus dem Jahr 2007 hat nicht an Aktualität verloren. Ebenso lassen sich auf der Website der UBSKM (2025) Informationen zu angemessener Berichterstattung finden. Im Zuge und Nachgang der großen Aufdeckungen 2010 haben sich diverse weitere Betroffene alleine oder als Teil von Interessensvertretungen dazu eingebracht, wie respektvolle Medienarbeit zu sexualisierter Gewalt aussehen kann.
Seit kurzem werden erneut vermehrt Medienbeträge zu sexualisierter Gewalt ohne die Einbindung Betroffener publiziert. Das betrifft vor allem Unterthemen wie rituelle organisierte Gewalt, in denen es darum geht, dass die sexualisierte Gewalt, auf die Bezug genommen wird, nicht stattgefunden habe. Es ist unethisch, dass Betroffene sexualisierter Gewalt in solche Beiträge nicht eingebunden werden, sondern allenfalls Personen, die eben nicht betroffen sind und vor allem ihre eigene Nichtbetroffenheit bestätigen dürfen.
Auch ein Beitrag, der sich mit sexualisierter Gewalt unter dem Gesichtspunkt der Nichtbetroffenheit befasst, hat Folgen für die Leben Betroffener.
In solchen Fällen reicht keine allgemeine Bekundung zu Beginn eines Beitrags, dass die Medienschaffenden natürlich den Betroffenen von tatsächlich stattgefundener Gewalt nicht schaden wollen. Indem sich Medienschaffende darüber hinwegsetzen, dass Betroffene mit ihrer Expertise zum im Beitrag verhandelten Thema existieren, erzeugen sie einen bestimmten Eindruck: Nämlich den, als seien diese Betroffenen nicht in der Lage, für sich selbst zu sprechen. Ihnen wird damit die Kompetenz abgesprochen, etwas zum Diskurs beizutragen. Sobald sie nicht erwähnt werden, wird ihre Existenz verschwiegen. Manchmal werden Betroffene aus zweiter Hand zitiert. Ihre Beiträge werden selektiv aus dem Kontext gerissen oder aus der Vergangenheit eingefügt. Damit wird Betroffenen ebenso die Möglichkeit zur bewussten Positionierung genommen und sie werden ohne direkte Korrekturmöglichkeit vorgeführt.
Ein solches Vorgehen widerspricht dem Pressekodex. In ihm wird vielfach auf den Umgang mit Gewalttaten, mit deren Opfern und dem besonderen Schutzbedarf bestimmter Personengruppen eingegangen. Unter anderem heißt es: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird.“ (Richtlinie 11.1) und „Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.“ (Richtlinie 11.3).
Wer Betroffene in Beiträgen zu sexualisierter Gewalt nicht zu Wort kommen lässt oder einzelne Betroffene gezielt vorführt, macht sie zu Objekten.
Dieses Vorgehen wiederholt, was wir schon kennen: Situativ in einem Machtgefälle zum Opfer zu werden auf eine Art und Weise, die für uns langfristige Folgen haben wird – und keine positiven. Medienberichterstattende haben Reichweite. Sie sind häufig juristisch gut geschützt und auch auf anderen Achsen der Ungleichheit wie z. B. Geschlechtszugehörigkeit, beruflichem Status oder Einkommen privilegiert gegenüber Betroffenen. Weiße, Nichtbetroffene, die mithilfe nichtbetroffener Fachleute der Welt erklären, wer Betroffene (nicht) seien und welchen Betroffenen (kein) Glauben zu schenken sei, betreiben ein Extrem tendenziöser Arbeit. Der Ausschluss und das gezielte Umgehen einer respektvollen Beteiligung Betroffener in Medienbeiträgen ist immer tendenziös: Wir haben Wissen und Positionen zu sexualisierter Gewalt einschließlich der Diskurse um Nichtbetroffenheit. Ganz gleich, wie ausgeglichen, einseitig oder stigmatisierend eine Berichterstattung wird, werden wir mit den Konsequenzen dessen leben müssen, was Medienbeiträge in die Gesellschaft hinein kommunizieren.
Medienschaffende tragen Verantwortung.
Sie können diese Verantwortung nutzen, um ausgewogen, sachlich und ohne Sensationslüsternheit über sexualisierte Gewalt, Betroffene und den Umgang der Gesellschaft mit dem Thema zu berichten. Wenn sich die Adressat*innen eine eigene Meinung bilden sollten, brauchen sie dafür ausgewogene, differenzierte Informationen. Dazu gehört auch, dass Betroffene selbstverständlich in der Lage sind, sich sachlich zu sexualisierter Gewalt und ihren individuellen Erfahrungen zu äußern. Sie sprechen seit Jahrzehnten. Wenn jedoch ein Beitrag zugunsten eines vermeintlich höheren Ziels die Existenz Betroffener verschweigt, sie der Lächerlichkeit preisgibt oder sie umdeutet, zeigen seine Urheber*innen eine fragwürdige Haltung und werden dieser Verantwortung nicht gerecht.
Wir sind keine Objekte, sondern Betroffene, die Respekt verdienen.
Nothing about us without us.
Der Betroffenenrat bei der UBSKM
Quellen:
Wildwasser e.V. Berlin (Hrsg) 2007: Respekt und Würde. Sexuelle Gewalt als Thema in den Medien, Köln: mebes & noack.
Trägerverein des dt. Presserats e.V. (Hrgs) 2024: Pressekodex. Ethische Standard für den Journalismus, Fassung vom 18. September 2024, abrufbar unter: www.presserat.de/pressekodex.html_Leitsaetze_RL12.1.pdf, letzter Abruf: 01.02.2024
Betroffenensensible Berichterstattung, Hinweise auf der Seite der UBSKM: beauftragte-missbrauch.de/presse/betroffenensensible-berichterstattung/uebersicht-betroffenensensible-berichterstattung, letzter Abruf: 10.02.24
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Dieser Text beinhaltet Forderungen und Ansichten der Mitglieder des Betroffenenrates und stellt nicht notwendigerweise die Position der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) dar.
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