
Missbrauch in einem katholischen Kinderheim – warum hat niemand Heinz zugehört, Christiane Florin?
▷ hier reinhören
Aktuelle Folge jetzt anhören
Das Interview der Folge 111 als Transkript lesen
[00:00:01.920] - Christiane Florin
Wenn ich da beschreibe, wie Heinz um Anerkennungsleistungen kämpft, um Geld kämpft und welche Summe er bekommen hat, dann sehe ich schon die guten Christenmenschen vor mir, die sagen: „Mensch, ist doch viel Geld. Er soll doch jetzt mal Ruhe geben. Er hat doch jetzt das Geld bekommen. Was will der denn noch?" Und das ist ja auch ein Teil des Täter- und Institutionenschutzes. Und wer in der Institution eine Führungsaufgabe hat, der weiß das. Der weiß, wie die Machtverhältnisse sind und dass die eigentlich nach wie vor immer noch gegen die Betroffenen sprechen.
[00:00:30.780] - Nadia Kailouli
Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast geht es um persönliche Geschichten, um akute Missstände und um die Frage, was man tun kann, damit sich was ändert. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst.
[00:00:54.460] - Nadia Kailouli
In einem katholischen Kinderheim erlebt Heinz in den 60er Jahren Schreckliches. Sieben Jahre wird er schwer misshandelt. Der Präses und eine Ordensschwester schlagen und missbrauchen ihn. Erst mit Mitte 60, als die Albträume immer schlimmer werden, beginnt Heinz, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Er engagiert sich für die Aufarbeitung der Geschehnisse in dem katholischen Heim, verbindet sich mit anderen Betroffenen. Gehört fügt er sich allerdings nicht, weder von der Kirche noch von der Caritas, dem ehemaligen Betreiber des Kinderheims. Heinz wendet sich an die Journalistin Christiane Florin, die seit vielen Jahren zum Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche recherchiert und auch schon bei uns bei einbiszwei zu Gast war. Christiane Florin hört zu und schreibt ein Buch. "Keinzelfall" heißt es. Es erzählt die Geschichte von Heinz und geht der Frage nach, warum das Leid ehemaliger Heimkinder niemanden in der Kirche und bei der Caritas zu interessieren scheint. Christiane sagt: „Ehemalige Heimkinder haben keine Lobby. Sie werden getäuscht, zermürbt und ermüdet. Wenn man suchen und zuhören würde, würde man viele Heinze finden", und ich freue dass sie jetzt hier ist. Dann sage ich herzlich willkommen bei einbiszwei Christiane Florin.
[00:02:04.730] - Christiane Florin
Hallo.
[00:02:05.300] - Nadia Kailouli
Schön, dass Sie wieder da sind, kann man sagen. Sie waren schon mal Gast bei uns bei einbiszwei. Es hat sich viel getan. Sie sind mittlerweile seit 2024 die Leiterin im Bereich Kultur bei Deutschlandfunk und Sie haben ein Buch geschrieben und darüber wollen wir heute reden: „Keinzelfall" heißt das Buch. Und es geht um Heinz. Wer ist Heinz?
[00:02:24.900] - Christiane Florin
Heinz ist ein Mann, 1958 geboren und er ist 1965 nach dem Suizid seines Vaters, in ein Heim gekommen. Er stammt aus einer sehr kinderreichen Familie, hat neun Geschwister und anderthalb Jahre später, anderthalb Jahre nach dem Suizid seines Vaters, ist die Mutter an Krebs verstorben, aber da lebte er schon mit einem Bruder im Heim und er ist dort schwer misshandelt worden, schwer missbraucht worden. Er hat das besucht, was man damals die Sonderschule nannte und war dadurch sein Leben lang bildungsbenachteiligt. Als er dann aus dem Heim rauskam, mit 16, hat er zuerst in einer obdachlosen Unterkunft gelebt, wusste nicht so richtig, wohin, hat dann das Schild gesehen von einem Jahrmarkt: "Junger Mann zum Mitreisen gesucht", oder die haben ihn angeworben. Dann ist er da durch halb Europa gereist, auf Jahrmärkten gewesen und irgendwann hat er es dann geschafft, sich als ungelernter Hilfsarbeiter hochzuarbeiten in einer Röhrenfirma im Ruhrgebiet. Er hat eine Familie gegründet, hat ein Haus gebaut, hat eben Kinder, hat Enkelkinder. Vordergründig war alles okay, aber er konnte eben diese Vergangenheit im Heim, diese Misshandlung, den Missbrauch, die Willkür, der er ausgeliefert war, nicht immer bekämpfen. Also er hat das regelrecht bekämpft, mit Gewalt auch, mit Prügeleien, mit Alkohol. Aber das ging dann in dem Moment nicht mehr, als er körperlich krank wurde, also als seine körperliche Kraft auch schwand. Und ich habe ihn kennengelernt oder er hat mich kennengelernt durch ein Interview im Radio, das er von mir gehört hat, eigentlich zu einem ganz anderen Thema. Da ging es um Macht in der römisch-katholischen Kirche. Das hat er gehört und das hat ihn irgendwie angesprochen, weil mein Interviewpartner gesagt hat, er will sich diesem System, also sinngemäß, er will sich diesem System nicht unterwerfen. Und da hat mir Heinz, der heißt ja in Wirklichkeit anders, geschrieben über Facebook, nur ganz kurz. Und wir sind dann so ein bisschen über Facebook in Kontakt gekommen und eigentlich war seine zweite Nachricht schon im Kern diese Heimgeschichte. Eigentlich schon auf 1.500 Zeichen seine Lebensgeschichte. Und so ist der Kontakt entstanden.
[00:04:48.880] - Nadia Kailouli
Nun sind Sie ja Journalistin. Sie berichten seit Jahren über den Umgang der katholischen Kirche in den Missbrauchsfällen und bekommen natürlich des Öfteren auch Zuschauer-Post, sei es per Post tatsächlich oder über soziale Medien. Was hat Sie an der Geschichte von Heinz, an dieser Nachricht, so bewegt, dass Sie heute hier sitzen und ein Buch mitgebracht haben?
[00:05:09.990] - Christiane Florin
Mich hat bewegt, dass ich den Eindruck hatte, dass diese Geschichte der Heimkinder, also auch diese Diskriminierung, die schon da drin steckt, oder das Stigma, das schon darin steckt, dass ein Kind zu der Zeit im Heim aufgewachsen ist, dass das eigentlich bei der Frage der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Das ist eine oft übersehene Gruppe. Also diese Bildungsbenachteiligung, die wirkt sich lange aus. Die wirkt sich auch, zum Beispiel jetzt bei unserem Beruf, aus. Wann sitzt schon mal jemand in den Medien, der sich eben nicht so gewählt, artikulieren kann? Wann sitzt schon mal jemand auf Podien wie Heinz, der eben gar keinen richtigen Schulabschluss hat, der wenig liest, lange Zeit auch nichts geschrieben hat. Ich hatte den Eindruck, das ist eine vernachlässigte Gruppe und ich wusste aber, weil ich auch schon mal vorher was zum Thema Heimkinder geschrieben hatte, als ich noch bei der Zeitung war, ich wusste aber, es ist eine sehr große Gruppe. Und dann haben wir uns getroffen und als ich die Geschichte von ihm hörte und der dann auch so etwas nachgegangen bin, da dachte ich so, das gibt es ja eigentlich nicht, weil es gibt es auf so vielen verschiedenen Ebenen nicht, wie der Mann kämpfen muss, um beachtet zu werden, um von dem heutigen und auch eigentlich damaligen Heimträger wahrgenommen zu werden, wie der Briefe bekommt, wo ich jetzt schon mit einem akademischen Abschluss Schwierigkeiten habe, die Briefe zu verstehen, wo ich dann denke: Okay, warum schickt man jemandem von dessen Geschichte man etwas kennt, solche Briefe, wo man weiß, der wird die erst mal nicht verstehen? Möchte man die Leute zermürben? Und dann bin ich dem nachgegangen. Und ich muss auch sagen, die etwas abwehrende Reaktion der Caritas, also des Heimträgers, die hat mich dann noch zusätzlich motiviert, da weiterzubohren.
[00:07:06.950] - Nadia Kailouli
Warum haben Sie sich dann entschieden zu sagen oder was war so der Schlüsselmoment, wo Sie sagten, das ist hier mehr als einfach ein Bericht, als ein Artikel, sondern das ist eine ganze Geschichte, die eben nicht nur ein Einzelfall ist, sondern, wie Sie dann ihr Buch auch genannt haben "Keinzelfall". Also es gibt mehrere Fälle, die wie Heinz Fall ist. Was war so der Schlüsselmoment für Sie, wo Sie gemerkt haben, ich möchte da tiefer eintauchen in diese Geschichte?
[00:07:31.720] - Christiane Florin
Also ich wollte zunächst tatsächlich ein Feature fürs Radio machen, die Geschichte erzählen und dann gibt es diese klassischen Überleitungssätze: „Heinz ist kein Einzelfall." Und dann dachte ich, das ist es eigentlich nicht. Und mir kam es dann schon darauf an, diesen Aspekt des Klassismus. Das ist ja heute auch ein geläufiges Wort, ist aber noch nicht lange so. Also zu sagen: Wie wirkt sich eine Diskriminierung durch die Klasse, der man angehört, wie wirkt die sich auch bei diesem Thema, beim Thema Missbrauch aus? Und wie kann es eben sein, dass es so viele Menschen betrifft? Es gab ja hunderttausende Heimkinder von 49 bis Mitte der 70er Jahre, die in ganz ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind. Wie kann das sein, dass es so still ist um das Thema? Ich will aber natürlich nicht behaupten, dass ich die Erste bin, die dazu recherchiert hat. Es gab ja schon ein Buch von Peter Wensierski, es gab schon einen runden Tisch Heimerziehung, aber unter diesem runden Tisch ist halt sehr viel gefallen. Und da habe ich gedacht, das alles, das kann ich nicht in einem 20 Minuten oder auch nicht in einem 40 Minuten Radiofeature verarbeiten, sondern das ist eher ein Buch. Und dann kamen noch andere Aspekte dazu, dass eben Heinz, das ist ein Pseudonym, dass er nicht mit eigener Stimme sprechen wollte und eben auch nicht mit seinem richtigen Namen auftauchen wollte. Und ja, dann habe ich mir halt eine Form überlegt, wie ich das darstellen kann, wie ich sein Leben erzählen kann, ohne so, wie soll ich sagen, belehrend oder mich irgendwie über ihn zu stellen und wie er aber auch ausreichend selber zu Wort kommen kann. Und dann haben wir eben so eine Konstruktion gefunden, eben diese Mischung aus Biografie, die ich erzähle, dann die Studienlage, den allgemeinen Rahmen, den ich auch aufgeschrieben habe, und dann eben, dass der Kern des Buches das ist, was er selber aufgeschrieben hat. Denn das fand ich auch noch mal wichtig, diese biografische Arbeit, die er geleistet hat, als jemand, der überhaupt nicht gewohnt war, Bücher zu lesen oder Tagebuch zu schreiben, dass er sich dann hingesetzt hat und 15 Seiten selber geschrieben hat. Und da dachte ich, da ist eigentlich ein Buch die richtige Form.
[00:09:50.150] - Nadia Kailouli
In Ihrem Buch kommt ja dann auch Heinz sozusagen selbst zu Wort im achten Kapitel. Sind das dann sozusagen Auszüge aus dem, was er niedergeschrieben hat, oder haben Sie ihm da einfach den Raum gegeben, zu sagen: „Schreib einfach noch mal selber, wer du bist?"
[00:10:04.420] - Christiane Florin
Das ist das größtenteils, was er schon aufgeschrieben hatte, bevor wir uns kennengelernt haben. Also er hatte, das Buch beginnt ja und so beginnt auch seine im engeren Sinne Aufarbeitungsgeschichte. Das Buch beginnt ja mit einem Albtraum, den er hatte im Frühjahr 2021, wo er um sich geschlagen hat und seine Frau den Sohn gerufen hat, hilflos, und sie dann gesagt hat: „Was hast du denn?" Und er sagt: „Ich kann das jetzt nicht erzählen." Und dann hat sie gesagt: „Schreib das auf." Und dann hat er sich an diesem Frühjahrsmorgen hingesetzt und hat etwas aufgeschrieben. Und das war der Kern dessen, was jetzt in diesem Buch steht. Und er hat mir dann in unseren Gesprächen immer wieder gesagt – und wir sind ja auch jetzt natürlich in Kontakt – er schreibt jetzt weiter und dass ihm das Schreiben auch hilft. „Das hilft meiner Seele", sagt er wörtlich, obwohl das eigentlich nicht so sein Wortschatz ist, dieses spirituelle oder so. Aber dieses sich hinsetzen, das aufschreiben, das hat ihm geholfen und das ist natürlich auch für mich ein wichtiger Anknüpfungspunkt gewesen, von dem aus ich überhaupt weiter recherchieren konnte.
[00:11:18.590] - Nadia Kailouli
Wie geht man dann mit dieser Recherche um? Als Heinz Sie angeschrieben hat, hat er ja direkt auch gesagt: „Ich kann das nicht beweisen, was mir damals passiert ist." Und die wirklichen Erinnerungen – Sie sprechen gerade von diesem Traum – sind irgendwie mit Anfang 60 ja erst wieder so richtig präsent geworden. Können Sie uns Einblicke geben, wie man dann recherchiert und diesen Fall dann eben aufschlüsselt und damit klarmacht, das ist ein systematisches Problem gewesen eben für diese Heimkinder in diesen Strukturen?
[00:11:48.950] - Christiane Florin
Ja, ich habe zunächst mal einfach die äußeren Daten überprüft. Gab es das Heim? Was ist über das Heim bekannt? Da habe ich mich an die Caritas gewandt. Die bestimmte Orts-Caritas ist eben zuständig für dieses Heim. Und dann habe ich. Da ganz allgemeine Fragen gestellt. Also wann wurde das gegründet? Wie war das pädagogische Konzept? Wer hat die geistliche Leitung gehabt? Denn der geistliche Leiter ist der den Heinz des schweren Missbrauchs beschuldigt und eine Erzieherin auch. Und da kamen so sehr, sehr dürre Antworten. Da bekam ich eine Chronik, die ich aber schon hatte und da habe ich gedacht, okay, da muss ich irgendwo anders bohren noch. Und dann habe ich noch Material aus Archiven gehabt, unter anderem auch aus dem Stadtarchiv. Ich habe dann auch Zeitungsartikel gefunden und bin dann auch mithilfe des zuständigen Bistums tatsächlich oder mithilfe einer Person aus dem Bistum auf den Täter, auf den Beschuldigten gestoßen. Und dann hat sich so der Kreis da etwas geschlossen. Heinz hatte aber auch zwischenzeitlich selber Betroffene aus dieser Zeit kennengelernt, hatte eine Gruppe gegründet, hat auch denen gesagt: „Schreibt doch mal auf, was ihr erlebt habt", und davon haben dann einige entweder seine Erinnerungen bestätigt oder auch gesagt, dass sie selber in dem Heim massive Gewalt erlebt haben. Zu solchen Geschichten gehört aber immer auch, dass man Berichte von Ehemaligen findet, zum Beispiel Foren, wo Menschen schreiben: „Ich bin dem Heim, also demselben Heim, sehr dankbar. Ich habe da eine gute Zeit gehabt. Ich habe da sogar einen Schulabschluss machen können." Ich musste auch erst mal durch die Erfahrung lernen, dass das kein Widerspruch ist, sondern dass es das eine gibt, die eine Erfahrung, die positive Erfahrung hebt aber in keiner Weise das Schreckliche auf. Und ich habe mich dann natürlich noch mit Heimstudien beschäftigt, auch Berichte von anderen Kindern aus Heimen gelesen, natürlich auch noch mal das Buch von Peter Wensierski gelesen. Und da erkennt man schon bestimmte Muster und ich glaube auch so ein Muster in der, ich sage mal, Hierarchisierung der Opfer erkannt zu haben, dass nämlich Heinz als Vollwaise vollkommen ausgeliefert war. Man muss ja wissen, damals waren die meisten Kinder, die in den Heimen waren, keine Waisen. Das wurde zwar oft synonym gesetzt: "Ein Heim ist ein Waisenhaus", das stimmte aber nicht, sondern es reichte ja schon, ein Kind einer unverheirateten Mutter zu sein. Dann wurde Verwahrlosung attestiert und dann war der Weg ins Heim eigentlich ganz schnell. Aber Heinz hatte keine Eltern mehr. Und das war, glaube ich, eine wichtige Erklärung dafür, dass er dieser Willkür des Priesters und der Erzieherin ausgesetzt war. Zu dem Priester selber habe ich keine Beschuldigungen gefunden an anderen Orten, an denen er tätig war. Ich fand nur auffallend, dass er nach der Zeit dann im Heim sofort in den Ruhestand versetzt wurde, obwohl er eigentlich noch nicht in dem Alter war. Aber wie Sie schon sagen, hieb- und stichfeste Beweise habe ich nicht. Es hat sich aber doch für mich eine ganz hohe Plausibilität ergeben. Es gibt ja auch Studien, neuere, die sagen, ein Drittel der Heimkinder hat sexualisierte Gewalt erlebt, mehr als zwei Drittel haben heftige körperliche Gewalt erlebt. Ich würde da nur noch mal die Abstufung machen, die darin besteht, wenn ein Kind überhaupt keine Eltern mehr hat. Wenn Leute, die das System, also Erzieherinnen oder eben auch Geistliche, die das System ausnutzen wollen, wissen, der hat wirklich niemanden mehr. Und das war so insgesamt für mich dann auch noch mal der Grund, dieses Buch zu schreiben, so dieses unmittelbare Empfinden. Ich höre diese Geschichte und denke immer wieder: Warum läuft ein Mensch mit solchen Erlebnissen des Ausgeliefertseins, warum läuft der auch heute noch vor Wände? Versteht das keiner, wie es dem jetzt gehen muss, dass sich dieses Ausgeliefertsein fortsetzt?
[00:16:02.080] - Nadia Kailouli
Ich würde dazu gerne etwas vorlesen, was in Ihrem Buch auch so zu lesen ist, was Heinz geschrieben hat: „Im Heim wurde mir schnell klargemacht, dass ich ein Mensch zweiter Klasse war. Am zweiten Tag im Heim wurden mir meine Haare abrasiert, da ich angeblich voller Läuse war, was natürlich nicht stimmte. So wurde mir von Anfang an klargemacht, wer hier das Sagen hatte und was ich als Kind wert war." Wenn Sie das jetzt so sagen, wie kann das sein, dass ein Mensch mit diesen Erfahrungen, mit den Missbrauchserfahrungen als Vollwaise damit sein Leben lang alleine durch die Welt läuft und kein Gehör bekommt. Und wenn man das liest, was Heinz, so aufgeschrieben hat, was er als Kind erlebt hat, dann gibt man ihm ja sozusagen stetig das Gefühl, dass er ja immer noch nichts wert ist, weil man seine Geschichte nicht hören wollte, bis Sie sie jetzt aufgeschrieben haben. Kann man sagen, dass er über Jahrzehnte genau dieses Gefühl hatte, was er als Kind damals hatte?
[00:16:51.830] - Christiane Florin
Ja, das kann man so sagen, wobei er auch viele Jahrzehnte nicht gesprochen hat darüber, sondern er hat seinen Weg gefunden, damit umzugehen, sich hochzuarbeiten, sich ein gewisses Standing zu verschaffen, also etwas zu verschaffen, was ihm wichtig war und was ihm aber niemand zugetraut hatte. Beruf, Haus, Familie spielt für ihn eine ganz große Rolle, dass seine Kinder geschützt sind vor sowas. Das hat er mir immer wieder erzählt. Aber das ist schon so. Und selbst dann, als er gesprochen hat, als er diese Gruppe von Betroffenen organisiert hat und damit auch zur Caritas gegangen ist, hat er dieses Gefühl „Ich bin ein Mensch zweiter Klasse" nicht verloren. Denn als ich die Protokolle dieser Begegnungen las, da dachte ich auch, wenn zum Beispiel die Heimkinder dort zusammensitzen bei Kaffee und Streuselkuchen und belegten Brötchen und werden immer wieder gefragt: „Warum wollen Sie Aufarbeitung?", dann ist das ja schon eine demütigende Frage, weil die Heimkinder haben doch den Anspruch, dass die schuldig gewordene Institution ihnen sagt, was da war und nicht, dass sie sozusagen anklopfen müssen, dass sie Bittsteller sind. Aber sie haben völlig zu Recht dieses Gefühl, eben Bittsteller zu sein, nichts wert zu sein und ja, wirklich kämpfen oder, ich nenne Heinz ja den Aufarbeiter, schuften zu müssen für etwas, was eigentlich ein selbstverständlicher Impuls sein müsste, zumal bei einer Institution, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, für die Schwachen und für die am Rand einzutreten. Also davon war nichts zu spüren.
[00:18:38.890] - Nadia Kailouli
Wie hat die Caritas reagiert, als Sie dann gekommen sind und Fragen gestellt haben und die Aufarbeitung jetzt nicht von dem, ich sage jetzt mal, Heinz alleine gekommen ist, den man vielleicht nicht ernst genug genommen hat, sondern von einer etablierten Journalistin, die auch bekannt dafür ist, Aufarbeitungsberichte zu schreiben rund um die katholische Kirche und jetzt mit diesem Fall kommt und die Caritas da um Stellungnahme bittet. Und was kam da? Wie haben die reagiert?
[00:19:05.260] - Christiane Florin
Ja, das war schon interessant. Wie gesagt, ich habe ja am Anfang sehr einfache Fragen gestellt. Ja, erst mal nur nach Daten gefragt, nach Personen gefragt, nach pädagogischen Konzepten gefragt. Aber diese Fragen, die wurden mir sehr einsilbig beantwortet oder eben gar nicht beantwortet. Es kam die Standardantwort, die kommt in Heimen sehr oft: „Wir haben keine Akten mehr." Die Akten wurden entweder ordnungsgemäß vernichtet nach einer bestimmten Zeit oder das konnte ich mir dann aussuchen, die sind verbrannt. Dann habe ich geguckt: Okay, es hat einen Brand in dem Heim gegeben, aber praktisch, dass immer die Akten, die ich suche, verbrannt sind. Also es gibt natürlich mehrere Erklärungen. Das eine ist: „Oh Gott, da ist da so eine Journalistin, die hat da schon so viel gemacht und jetzt bohrt die bei uns um Himmels willen, alle Schotten dicht." So, das ist eine Möglichkeit. Eine andere ist: „Aussitzen, einfach nicht wichtig. Was will so ein kleines Heimkind? Das kann uns sowieso nicht gefährden." Die Frage, die sich bei meinen Recherchen, die ich mir immer stelle, ist, wenn ich mir solche Reaktionen angucke: Ist es Unfähigkeit oder ist es Absicht? Ich würde nur sagen, 2010 war das Jahr, in dem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Öffentlichkeit berichtet wurde, verhandelt wurde. Es gab einen runden Tisch Heimerziehung, es gab einen runden Tisch sexualisierte Gewalt in den Kirchen. Und ich habe diese Recherche gemacht 13 Jahre später, 14 Jahre später. Also da kann man ja nicht so tun, als wäre man noch ganz bei null. Aber die Reaktion, die war so: "Man ist ganz bei null, die wühlt da irgendwo rum, im Zweifelsfall in Dingen, die sie nichts angehen." Ja, und so konnte ich mit den Antworten der Caritas kaum was anfangen. Also selbst die Zeitungsartikel über dieses Heim, die habe ich gefunden, die hat mir die Caritas nicht gegeben. Ich meine, das ist nicht schlimm, ist ja irgendwie mein Job, aber ein bisschen merkwürdig ist es ja schon, dass man nicht mal die drei Schritte rübergeht ins Stadtarchiv und sagt: „Ach, da gibt es schon ein Dossier zu diesem Heim." Also ich habe die Caritas nicht als kooperativ empfunden und als das Buch dann erschienen war, kam erst mal nichts und da habe ich vor der Buchpräsentation in Köln, habe ich dem Kölner Stadtanzeiger ein kleines Interview gegeben und habe dann zum Schluss gesagt: „Ich kann es eigentlich nicht mehr ertragen, wenn ich aus dem Mund der Caritas das Wort 'Lebensschutz' höre." Da haben sich dann Leute von der Caritas gemeldet: Ich soll nicht so wild um mich schlagen, verbal, so: "Das wäre doch sehr ungerecht, all den Guten gegenüber." Das ist natürlich eine Reaktion, die ich erwartet habe. Deshalb habe ich es auch gesagt. Aber von der zuständigen Caritas selber kam auch da noch nichts, sondern dann Mitte März, also ungefähr zwei Monate nach Erscheinen des Buches, bekam ich einen Brief per Mail zugeschickt der beiden Vorständinnen. Der Brief bestand aus vier Zeilen. Sie bedanken sich für das wertvolle Buch und sie würden jetzt ihre Art der Aufarbeitung kritisch reflektieren. Also in Worten vier Zeilen. Und da gibt es jetzt natürlich auch wieder verschiedene Arten, darauf zu reagieren. Es gibt die katholische Art, darauf zu reagieren. Also die ist so verbreitet in diesem katholischen Dankbarkeitsmilieu, dass man sagt: „Ja Mensch, seien Sie doch dankbar, dass sie überhaupt reagiert haben. Ist doch toll." Das ist aber nicht meine Art, darauf zu reagieren. Ich fand’s schon irritierend, weil ich denke, das ist ein Buch von irgendwie 170, 180 Seiten und da vier Zeilen. Finde ich schon ein bisschen wenig. Und dann habe ich jetzt noch mal nachgefragt, was sie denn mit kritischer Reflexion meinen. Und dann habe ich eine Antwort bekommen, die etwas ausführlicher ist, aber jetzt auch nicht so ganz präzise. Also ich habe diese Antwort entnommen: Sie haben Ihre Art der Aufarbeitung mit einer Supervision überprüfen lassen. Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben bei einem Historiker einer katholischen Hochschule, was ich jetzt auch nicht so super unabhängig finde. Und Sie planen, ob es nicht noch eine weitere Studie geben könnte und eventuell, wenn die Betroffenen es wollen, könnte man auch noch mal über das Thema Gedenktafel sprechen. Also es ist ein bisschen was geschehen, aber es ist wenig Fassbares. Und hätte ich jetzt nicht noch mal nachgefragt, hätte ich auch keine Antwort, keine weitere Reaktion mehr bekommen, glaube ich.
[00:23:14.530] - Nadia Kailouli
Also kann man durchaus sagen, dass die Erfahrungen, die Sie jetzt gesammelt haben, aufgrund dieser Recherche, dass die Caritas eher nicht offen dafür war, Fälle wie die von Heinz aufzuarbeiten, sondern eher verschlossen demgegenüber war, weil Heinz hat ja zum Beispiel eine Anerkennungsleistung beantragt und diese auch bewilligt bekommen. Ich weiß jetzt gar nicht, ob das heißt bewilligt, dass man die dann auch schon bekommen hat oder dass noch aufsteht. Aber steckt da sozusagen eine Angst dahinter, dass wenn die in die Aufarbeitungsarbeit gehen würden, dass Sie mehr Heinze auf den Tisch bekommen würden und damit mehr Anerkennungsleistungen zahlen müssten?
[00:23:52.600] - Christiane Florin
Also mit der Anerkennungsleistung, also das Finanzielle, das ist sicherlich das eine. Das läuft ja über die UKA, also die Unabhängige Kommission für die Anerkennungsleistung des Leids. Das ist also im Prinzip ja eine Einrichtung, die die Deutsche Bischofskonferenz eingerichtet hat und an der sich, wie ich im Zuge meiner Recherchen erfahren habe, offenbar jetzt auch die Caritas beteiligt. Ja, es gibt sicherlich Angst vor diesem finanziellen Aspekt. Es gibt aber meiner Einschätzung nach auch vor allem Angst vor diesem Imageverlust und auch sicherlich eine gewisse Angst: „Wie gehe ich damit gegenüber den heute für die Caritas-Arbeitenden um?" Also da gibt es eine ganz große Abwehr. Die Caritas ist ja ein Wohlfahrtsunternehmen. Die treten ja an, indem sie sagen, wir denken… Also Caritas heißt ja nun erst mal Nächstenliebe. Davon hat Heinz nichts gemerkt. Und Caritas bedeutet ja: "Wir denken an die, die am Rand der Gesellschaft sind, die in einer schwierigen Situation sind. Wir sorgen dafür, dass niemand übersehen wird." Das ist ja der eigene Anspruch. Das ist für viele, ist ja die Caritas die bessere katholische Kirche. Das Image der katholischen Kirche ist schlecht, aber die Caritas hat eigentlich ein sehr gutes Image, weil doch viele Leute, auch die, die der Kirche gar nicht nahestehen, sagen, die tun sehr viel Sinnvolles. Das stelle ich auch überhaupt nicht in Abrede, dass die Caritas viel Sinnvolles tut. Aber wenn man so eine Schuldgeschichte systematisch aufarbeiten würde, was sie eben nicht gemacht hat, die Caritas, und die Diakonie evangelischerseits ja eigentlich auch nicht, dann wird ja offenkundig, dass die Würde der Kinder schwerst verletzt worden ist, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben – ich spreche jetzt hier über die Bundesrepublik ja vor allem – in einer kirchlichen Einrichtung. Und dass viele davon gewusst haben und aus eigenem Antrieb nichts unternommen haben, um diesen Kindern dann, die dann Erwachsene waren, im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sondern die Erfahrung, die Heinz macht, ist immer: "Es sind 100 Dinge wichtiger als ich. Früher war ich sowieso nicht wichtig, weil ich keine Eltern hatte und denen ausgeliefert war. Und heute bin ich eben nicht wichtig, weil die Caritas an ihr Image denken muss." Die Situation in Deutschland, sozial ist sowieso schwierig, politisch ist es schwierig. Es ist alles wieder wichtiger als das ehemalige Heimkind. Und das ist die Erfahrung, die ich im Zuge der Recherchen eben auch gemacht habe. Es gab mal eine kleinere … Oder es gab mal, die wurde als große Studie präsentiert, war aber in Wirklichkeit nur eine kleine Studie, die ist 2011 erschienen und damals wurde auch weitgehende Aufarbeitung versprochen. Und auf meine Frage dann an den Bundesverband der Caritas: "Ist es zutreffend, dass das die nach wie vor einzige Studie ist zu den Heimen, zu konfessionellen Heimen?" Hat damals die Uni Bochum gemacht. Da war die Antwort: „Ja, das ist zutreffend." Das war alles. Das war dieser eine Satz: „Ja, das ist zutreffend." Es wird auch keine weitere Erforschung geben. Und meine Erfahrung, wo ich jetzt doch so viele Jahre auch zum Thema sexualisierte Gewalt recherchiert habe und mit vielen Betroffenen ja besprochen habe, ist eben, dass für Betroffene auch eine Studie ja nichts Abstraktes ist, sondern dass das was ganz Wichtiges ist, weil damit sozusagen von unabhängiger Seite anerkannt wird: „Ja, das habe ich erlebt und mich trifft keinerlei Schuld." Das ist für Betroffene ja oft sehr entlastend, das System zu kennen, weil dann offenbar wird: „Es hat mich getroffen, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ich habe daran keinerlei Schuld." Weil die meisten Betroffenen sich ja und Heinz ja auch, mit Schuldvorwürfen quälen. Die Täter quälen sich nicht so nach meinen Erkenntnissen, aber die Betroffenen quälen sich oft mit Schuld. Und all das, was ich sage, ist ja eigentlich, wenn man sich mit dem Thema auskennt, nichts Neues. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass das bei der Caritas angekommen ist.
[00:28:06.090] - Nadia Kailouli
Hat Sie das dann überrascht, weil Sie sagen, eigentlich ist es nichts Neues und eigentlich, Sie berichten jetzt sozusagen 13, 14 Jahre später nach dem großen Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche und die Caritas müsste ja eigentlich wissen, wie man im besten Fall dann direkt damit umgeht, wenn so was auf den Tisch kommt. Hat Sie das überrascht oder haben Sie damit auch ein bisschen gerechnet, dass da eher so eine Resilienz ist?
[00:28:29.470] - Christiane Florin
Letzteres. Also mich überrascht nicht mehr so viel. Das ist ja so eine ganz grundsätzliche Erfahrung, dass Institutionen am Selbsterhalt interessiert sind und Institutionen auch oder Menschen, die eine Führungsaufgabe haben in Institutionen oft in diesen Machtkategorien denken und sehr nüchtern abwägen: "Kann der mir gefährlich werden?" Oder "Können mir zehn Heinze gefährlich werden?" Und die Antwort scheint ja immer noch zu sein: "Nein." Wäre die Antwort eine andere, würde man ja anders reagieren. Und das ist auch deshalb so, weil es noch so unglaublich viel Verständnis gibt für den Schutz der Täter oder die Ignoranz gegenüber den Betroffenen. Es gibt ja, wenn ich da beschreibe, wie Heinz um Anerkennungsleistungen kämpft, um Geld kämpft und welche Summe er bekommen hat, dann sehe ich schon die guten Christenmenschen vor mir, die sagen: „Mensch, ist doch viel Geld. Er soll doch jetzt mal Ruhe geben. Er hat doch jetzt das Geld bekommen. Was will der denn noch?" Und das ist ja auch ein Teil des Täter- und Institutionenschutzes. Und wer in der Institution eine Führungsaufgabe hat, der weiß das. Der weiß, wie die Machtverhältnisse sind und dass die eigentlich nach wie vor immer noch gegen die Betroffenen sprechen.
[00:29:44.680] - Nadia Kailouli
Wie kam denn Ihr Buch bei Betroffenen an?
[00:29:49.020] - Christiane Florin
Die Betroffenen oder den Musterbetroffenen, den gibt es ja nicht. Ich habe von der Heim-Community NRW, das ist ja so eine Gruppe ehemaliger Heimkinder, die sich selbst organisiert und die einander unterstützen, gerade auch bei solchen Anträgen zum Beispiel, die haben mir zurückgemeldet, dass sie sehr froh sind, dass es das Buch gibt. Ich glaube aber jetzt nicht, dass… Wie soll ich es ausdrücken? Es gibt ja auch eine gewisse Konkurrenz um Aufmerksamkeit innerhalb der Gruppe der Betroffenen, dass man also sehr genau drauf guckt: Was hat der jetzt erlebt? War der an einem Internat? War der im Kontext Gemeinde oder war der in einem Heim? Also mein Eindruck ist schon, dass die Heimkinder-Geschichte vor allem ehemalige Heimkinder interessiert und andere Betroffene von Missbrauch wiederum eher nicht. Ich muss aber auch sagen, ich habe ja das Buch nicht alleine geschrieben, um ein Beispiel zu zeigen von einem Betroffenen, der ja bei aller Verzweiflung sehr, sehr viel Kraft hat zum Überleben, der sehr viel Energie aufbringt, um seine Geschichte aufzuarbeiten. Das ist die eine Seite. Ich habe das natürlich auch geschrieben, um zu sensibilisieren und zu sagen: Guck mal, welche Menschen hier mit welchen Schicksalen hier mitten unter uns leben. Welche Geschichte ist hier, welche Menschenrechtsverletzungen es mitten in der Bundesrepublik gab. Und auch noch mal um deutlich zu machen, wie dieses Stigma sich dann immer weiter fortsetzt und damit die Frage auch zu verbinden: Wollen wir das eigentlich, dass so eine Geschichte immer weiter fortgeschrieben wird? Ist uns das eigentlich klar, was man mit Menschen macht, wenn die immer wieder vor eine Wand laufen? Ich komme gut damit klar, bei meinen Recherchen vor eine Wand zu laufen. Das ist sozusagen Teil meiner Jobbeschreibung. Aber für Heinz und für die anderen Betroffenen ist das wirklich schlimm, weil man ihnen auch einen Teil ihrer Geschichte verweigert auf die sie ein Anrecht haben. Die möchten wissen, was war da genau, wer war verantwortlich und warum hat mir keiner geholfen. Ja, und insofern ist es eigentlich ein Buch für alle, keineswegs nur eine Ermutigung für Betroffene, ihre Geschichte auch aufzuschreiben.
[00:32:01.620] - Nadia Kailouli
Vielleicht können Sie uns noch einmal aus Ihrer Sicht zusammenfassen: Was wäre der richtige Umgang von Institutionen, wie zum Beispiel die Caritas, wenn solche Geschichten, wie die von Heinz, ans Licht kommen? Wie würde eine richtige Aufarbeitung, der richtige Umgang dann damit laufen, wenn so eine Geschichte auf dem Schreibtisch landet?
[00:32:21.010] - Christiane Florin
Das hat verschiedene Komponenten. Da wäre zum einen, sich genau anzuhören, was Betroffene wollen. Und die meisten sagen das schon beim ersten Mal sehr klar, dass sie möchten, dass unabhängig erforscht wird, was damals in ihrem Heim passiert ist. Und dieser Schritt wird schon verweigert, die wirklich unabhängige Erforschung. Also, dass man das macht, was ich jetzt hier versucht habe mit meinen Mitteln, dass man das von Seiten der Institution macht, die, glaube ich, etwas mehr Mittel hat, als ich jetzt alleine. Dieser Punkt ist schon sehr heikel. Die Frage: Vergebe ich überhaupt einen Auftrag? Wem gebe ich den und wie viel Geld nehme ich dafür in die Hand? Das ist schon mal ein heikler Punkt. Der zweite Punkt ist der, den Betroffenen nicht das Gefühl zu geben, sie sollen mal Ruhe geben, sie stören. Und das hängt damit zusammen, dass man auch sich einen Weg überlegen muss, wie man mit den aktuellen Mitarbeitenden umgeht. Denn der gängige Weg ist der, dass Mitarbeitende von sozialen Einrichtungen Betroffene auch als störend empfinden. Das habe ich in vielen Gesprächen gehabt, dass die mir sagen: „Mensch, komm, ist doch lange her. Was habe ich denn jetzt heute damit zu tun? Ich mache gute Arbeit, wir haben sogar ein Präventionskonzept." Und da läuft ja was grundsätzlich falsch, denn es sind ja weder die Betroffenen, die stören und ich bin es auch nicht, die stört, sondern es ist ja diese schuldhafte Geschichte, die weiterwirkt und die stört und nicht die Person. Und wenn das als störend empfunden wird, was Heinz macht oder was ich mache, dann läuft ja irgendwas in der Institution grundsätzlich ethisch, würde ich mal sagen, schief. Also das würde ich mir schon wünschen. Und ja, was die finanzielle Anerkennungsleistung betrifft, die ist halt intransparent. Also Heinz hat ja mehrmals mehrere Anträge gestellt, mehrere Bescheide bekommen, aber er wird ja nie erfahren, warum die Höhe so ist, wie sie ist. Und Betroffene vergleichen sich aber und verstehen eben auch nicht, warum das so ist, wie sie ist. Und dann fallen eben so Sätze. Und ich finde es auch gut, dass so offen gesprochen wird: „Ja, für 350 Vergewaltigungen kriegst du also die Summe X. Und der hat aber viel weniger und kriegt auch die Summe X." Also dieses System der Anerkennungsleistung, daraus eins zu machen, einer wirklichen Entschädigung, das transparent ist, das fände ich schon aller Ehren wert.
[00:34:44.190] - Nadia Kailouli
Frau Florin, man sagt immer, man sieht sich immer zweimal im Leben. Ich finde, dieses Soll haben wir erfüllt und ich bin ganz dankbar, dass Sie wieder mit so einem wichtigen Thema heute bei uns bei einbiszwei waren. "Keinzelfall - wie Heinz ein katholisches Heim überlebte", heißt ihr Buch und in diesem Sinne schöne Grüße auch an Heinz. Vielen Dank.
[00:35:02.830] - Christiane Florin
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
[00:35:08.420] - Nadia Kailouli
Ja, ich habe mich sehr gefreut, dass Christiane Florin heute noch mal unser Gast war und dass sie sozusagen Heinz und vielen anderen Betroffenen eine Stimme gegeben hat, die eben ein Heim überlebt haben, wie ja auch Teil ihres Buches heißt, die eben in einem Heim von einer kirchlichen Trägerschaft, in dem Fall die Caritas, so Schlimmes erfahren haben. Das A und O ist wahrscheinlich, dass man einfach sagt, schenkt diesen Menschen, die das erlebt haben, ein Gehör, weil das ist eben das, was sie so viele Jahrzehnte ja erlebt haben, dass sie nicht gehört worden sind in ihren schlimmen Erfahrungen, die sie sammeln mussten. Und spätestens, wenn dieser Fall dann auf dem Tisch ist, muss dann eine Institution, egal welche, sich dieser Aufgabe stellen, und zwar aufarbeiten.
[00:35:51.620] - Nadia Kailouli
Zum Abschluss hier noch eine wichtige Info: Wir bekommen von euch oft Rückmeldung und viele Fragen dazu, wie man eigentlich mit Kindern über sexualisierte Gewalt sprechen kann. Deshalb haben wir uns überlegt, regelmäßig eine Expertin einzuladen, die eure Fragen beantwortet. Also schickt uns gerne eure Fragen an Ulli Freund per E-Mail an einbiszwei@ubskm.bund.de oder schreibt uns auf Instagram. Ihr findet uns unter dem Handle 'Missbrauchsbeauftragte'. Wir freuen uns auf jede Frage von euch, die wir hier auf jeden Fall sehr respektvoll behandeln wollen.
Mehr Infos zur Folge
In einem katholischen Kinderheim erlebt Heinz in den 1960er Jahren Schreckliches. Nach dem Tod seiner Eltern wird er dort über sieben Jahre hinweg schwer misshandelt. Der Präses und eine Ordensschwester schlagen und missbrauchen ihn, stellen ihn mit Tabletten ruhig.
Als junger Mann kämpft Heinz mit seiner Vergangenheit. Er trinkt, gerät in Schlägereien, versucht zu funktionieren. Er arbeitet hart, schafft den sozialen Aufstieg, findet Halt in seiner Familie – doch das, was er erleben musste, bleibt.
Erst mit Mitte 60, als die Albträume immer schlimmer werden, beginnt er, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Er engagiert sich für die Aufarbeitung der Geschehnisse in dem katholischen Heim, verbindet sich mit anderen Betroffenen. Gehört, fühlt er sich nicht – weder von der Kirche noch von der Caritas, dem Träger des Heims – und das, obwohl eine bayerische Studie herausfindet, dass ein Drittel der Heimkinder zwischen 1949 und 1975 sexualisierte Gewalt erfahren hat. Trotz dieser erschreckenden Ergebnisse wurden für ganz Deutschland bis heute keine Daten erhoben. Die Stimmen – wie die von Heinz – bleiben leise, oft ungehört.
Heinz wendet sich an die Journalistin Christiane Florin, die seit vielen Jahren zum Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche recherchiert. Sie hört zu. Und schreibt ein Buch. „Keinzelfall“ heißt es. Es erzählt die Geschichte von Heinz und geht der Frage nach, warum das Leid ehemaliger Heimkinder in katholischen Einrichtungen so wenig Beachtung findet, warum kirchliche Verantwortung verdrängt und verzögert wird. „Ehemalige Heimkinder haben keine mächtige Lobby. Sie werden getäuscht, zermürbt und ermüdet.“, schreibt Florin. Obwohl das Buch von einem einzelnen Fall erzählt, macht Florin klar: Wenn man suchen und zuhören würde, würde man viele Heinze finden.

LINKSAMMLUNG
Buch von Christiane Florin „Keinzelfall – Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte”
Zum Buch
Artikel über das Buch: Zu "Frischfleisch" degradiert: Autorin verschafft Ex-Heimkind Gehör
Zum Artikel auf Katholisch.de
Interview mit Christiane Florin beim Kölner Stadtanzeiger
Zum Interview
Folge 6 von einbiszwei mit Christiane Florin
Zur Podcastfolge
Kontakt: einbiszwei@ubskm.bund.de
